Rückgriff auf letzten, mehrfach geänderten, bestandskräftigen Feststellungsbescheid; Frage der Zuständigkeit in Nachversteuerungsfällen nach § 2 AIG
Gesetze: AO § 171 Abs. 10; AO § 177; AIG § 2
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf), ,
Verfahrensstand: Diese Entscheidung ist rechtskräftig
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, in welchem Umfang ein Einkommensteuerbescheid im Hinblick auf voraufgegangene Feststellungsbescheide geändert werden durfte.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) hat im Anschluss an einen Gerichtsbescheid eine mündliche Verhandlung beantragt und ergänzend zur Sache vorgetragen.
II. Der Senat entscheidet gemäß § 126a Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch Beschluss. Er hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die vom Kläger erhobenen Einwände gegen die Wahl dieser Verfahrensform greifen nicht durch.
1. Die in § 126a Satz 1 FGO getroffene Regelung ist mit dem Grundgesetz vereinbar (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 126a Rz. 1, m.w.N.). Von ihr darf auch dann Gebrauch gemacht werden, wenn —wie im Streitfall— im Anschluss an einen Gerichtsbescheid ein Beteiligter mündliche Verhandlung beantragt hat (Rüsken in Beermann/Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 126a FGO Rz. 7, m.w.N.). Ebenso ist die Anwendung des § 126a Satz 1 FGO im Streitfall nicht dadurch ausgeschlossen, dass es im konkreten Einzelfall um zahlreiche und zum Teil nicht abschließend geklärte rechtliche Fragen geht (, BFH/NV 1995, 91; Dürr in Schwarz, FGO, § 126a Rz. 2, m.w.N.). Schließlich ist sie nicht davon abhängig, dass der BFH der Begründung des angefochtenen Urteils in vollem Umfang folgt.
Vor diesem Hintergrund steht im Streitfall dem Verfahren nach § 126a FGO nicht entgegen, dass der Senat in seinem Gerichtsbescheid die Klage für in vollem Umfang zulässig erachtet hat und insoweit von der Beurteilung durch das Finanzgericht (FG) abgewichen ist. Insbesondere führt dieser Umstand nicht dazu, dass es an dem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal der „für unbegründet erachteten Revision” fehlt. Vielmehr hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zu der insoweit mit § 126a FGO vergleichbaren Regelung in § 5 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom (BGBl I 1978, 446) entschieden, dass von der Möglichkeit der Entscheidung im Beschlusswege auch dann Gebrauch gemacht werden könne, wenn das erstinstanzliche Gericht die Klage als unzulässig abgewiesen hat und das Rechtsmittelgericht sie als unbegründet ansieht (, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1982, 115). Diese Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, ist auch im Streitfall einschlägig.
2. Der Senat hält es für sachgerecht, von der durch § 126a Satz 1 FGO eröffneten Möglichkeit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im Streitfall Gebrauch zu machen. Denn die mündliche Verhandlung dient vor allem der Gewährung rechtlichen Gehörs, und dieses hat der Kläger ausreichend erhalten. Die Einschätzung des Senats zu den im Streitfall maßgeblichen Rechtsfragen ist ihm aus dem Gerichtsbescheid bekannt, und der Kläger hat hierzu umfassend Stellung genommen. Einen Anspruch auf ein „Rechtsgespräch”, in dem ihm —wie von ihm begehrt— der Inhalt des Gerichtsbescheids im Vorfeld der abschließenden Entscheidung mündlich „erläutert” wird, hat der Kläger nicht.
III.
Nach § 126a Satz 2 FGO soll der Beschluss eine kurze Begründung enthalten.
1. Die Rüge des Klägers, der beschließende Senat sei für den Streitfall nicht zuständig, geht fehl. Die Zuständigkeit des Senats ergibt sich aus Abschnitt A des Geschäftsverteilungsplans des BFH für das Jahr 2006, und zwar zumindest aus Nr. 3 Buchst. c des darin enthaltenen Zuständigkeitskatalogs für den I. Senat.
a) Diese Regelung eröffnet die Zuständigkeit des I. Senats für „den Verlustabzug für ausländische Einkünfte nach § 2 AIG”. Sie erfasst auch diejenigen Verfahren, in denen es um die Nachversteuerung nach Maßgabe des § 2 Abs. 1 Satz 3 des Auslandsinvestitionsgesetzes (AIG) geht. Davon ist der Senat schon in der Vergangenheit ausgegangen (z.B. Senatsurteil vom I R 40/98, BFH/NV 2000, 168), und daran hält er fest. Er stützt sich dabei entgegen der Ansicht des Klägers nicht auf eine Analogie zu der genannten Regelung im Geschäftsverteilungsplan, sondern auf deren Auslegung: Sinn und Zweck jener Regelung liegen darin, für den speziell auf Auslandssachverhalte bezogenen § 2 AIG die Zuständigkeit des regelmäßig mit solchen Sachverhalten befassten Senats zu eröffnen; diesem Anliegen würde es nicht gerecht, sie dahin zu deuten, dass für die —an den Verlustabzug anknüpfende und in derselben gesetzlichen Vorschrift angeordnete— Nachversteuerung die Spezialzuständigkeit nicht eingreifen soll. Vielmehr soll sie ersichtlich den gesamten Anwendungsbereich des § 2 AIG erfassen.
b) Die Zuständigkeit des Senats scheitert nicht daran, dass im Streitfall die Anwendung des § 2 Abs. 1 Satz 3 AIG nur im Zusammenhang mit Folgerungen in Betracht kommt, die der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) aus der Auswertung eines Grundlagenbescheids gezogen hat. Denn auch in einem solchen Fall geht es letztlich um einen Streit über „Einkommensteuer…betreffend…den Verlustabzug ...” im Sinne der genannten Regelung im Geschäftsverteilungsplan. Speziell im Streitfall kommt hinzu, dass der Kläger in der Revisionsbegründung ausdrücklich geltend macht, der betreffende Grundlagenbescheid sei nichtig und dürfe deshalb in dem hier streitigen (Folge-)Bescheid nicht berücksichtigt werden. Sein Vortrag geht mithin gerade dahin, dass das FA zu Unrecht in eigener Zuständigkeit eine Anwendung des § 2 Abs. 1 Satz 3 AIG vorgenommen habe. Dass es im vorliegenden Verfahren daneben —und sogar vorrangig— um weitere Fragen geht, ist nach dem eindeutigen Wortlaut der Zuständigkeitsregelung unerheblich.
2. In der Sache streiten die Beteiligten vor allem darum, welche Rechtsfolgen eintreten, wenn die Finanzbehörde einen Feststellungsbescheid nicht innerhalb der in § 171 Abs. 10 der Abgabenordnung (AO 1977) genannten Frist in einem Folgebescheid ausgewertet hat. Eine solche Situation liegt im Streitfall im Hinblick auf Einkünfte des Klägers aus mehreren Beteiligungen vor. Dabei geht es zum einen um Gestaltungen, in denen schon die erstmalige Auswertung von Grundlagenbescheiden nach Ablauf der genannten Frist erfolgte. Zum anderen geht es um Sachverhalte, bei denen das FA zunächst einen Grundlagenbescheid fristgerecht ausgewertet hat, in der Folge aber geänderte Grundlagenbescheide ergangen sind und bei deren Auswertung die Frist des § 171 Abs. 10 AO 1977 versäumt wurde. Das FG hat in Übereinstimmung mit dem FA angenommen, dass es in beiden Fallgruppen in einem ersten Schritt bei den ursprünglichen Ansätzen im Folgebescheid bleibe, die Abweichung zwischen diesen Ansätzen und den zuletzt im Grundlagenbescheid festgestellten Werten aber ein „Rechtsfehler” i.S. des § 177 AO 1977 sei und deshalb nach den für diese Norm geltenden Regeln als Korrekturposten herangezogen werden könne. Dagegen meint der Kläger, in beiden genannten Fallgestaltungen seien die gesondert festgestellten Einkünfte im Folgebescheid nunmehr mit Null anzusetzen.
a) Die Auswertung eines Grundlagenbescheids nach Ablauf der in § 171 Abs. 10 AO 1977 bestimmten Frist ist rechtswidrig. Ein auf dieser Basis erlassener Folgebescheid ist zu ändern.
b) Derselbe Grundsatz gilt dann, wenn ein Grundlagenbescheid aufgehoben oder geändert und diese Maßnahme nicht rechtzeitig im Folgebescheid umgesetzt wird. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 setzt diese Vorgänge dem Erlass eines Grundlagenbescheids gleich; deshalb können sie auch im Zusammenhang mit § 171 Abs. 10 AO 1977 nicht abweichend behandelt werden.
c) Daraus ergibt sich zugleich die rechtliche Würdigung derjenigen Situation, in der zunächst ein Grundlagenbescheid fristgerecht umgesetzt wurde und später ein nicht rechtzeitig umgesetzter geänderter Grundlagenbescheid ergangen ist. In diesem Fall mag zwar, worauf der Kläger abhebt, der ursprüngliche Bescheid durch den Änderungsbescheid in seiner Wirkung suspendiert sein (Beschluss des Großen Senats des , BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231). Daraus folgt aber entgegen der Ansicht des Klägers nicht, dass nunmehr die der Feststellung unterliegenden Einkünfte im Folgebescheid mit Null anzusetzen sind, da der ursprüngliche Grundlagenbescheid nicht mehr besteht und der später erlassene nicht mehr umgesetzt werden darf. Vielmehr ist in dieser Situation zu beachten, dass die Suspension des ursprünglichen Grundlagenbescheids im Folgebescheid ebenfalls nicht innerhalb der Frist des § 171 Abs. 10 AO 1977 umgesetzt worden ist. Deshalb kann hier das Ergebnis kein anderes sein als in demjenigen Fall, in dem der zunächst rechtzeitig umgesetzte Grundlagenbescheid später aufgehoben und der Folgebescheid nicht fristgerecht an diese Aufhebung angepasst worden ist: Ebenso wie dort (dazu oben b), muss auch bei der nicht rechtzeitigen Umsetzung eines geänderten Grundlagenbescheids der Ansatz aus dem (rechtzeitig umgesetzten) früheren Grundlagenbescheid beibehalten werden.
d) Die vorstehend skizzierten Regeln gelten auch dann, wenn —wie im Streitfall— der Folgebescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO 1977) steht. Denn der Nachprüfungsvorbehalt bewirkt zwar, dass der Bescheid jederzeit geändert werden kann (§ 164 Abs. 2 AO 1977). Jedoch greift unabhängig davon der Grundsatz durch, dass Besteuerungsgrundlagen nicht unmittelbar im Einkommensteuerbescheid angesetzt oder überprüft werden können, wenn sie nach § 180 AO 1977 gesondert festgestellt werden müssen (, BFH/NV 2006, 2144; vom I R 9/05, BFH/NV 2006, 2019). Dieser Grundsatz gilt nach der zitierten Rechtsprechung des Senats selbst dann, wenn ein zunächst erlassener Feststellungsbescheid später aufgehoben worden ist; er muss erst recht im Fall der nicht fristgerechten Auswertung eines Feststellungsbescheids gelten. Eine Ausnahme von ihm besteht nur insoweit, als die Finanzbehörde gemäß § 155 Abs. 2 AO 1977 berechtigt ist, im Vorgriff auf einen noch zu erlassenden Grundlagenbescheid Besteuerungsgrundlagen unmittelbar im Folgebescheid zu berücksichtigen; um eine solche Gestaltung geht es hier nicht. Angesichts dessen kann der Hinweis auf § 164 Abs. 2 AO 1977 der Revision nicht zum Erfolg verhelfen.
e) Die nicht rechtzeitige Auswertung eines Grundlagenbescheids ist ein „Rechtsfehler” i.S. des § 177 AO 1977. Das bedeutet zwar nicht, dass die Anfechtung eines verspätet erlassenen Folgebescheids stets mit der Begründung unterlaufen werden kann, der Folgebescheid entspreche aus materiell-rechtlicher Sicht dem Grundlagenbescheid und deshalb sei die an sich notwendige Korrektur nach § 177 AO 1977 sogleich wieder rückgängig zu machen. Jedoch kann, wenn der Folgebescheid aus anderen Gründen geändert wird, eine nach § 171 Abs. 10 AO 1977 nicht mehr umsetzbare Besteuerungsgrundlage gemäß § 177 AO 1977 im Wege der Saldierung berücksichtigt werden. Diese Ansicht ist inzwischen auch vom II. Senat des BFH wiederholt vertreten worden (z.B. BFH-Beschlüsse vom II B 78/05, BFH/NV 2006, 1620; vom II B 79/05, BFH/NV 2006, 1623; , BFH/NV 2006, 2315). Der Senat hält an ihr fest.
f) Er schließt sich ferner der Rechtsprechung des II. Senats in BFH/NV 2006, 2315 zur Anwendung des § 177 AO 1977 auf Fallgestaltungen an, in denen ein Folgebescheid wiederholt geändert und dabei jedes Mal die Anpassung an einen Grundlagenbescheid versäumt worden ist. In einem solchen Fall ist es im Zusammenhang mit der Anwendung des § 177 AO 1977 nicht erforderlich, in Bezug auf jeden einzelnen Änderungsbescheid zu prüfen, inwieweit das Unterlassen der Auswertung von Grundlagenbescheiden zu einem Rechtsfehler geführt hat und welche Korrekturmöglichkeiten sich daraus ergeben hätten. Vielmehr reicht es aus, wenn diese Prüfung auf den zuletzt ergangenen Folgebescheid bezogen und dessen Abweichung von dem materiell-rechtlich richtigen Ansatz als „Rechtsfehler” i.S. des § 177 AO 1977 behandelt wird. Dabei ist der „materiell richtige Ansatz” derjenige, der sich ergeben hätte, wenn die ergangenen Grundlagenbescheide rechtzeitig und zutreffend ausgewertet worden wären.
g) Die vom FA vorgenommene Steuerfestsetzung entspricht, was die Besteuerungsgrundlagen aus den unmittelbaren Beteiligungen des Klägers angeht, diesen Grundsätzen. Der angefochtene Bescheid ist daher insoweit rechtmäßig.
3. Im Hinblick auf die Einkünfte des Klägers aus mittelbaren Beteiligungen weist der Kläger zu Recht darauf hin, dass er nicht an dem D-Fonds (D), sondern an der F-GmbH & atypisch stille Gesellschaft (F) über die B-Verwaltungsgesellschaft KG (B-KG) beteiligt war. Dieser Umstand ist jedoch für die Beurteilung der hier im Streit befindlichen Fragen unerheblich.
a) Die erste dieser Fragen geht dahin, ob das FA in dem angefochtenen Bescheid diejenigen Besteuerungsgrundlagen berücksichtigen durfte, die in einem gegenüber der B-KG ergangenen Bescheid gesondert festgestellt worden waren. Diese Frage hat das FG zu Recht bejaht. Die vom Kläger beanstandete Handhabung entspricht den Grundsätzen des „zweistufigen Feststellungsverfahrens” und damit der ständigen Rechtsprechung des BFH, die dessen II. Senat erst jüngst bestätigt hat (BFH-Urteil in BFH/NV 2006, 2315, m.w.N.). Der Vortrag des Klägers gibt keine Veranlassung, diese Rechtsprechung in Frage zu stellen.
b) Ebenso geht der Hinweis des Klägers fehl, dass der gegenüber der B-KG erlassene Feststellungsbescheid nicht bestandskräftig, sondern Gegenstand eines beim FG anhängigen Klageverfahrens sei. Denn jener Bescheid ist, solange er nicht aufgehoben oder abgeändert worden ist, für den streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheid bindend (§ 182 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Deshalb müssen in einem den Folgebescheid betreffenden Klageverfahren so lange die im Grundlagenbescheid angesetzten Besteuerungsgrundlagen berücksichtigt werden. Wird nach Abschluss des den Folgebescheid betreffenden Rechtsstreits der Grundlagenbescheid später —sei es im Zuge eines Rechtsbehelfsverfahrens oder aus anderen Gründen— aufgehoben oder geändert, so ist dem durch eine Änderung des Folgebescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 Rechnung zu tragen. Dadurch ist in ausreichender Weise sichergestellt, dass sich insbesondere der Ausgang eines Rechtsstreits um den Grundlagenbescheid im Folgebescheid niederschlagen kann.
c) Entgegen der Annahme des Klägers war das FG nicht verpflichtet, das Klageverfahren bis zur Bestandskraft des die B-KG betreffenden Feststellungsbescheids auszusetzen. Denn die Aussetzung eines Klageverfahrens (§ 74 FGO) steht in einer solchen Situation im Ermessen des Gerichts. Dieses Ermessen kann allenfalls dann im Sinne einer Pflicht zur Verfahrensaussetzung eingeschränkt sein, wenn der Rechtsstreit um den Folgebescheid ausschließlich oder vorrangig Fragen betrifft, über die in dem angefochtenen Grundlagenbescheid entschieden worden ist (Senatsbeschluss vom I R 41/99, BFHE 194, 317, BStBl II 2001, 416, m.w.N.). Um eine solche Gestaltung geht es hier nicht. Aus demselben Grund geht die Rüge des Klägers fehl, das Klageverfahren hätte auch im Hinblick auf weitere Rechtsbehelfsverfahren gegen Grundlagenbescheide ausgesetzt werden müssen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
RAAAC-42108