BVerfG Beschluss v. - 1 BvR 978/05

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 9 Abs. 3

Instanzenzug: BAG 1 AZR 657/03 vom LAG Düsseldorf 10 Sa 1186/03 vom ArbG Düsseldorf 10 Ca 4080/03 vom

Gründe

1. Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung kommt der Verfassungsbeschwerde nicht zu (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Sie wirft keine Fragen auf, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lassen oder die noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt sind (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 f.>). Geklärt sind insbesondere der Umfang und die Grenzen der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Betätigungsfreiheit der Koalitionen (vgl. BVerfGE 93, 352 <357 ff.>; 94, 268 <283>; 100, 271 <282 f.>; 103, 293 <304, 306>).

2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Die Beschwerdeführerin wird durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts nicht in ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionsfreiheit verletzt.

a) Art. 9 Abs. 3 GG schützt nicht nur den Einzelnen in seiner Freiheit, eine Vereinigung zur Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gründen, ihr beizutreten oder fernzubleiben oder sie zu verlassen. Geschützt ist auch die Koalition selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und ihren Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen (vgl. BVerfGE 50, 290 <373 f.>; 84, 212 <224>; 100, 271 <282>; 103, 293 <304>). Der Schutz ist nicht von vornherein auf einen Kernbereich koalitionsmäßiger Betätigungen beschränkt, die für die Sicherung des Bestands der Koalitionen unerlässlich sind. Er erstreckt sich vielmehr auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen (vgl. BVerfGE 93, 352 <358>; 94, 268 <283>; 103, 293 <304>; -, NJW 2007, S. 51 <53>). Ob eine koalitionsspezifische Betätigung für die Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit unerlässlich ist, kann erst bei Einschränkungen dieser Freiheit Bedeutung erlangen (vgl. BVerfGE 93, 352 <358>).

In den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG sind solche Betätigungen einbezogen, die dem Zweck der Koalitionen dienen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern (vgl. BVerfGE 28, 295 <305>). Die Wahl der Mittel, die die Koalitionen zur Erfüllung ihrer Aufgaben für geeignet halten, bleibt unter dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich ihnen überlassen (vgl. BVerfGE 42, 133 <138>; 92, 365 <393>; BVerfGK 4, 60 <63>). Die freie Darstellung organisierter Gruppeninteressen ist Bestandteil der Betätigungsfreiheit, die Art. 9 Abs. 3 GG den Koalitionen gewährleistet (vgl. BVerfGE 20, 56 <107>). Allgemeinpolitische Aussagen ohne Bezug zu den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen sind hiervon jedoch nicht umfasst (vgl. BVerfGE 42, 133 <138>; 57, 29 <37 f.>).

Die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit kann, obwohl sie ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet ist, jedenfalls zum Schutz von Rechtsgütern und Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden, denen gleichermaßen verfassungsrechtlicher Rang gebührt (vgl. BVerfGE 84, 212 <228>; 92, 26 <41>; 100, 271 <283>; 103, 293 <306>). Die kollidierenden Verfassungsrechte sind in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (vgl. BVerfGE 89, 214 <232>; 97, 169 <176>). Die Grenzen zulässiger Beeinträchtigungen sind überschritten, soweit einschränkende Regelungen nicht zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind (vgl. BVerfGE 93, 352 <359>). Eingriffe in das Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beispielsweise auch bei einer Störung des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens (vgl. BVerfGE 57, 220 <246>; 93, 352 <361>) oder zur Wahrung des Vertrauens in die Neutralität eines Personalrats (vgl. BVerfGE 28, 295 <307>) gerechtfertigt sein.

Die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts ist zunächst Sache der Fachgerichte und einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen. Das gilt auch, soweit es sich um auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG entwickeltes Richterrecht handelt. Auch dieses Richterrecht bleibt einfaches Recht, dessen Auslegung und Anwendung vom Bundesverfassungsgericht nach denselben Maßstäben zu überprüfen ist, nach denen entsprechendes Gesetzesrecht zu überprüfen wäre (vgl. BVerfGK 4, 60 <63>). Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert hierbei nur, ob der Einfluss der Grundrechte grundlegend verkannt wurde (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 89, 276 <285>). Es ist nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu kontrollieren, wie die Gerichte den Rechtsschutz im Einzelnen auf der Grundlage des einfachen Rechts gewähren und ob ihre Auslegung den bestmöglichen Schutz sichert (vgl. BVerfGE 92, 140 <153>). Insbesondere ist die Feststellung und Würdigung der Tatsachen, die der rechtlichen Würdigung zugrunde liegen, Sache der Fachgerichte (vgl. BVerfGE 96, 189 <200>; 100, 214 <222>).

b) Nach diesen Maßstäben kann eine Verletzung der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführerin nicht festgestellt werden.

aa) Die Fachgerichte sind zu Recht davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführerin durch die Einschränkung, die Unterschriftenlisten nicht in den Polizeidienststellen auslegen zu dürfen, in ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Koalitionsfreiheit beeinträchtigt wird, weil dieses Vorhaben mit dem Ziel, Unterstützung durch die Bevölkerung für die Forderung nach einer Einstellung von 5.000 neuen Polizeibediensteten zu erhalten, in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG fällt. Das Vorhaben weist hiernach einen hinreichenden Bezug zum koalitionsspezifischen Zweck der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auf, und die Auswahl der Orte, an denen die Unterschriftenlisten ausgelegt werden sollten, ist vom Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich umfasst.

bb) In verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass die Beschwerdeführerin die Einschränkung ihrer Betätigungsfreiheit jedoch hinnehmen muss, soweit sie darauf verwiesen wurde, die Unterschriftenaktion nicht in den Räumlichkeiten der Polizeidienststellen durchzuführen.

(1) Das Bundesarbeitsgericht ist davon ausgegangen, dass die konkrete koalitionsspezifische Betätigung mit der Funktionsfähigkeit einer neutralen und allein nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten handelnden öffentlichen Verwaltung kollidiert, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass nach außen der Eindruck vermittelt wird, die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben werde mit politischen Forderungen einer Interessengruppe verknüpft. Diese Beurteilung beruht nicht auf einer grundlegenden Verkennung der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der Koalitionsfreiheit. Das vom Bundesarbeitsgericht herangezogene, mit der Koalitionsfreiheit kollidierende Rechtsgut ist geeignet, Grundrechtsbeschränkungen zu rechtfertigen. Die staatliche Neutralität und das öffentliche Vertrauen in die Objektivität und gemeinwohlorientierte Ausführung der Amtsgeschäfte können beeinträchtigt werden, wenn sich eine Gewerkschaft den - hier sogar räumlich zu verstehenden - Bereich staatlicher Aufgabenerfüllung zur Durchsetzung ihrer politischen Forderungen zu Nutze zu machen versucht.

Die fachgerichtliche Tatsachenbewertung, dass bei der Unterschriftenaktion der Beschwerdeführerin der Anschein einer unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten unzulässigen Vermengung hoheitlicher Tätigkeiten mit der Unterstützung von Partikularinteressen nicht ausgeschlossen werden konnte, lässt keine verfassungsrechtlichen Mängel erkennen. Das staatliche Anliegen, jeden Anschein einer Billigung oder Unterstützung interessengeleiteter Forderungen durch seine Bediensteten, Dienststellen und Behörden zu vermeiden, ist geeignet, politisch motivierter Betätigung von Interessengruppen innerhalb von Dienstgebäuden Grenzen zu setzen.

(2) Die vom Bundesarbeitsgericht getroffene Abwägung der betroffenen Rechtsgüter wird der Bedeutung und Tragweite der Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführerin gerecht.

Die Bewertung des Bundesarbeitsgerichts, dass dem Interesse der Beschwerdeführerin verhältnismäßig geringes Gewicht beizumessen war, ist tragfähig. Sie knüpft an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts an, nach denen die Unerlässlichkeit der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Betätigung im Rahmen der Abwägung mit kollidierenden Rechtsgütern berücksichtigt werden kann (vgl. BVerfGE 93, 352 <358>). Hiernach durfte das Bundesarbeitsgericht darauf abstellen, dass sich die Aktion der Beschwerdeführerin nicht an die Polizeibediensteten, sondern an die Öffentlichkeit richtete und deshalb ebenso gut außerhalb der Dienstgebäude durchgeführt werden konnte. Ließ sich so eine Beeinträchtigung des öffentlichen Vertrauens in eine objektive und neutrale Amtsführung vermeiden, und trat auf der anderen Seite allein durch die örtliche Einschränkung der Betätigungsfreiheit keine erhebliche Beeinträchtigung der geschützten Interessen der Beschwerdeführerin ein, greifen die von der Beschwerdeführerin gegen die einzelfallbezogene Güterabwägung vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht durch.

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).

Fundstelle(n):
NJW 2007 S. 1672 Nr. 23
AAAAC-39342