BVerfG Beschluss v. - 2 BvR 67/06

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 1 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4; GG Art. 103 Abs. 1

Instanzenzug: LG Kassel 3 AR 25/05 vom LG Kassel 3 AR 25/05 vom

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Anhörung des Beschuldigten vor Gewährung von Akteneinsicht an einen Dritten und die Frage des zulässigen Umfangs der Akteneinsicht.

I.

1. Das Landgericht hatte den Beschwerdeführer wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nach Abschluss des Verfahrens beantragte Rechtsanwalt M. in einer zivilrechtlichen Angelegenheit Einsicht in die Verfahrensakten, die ihm von der Staatsanwaltschaft vollständig zur Verfügung gestellt wurden. Auf Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 478 Abs. 3 Satz 1 StPO stellte das fest, dass die Gewährung von Akteneinsicht rechtswidrig war, da ein berechtigtes Akteneinsichtsinteresse nicht ausreichend dargelegt worden war.

In einem weiteren gegen den Beschwerdeführer geführten Ermittlungsverfahren, das den Verdacht des Besitzes kinderpornografischer Schriften zum Gegenstand hat, beantragte Rechtsanwalt M. auch Einsicht in diese Ermittlungsakten. Nachdem Rechtsanwalt M. auf Anfrage mitgeteilt hatte, dass seinem Gesuch ein Räumungsrechtsstreit über ein Mietverhältnis zwischen seinem Mandanten und dem Beschwerdeführer zu Grunde liege, gewährte die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom Akteneinsicht. Die Rechtsanwalt M. übersandte Ermittlungsakte enthielt unter anderem den den Beschwerdeführer betreffenden Bundeszentralregisterauszug vom , Fotos seiner Wohnung, zwei dort im Rahmen einer Durchsuchung aufgefundene und beschlagnahmte Zeichnungen seines Geschlechtsteils, persönliche Briefe und Verteidigerkorrespondenz. Den Antrag des Beschwerdeführers nach § 478 Abs. 3 Satz 1 StPO, die Rechtswidrigkeit der Akteneinsicht festzustellen, weil er vor deren Gewährung nicht angehört worden sei und kein berechtigtes Einsichtsinteresse vorgelegen habe, wies das zurück. Die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers wies das zurück.

2. Mit seiner fristgerecht eingelegten Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Entscheidungen des und . Er rügt Verletzungen seines Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG), seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie seiner Rechte auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Er trägt vor, er sei vor Gewährung der Akteneinsicht nicht angehört worden, der Umfang der Akteneinsicht sei nicht unter Abwägung der widerstreitenden Interessen beschränkt worden und die zur Einsicht weitergegebene Akte habe private und intime Aufzeichnungen enthalten. Das Landgericht habe die Frage der Rechtmäßigkeit der Akteneinsicht nur floskelhaft bewertet.

3. Das Hessische Ministerium der Justiz erhielt Gelegenheit zur Äußerung; es hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer ergebenden Weise offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Prüfungsmaßstab für die Frage, ob die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts mit der Verfassung vereinbar sind, ist das Recht des Beschwerdeführers auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Dieses Recht gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten grundsätzlich selbst zu bestimmen (vgl. BVerfGE 65, 1 <43>; 78, 77 <84>; 80, 367 <373>). Einschränkungen dieser Befugnis bedürfen einer gesetzlichen Grundlage und müssen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen; sie dürfen nicht weiter gehen als zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich (vgl. BVerfGE 65, 1 <44>; 78, 77 <85>).

2. Danach verletzen die Entscheidungen des Landgerichts den Beschwerdeführer in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

Die Erteilung von Auskünften aus Verfahrensakten oder die Gewährung von Akteneinsicht nach § 475 StPO stellt einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung solcher Personen dar, deren personenbezogene Daten auf diese Weise zugänglich gemacht werden. Die Auskunft erteilende oder Akteneinsicht gewährende Stelle hat daher die schutzwürdigen Interessen dieser Personen gegen das Informationsinteresse abzuwägen und den Zugang zu den Daten gegebenenfalls angemessen zu beschränken (vgl. Einstweilige Anordnung der 3. Kammer des Zweiten Senats des -, wistra 2002, S. 335; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des -, NJW 2003, S. 501; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des -, juris). Wird durch die Gewährung der Akteneinsicht in Grundrechte Betroffener eingegriffen, sind diese in der Regel anzuhören (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des -, NStZ-RR 2005, S. 343 m.w.N.).

Diese Grundsätze wurden hier nicht beachtet. Ob die Erteilung einer Auskunft nach § 475 Abs. 1 StPO als milderes Mittel vorzuziehen gewesen wäre, kann offen bleiben, da die überlassenen Verfahrensakten jedenfalls Dokumente - unter anderem einen Bundeszentralregisterauszug sowie persönliche und intime Zeichnungen und Briefe - enthielten, die nicht zur Kenntnisnahme durch Dritte bestimmt und für das dargelegte Interesse an der Akteneinsicht ersichtlich ohne Bedeutung waren. Der Umfang der Akteneinsicht hätte daher beschränkt werden müssen. Angesichts der mit der Überlassung dieser Dokumente einhergehenden tiefgreifenden Grundrechtseingriffe für den Beschwerdeführer hätte diesem vor Akteneinsicht rechtliches Gehör gewährt werden müssen. Vor diesem Hintergrund verkennen die Entscheidungen des Landgerichts, die die Rechtmäßigkeit der Akteneinsichtsgewährung feststellen, Bedeutung und Reichweite des Rechts des Beschwerdeführers auf informationelle Selbstbestimmung.

3. Da die Entscheidungen somit schon wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG aufzuheben sind, bedarf es keiner weiteren Prüfung, ob der Beschwerdeführer auch in den übrigen von ihm geltend gemachten Rechten verletzt ist.

4. Die Entscheidungen sind gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen.

5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Fundstelle(n):
NJW 2007 S. 1052 Nr. 15
MAAAC-32391