Anforderungen an die Ermessensentscheidung bei Festsetzung eines Verspätungszuschlags
Leitsatz
Die in § 152 Abs. 2 Satz 2 AO genannten Kriterien stehen gleichwertig nebeneinander und müssen deshalb insgesamt berücksichtigt werden. Nach den Umständen des Einzelfalls kann ein Kriterium stärker als ein anderes hervortreten. Den Anforderungen an die Ermessensausübung wird es regelmäßig nicht gerecht, wenn die Bemessung des Verspätungszuschlags sich primär auf ein Kriterium bezieht. Bei Festsetzung eines Verspätungszuschlags im Erstattungsfall ist unter dem Gesichtspunkt der Vorteilsziehung und des Verschuldens nachvollziehbar abzuwägen, welches Gewicht der verspäteten Abgabe der Steuererklärung noch zukommt, nachdem die geschuldete Steuer fast oder sogar insgesamt bereits gezahlt war. Im Übrigen sind bei der Ermessensentscheidung über die Höhe des Verspätungszuschlags wegen verspäteter Abgabe einer Steuerjahreserklärung auch die bereits entrichteten Steuervorauszahlungen bzw. die vom Arbeitgeber abgeführte Lohnsteuer zu berücksichtigen. Für die Entscheidung über die Höhe des Verspätungszuschlags ist die Höhe der Abschlusszahlung neben anderen Merkmalen wie die Dauer der Fristüberschreitung oder das Verschulden die Richtschnur für die Bestimmung des Zuschlags innerhalb des durch die festgesetzte Steuer gebildeten Rahmens.
Gesetze: AO § 152
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Verspätungszuschlags.
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute und wurden im Streitjahr 1999 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger ist Wirtschaftsprüfer und Steuerberater. Diese Tätigkeit übt er überwiegend nichtselbständig, in geringem Umfang auch selbständig aus. Auf Erinnerung des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt —FA—) vom beantragte der Kläger am , die Frist für die Abgabe der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr bis zum zu verlängern. Am forderte das FA den Kläger zur Abgabe der Einkommensteuererklärung bis zum auf. Es führte aus, die Erinnerung sei keine Fristsetzung, insbesondere bleibe die Festsetzung von Verspätungszuschlägen vorbehalten. Am ging die Einkommensteuererklärung der Kläger beim FA ein. Mit Bescheid vom setzte das FA die Einkommensteuer für das Streitjahr auf 107 792 DM fest. Die Einkommensteuerabschlusszahlung betrug 2 556 DM. Gegenstand des Einkommensteuerbescheids war auch die Festsetzung eines Verspätungszuschlags in Höhe von 1 270 DM.
Das FA wies den gegen den Verspätungszuschlag gerichteten Einspruch der Kläger zurück.
Die Klage blieb ohne Erfolg.
Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil und die Bescheide über die Festsetzung eines Verspätungszuschlags aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Während des Revisionsverfahrens hat das FA den Verspätungszuschlag am in Anlehnung an den geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr auf 1 150 DM herabgesetzt. Der geänderte Einkommensteuerbescheid führte zu einem Erstattungsanspruch der Kläger in Höhe von 7 233 DM. Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.
II. Die Revision der Kläger ist begründet. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist ebenso wie die angefochtenen Verwaltungsakte über den Verspätungszuschlag aufzuheben.
1. Die Revision führt bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Denn Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens war der Verwaltungsakt über den Verspätungszuschlag vom . An dessen Stelle ist während des Revisionsverfahrens der Änderungsbescheid über den Verspätungszuschlag vom getreten. Damit liegt dem Urteil ein nicht existierender Bescheid zu Grunde mit der Folge, dass auch das Urteil des FG keinen Bestand haben kann (vgl. z.B. Senatsentscheidung vom VI R 22/03, BFH/NV 2006, 2109).
Der Bescheid vom ist nach § 68 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden (, BFHE 175, 3, BStBl II 1994, 836). Da sich hinsichtlich des streitigen Punktes durch die Bescheidänderung keine über den Tenor des FG-Urteils hinausgehenden Änderungen ergeben und die Kläger auch keinen weitergehenden Antrag gestellt haben, bedarf es keiner Zurückverweisung der Sache gemäß § 127 FGO. Das finanzgerichtliche Verfahren leidet nicht an einem Verfahrensmangel, so dass die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen durch die Aufhebung des Urteils nicht weggefallen sind; sie bilden nach wie vor die Grundlage für die Entscheidung des Senats in der Sache.
2. Die Revision führt auch zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und der angefochtenen Verwaltungsakte, weil das FA das ihm eingeräumte Ermessen nicht rechtsfehlerfrei ausgeübt hat (§ 102 FGO).
a) Nach § 152 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) kann gegen denjenigen, der seiner Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung nicht oder nicht fristgemäß nachkommt, ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden (Satz 1). Von einer solchen Festsetzung ist abzusehen, wenn die Versäumnis entschuldbar erscheint (Satz 2). Das Verschulden eines gesetzlichen Vertreters oder eines Erfüllungsgehilfen steht dem eigenen Verschulden gleich (Satz 3). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, was von den Gerichten uneingeschränkt nachprüfbar ist (, BFHE 183, 21, BStBl II 1997, 642; vom X R 56/98, BFHE 192, 213, BStBl II 2001, 60), hat die zuständige Finanzbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob sie einen Verspätungszuschlag festsetzt (sog. Entschließungsermessen) und wie hoch sie ihn unter Beachtung der gesetzlichen Grenzen des § 152 Abs. 2 AO festsetzt (sog. Auswahlermessen). Dieser Teil der Entscheidung unterliegt gemäß § 102 FGO nur der eingeschränkten gerichtlichen Nachprüfung (BFH-Urteile in BFHE 192, 213, BStBl II 2001, 60; vom X R 83/98, BFHE 195, 558, BStBl II 2001, 618).
b) Im Streitfall hat das FA von seinem Ermessen bei der Bemessung der Höhe des Verspätungszuschlags nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 102 FGO, § 152 Abs. 2 Satz 2 AO). Es kann offen bleiben, ob die Voraussetzungen des § 152 Abs. 1 AO gegeben sind, wie das FG angenommen hat. Ebenso muss nicht entschieden werden, ob das FA sein Entschließungsermessen fehlerfrei ausgeübt hat.
aa) Zweck der Ermächtigung zur Festsetzung des Verspätungszuschlags ist es, die Personen, die Steuererklärungen abzugeben haben, zur Einhaltung der Abgabefrist anzuhalten. Der Verspätungszuschlag ist ein besonderes Druckmittel der Finanzbehörden. Es soll verhindern, dass die Steuerfestsetzung durch die nicht fristgemäße oder unterlassene Abgabe der Steuererklärung verzögert wird. Nach § 152 Abs. 2 Satz 2 AO sind dieser Zweck des Zuschlags, die Dauer der Fristüberschreitung, die Höhe des sich aus der Steuerfestsetzung ergebenden Zahlungsanspruchs, die sich aus der verspäteten Abgabe der Steuererklärung gezogenen Vorteile sowie das Verschulden und die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen und auch in der Ermessensentscheidung zu behandeln.
Die genannten Kriterien stehen gleichwertig nebeneinander und müssen deshalb insgesamt berücksichtigt werden. Nach den Umständen des Einzelfalls kann ein Kriterium stärker als ein anderes hervortreten. Den Anforderungen an die Ermessensausübung wird es regelmäßig nicht gerecht, wenn die Bemessung des Verspätungszuschlags sich primär auf ein Kriterium bezieht (Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 152 AO Rz 26).
bb) Die angefochtene Entscheidung entspricht diesen Maßstäben nicht.
Das FA hat die Festsetzung des Verspätungszuschlags in der Einspruchsentscheidung begründet. Darin wird, soweit es nicht um die Darstellung der zu beachtenden Grundsätze und des „Hauptzwecks” des § 152 AO geht, ausgeführt, dass im Streitfall die Höhe des Verspätungszuschlags in besonderem Maße unter dem Gesichtspunkt zu bemessen sei, dass die Kläger schon seit Jahren die Steuererklärungen mit Verspätung abgäben. Ihr Verschulden sei daher als erheblich anzusehen. Es sei deshalb —unabhängig von der Höhe der aus der Verspätung gezogenen Vorteile— nunmehr die Festsetzung eines Zuschlags in einer Höhe geboten, die für die Kläger unter Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ein spürbarer Anstoß seien, ihrer Steuererklärungspflicht in Zukunft pünktlich nachzukommen.
Das FA hat damit weder Ausführungen zur Höhe des Verspätungszuschlags gemacht noch die übrigen in § 152 Abs. 2 Satz 2 AO genannten Ermessenskriterien angemessen berücksichtigt. Insbesondere hat es der Höhe des sich aus der Einkommensteuer-Festsetzung ergebenden Zahlungsanspruchs, der sich auf 2 556 DM bzw. ./. 7 233 DM belief, keine genügende Beachtung geschenkt. Zwar kann ein Verspätungszuschlag auch im Erstattungsfall festgesetzt werden (, BFHE 198, 399, BStBl II 2002, 679; in BFHE 192, 213, BStBl II 2001, 60). Allerdings ist in einem solchen Fall unter dem Gesichtspunkt der Vorteilsziehung und des Verschuldens nachvollziehbar abzuwägen, welches Gewicht der verspäteten Abgabe der Steuererklärung noch zukommt, nachdem die geschuldete Steuer fast oder sogar insgesamt bereits gezahlt war. Im Übrigen sind bei der Ermessensentscheidung über die Höhe des Verspätungszuschlags wegen verspäteter Abgabe einer Steuerjahreserklärung auch die bereits entrichteten Steuervorauszahlungen bzw. die vom Arbeitgeber abgeführte Lohnsteuer zu berücksichtigen. Für die Entscheidung über die Höhe des Verspätungszuschlags ist die Höhe der Abschlusszahlung neben anderen Merkmalen wie die Dauer der Fristüberschreitung oder das Verschulden die Richtschnur für die Bestimmung des Zuschlags innerhalb des durch die festgesetzte Steuer gebildeten Rahmens (, BFHE 155, 46, BStBl II 1989, 231; Klein/ Brockmeyer, AO, 9. Aufl., § 152 Rz 10). Diese Zusammenhänge hat das FA hier nicht bzw. unvollkommen gewürdigt.
Da die Gerichte durch § 102 FGO grundsätzlich an eigenen Ermessensentscheidungen gehindert sind, waren die angefochtenen Entscheidungen aufzuheben.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
AO-StB 2007 S. 144 Nr. 6
BFH/NV 2007 S. 1076 Nr. 6
DStZ 2007 S. 513 Nr. 16
HFR 2007 S. 821 Nr. 9
NWB-Eilnachricht Nr. 31/2007 S. 4
HAAAC-43773