BSG Beschluss v. - B 13 RJ 289/04 B

Leitsatz

Der Kläger legt eine Berufung auch dann ein, wenn er in der Rechtsmittelschrift deutlich macht, dass das erstinstanzliche Urteil durch eine höhere Instanz überprüft werden soll und Anhaltspunkte für eine Zulassung der Revision fehlen; eine Bezeichnung des Rechtsmittels als "Revision" ist dann unschädlich.

Gesetze: SGG § 151; SGG § 160a Abs 2 S 3

Instanzenzug: SG Berlin S 27 RJ 118/02 vom LSG Berlin L 3 RJ 10/04 vom

Gründe

I

Mit Urteil vom hat das Sozialgericht Berlin (SG) einen Anspruch des polnischen Klägers auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit abgewiesen, weil ein solcher insbesondere auch nach den Vorschriften des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit (Abk Polen SozSich) nicht erkennbar sei. Die Entscheidung ist dem Kläger durch Einschreiben mit Rückschein am zugestellt worden. Hiergegen hat sich der Kläger mit einem an das SG gerichteten Schreiben vom in polnischer Sprache gewandt: "Ich bitte höflichst, die Zulassung meiner Angelegenheit zur Revision vor dem Bundessozialgericht in Berlin für den Fall zu beschließen, dass meine zusätzlich vorgelegten Dokumente und die von mir gegebenen Erklärungen die Erwartungen vom Sozialgericht Berlin nicht erfüllen sollten. Ich bin der Meinung, dass vom rechtlichen Standpunkt her die Anforderungen und Anordnungen des Gerichts erfüllt worden sind." Die polnische Sozialversicherungsanstalt hat dieses Schreiben am an das SG weitergeleitet, wo es am eingegangen ist; am ist dort die Übersetzung verfügt worden. Auf Anfrage des SG hat die Beklagte mit Schriftsatz vom mitgeteilt, dass sie die Zustimmung zur Sprungrevision nicht erteile, weil deren Voraussetzungen nicht vorlägen. Daraufhin hat das SG beim Kläger angefragt, ob er gegen das Urteil des SG beim Landessozialgericht (LSG) Berlin in Berufung gehen wolle, weil mangels Zustimmung der Beklagten ein Beschluss auf Zulassung der Revision nicht möglich sei (Schreiben vom ). Der Kläger hat unter dem geantwortet, dass er seinen Antrag vom aufrechterhalte. Mit Schreiben vom hat das SG darauf hingewiesen, dass es nicht befugt sei, sich noch einmal mit seinem, des Klägers, Anliegen zu befassen; die Sprungrevision sei nicht zulässig; die einzige Möglichkeit zur Überprüfung sei ein Berufungsverfahren vor dem LSG. Hierauf teilte der Kläger am mit, dass nach seiner Auffassung durch sein Schreiben vom die Berufungsfrist eingehalten worden sei und er bitte, das Berufungsverfahren vor dem LSG durchzuführen.

Mit Urteil vom hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil verworfen, weil sie nicht fristgerecht eingelegt worden sei. Die Berufungsfrist habe am geendet. Das Schreiben vom könne nicht als Berufung angesehen werden, denn der Kläger habe darin ausdrücklich die Zulassung der Revision vor dem Bundessozialgericht (BSG) beantragt. Selbst nach Belehrung durch das SG mit Schriftsatz vom habe er mit Schreiben vom ausdrücklich an seinem bisherigen Antrag festgehalten. Angesichts des eindeutigen Wortlauts des Antrags im Schreiben vom könne dieser nicht in eine Berufung umgedeutet werden. Erst nachdem das SG den Kläger mit weiterem Schreiben vom erneut auf die Unzulässigkeit des Antrags auf Zulassung der Sprungrevision hingewiesen habe, habe dieser mit Schreiben vom eingewilligt, dass sein Anliegen erneut in einem Berufungsverfahren vor dem LSG geprüft werde. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht.

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil rügt der Kläger als Verfahrensfehler, dass das Berufungsgericht eine Prozessentscheidung an Stelle eines Sachurteils gefällt habe; zu Unrecht habe das LSG sein Schreiben an das nicht als Berufung gewertet.

II

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Für die Bezeichnung eines Verfahrensmangels reicht die Darlegung des Klägers aus, dass statt eines Sachurteils ein Prozessurteil ergangen sei (vgl zB BSG SozR Nr 46 zu § 51 SGG, Bl Da 17 Rs, BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 2 S 2, jeweils mwN). Der gerügte Verfahrensverstoß liegt tatsächlich vor. Das LSG hätte in der Sache über die eingelegte Berufung entscheiden müssen.

Das LSG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger gegen das ihm am zugestellte Urteil des SG nicht fristgerecht Berufung eingelegt hat. Die Berufungsfrist beträgt einen Monat nach Zustellung des Urteils; bei Zustellung oder Bekanntgabe des Urteils außerhalb des Geltungsbereichs des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - wie hier - drei Monate (§ 153 Abs 1 iVm § 87 Abs 1 Satz 2 SGG). Das als Berufung zu wertende Schreiben des Klägers vom ist noch innerhalb der am (Montag) endenden Rechtsmittelfrist eingegangen. Der Eingang der Berufung beim SG am wahrt gemäß § 151 Abs 2 SGG die Frist.

Entgegen der Ansicht des LSG ist das an das SG gerichtete Schreiben des Klägers vom als Berufung iS des § 151 SGG zu werten. Als Prozesserklärung muss ein Rechtsmittel sinnvoll ausgelegt werden; ausreichend für die Annahme eines Rechtsmittels ist, wenn der Kläger seine Unzufriedenheit mit dem Urteil zum Ausdruck bringt (vgl sowie ausdrücklich bei Bezeichnung eines Rechtsmittels als Antrag auf Zulassung der Sprungrevision: 9a RV 9/90 und ). In diesem Schreiben wird jedenfalls der Wille des Klägers, das erstinstanzliche Urteil durch eine höhere Instanz nochmals überprüfen zu lassen, ausreichend deutlich zum Ausdruck gebracht.

Der Kläger hat mit diesem Schreiben nicht ausdrücklich - und im Bewusstsein der Unzulässigkeit der (Sprung-)Revision - verlangt, dass er die zweite Instanz um jeden Preis übergehen und direkt das Revisionsgericht anrufen wollte. Soweit er von einer "Revision vor dem BSG" spricht, kann nach den Gesamtumständen nicht davon ausgegangen werden, dass er eine solche wirklich gewollt hat. Der ausländische und damals unvertretene Kläger ist offenkundig in Rechtssachen unerfahren; deshalb kann er nicht an einem vordergründigen Wortlaut einer einzelnen Wendung festgehalten werden.

An Stelle einer Berufung wäre die Revision nur in Betracht gekommen, wenn sie hätte zugelassen werden dürfen. Hierfür war aber nach der Begründung des Urteils des SG keine der gesetzlichen Voraussetzungen gegeben (§ 161 Abs 1 und 2 Satz 1, § 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG). Schon deshalb hätte es nahe gelegen, bereits bei Vorliegen der Übersetzung des Schreibens vom beim Kläger nachzufragen, ob er nicht Berufung habe einlegen wollen; es hätte dieser Klärung bedurft, statt die Stellungnahme der Beklagten abzuwarten. Überdies enthält zwar die Rechtsmittelbelehrung des Urteils des SG den Hinweis, dass die Zulassung der Revision zum BSG voraussetze, dass der Gegner schriftlich zustimme und die Zustimmung dem Antrag beizufügen sei. Aus dem genannten Schreiben des Klägers war jedoch kein Anhalt zu entnehmen, dass er diese Zulassungsvoraussetzungen für erfüllt hielt; er hatte sich insbesondere auch nicht selbst um eine Zustimmungserklärung der Beklagten bemüht.

Nichts Gegenteiliges kann aus dem nach Ablauf der Berufungsfrist eingegangenen Schreiben des Klägers vom hergeleitet werden. Unabhängig davon, inwieweit der innerhalb der Berufungsfrist zum Ausdruck gekommene Wille des Klägers aufgrund von nach Ablauf der Berufungsfrist liegenden Erklärungen ausgelegt werden kann, geht auch aus diesem Schreiben nicht eindeutig hervor, dass der Kläger (nur) die Revision gewollt hatte. Diesem Schreiben kann hingegen entnommen werden, dass er seinen Wunsch auf Überprüfung des Urteils des SG aufrechterhielt und das Rechtsmittel nicht zurücknehmen wollte.

Soweit man deshalb überhaupt von einem Begehren einer (Sprung-)Revision ausgeht, hätte der offenkundig aussichtslose Zulassungsantrag in ein sachlich sinnvolles Rechtsmittel, hier die Berufung, umgedeutet werden müssen (so bereits 9a RV 9/90; ). Zwar hat der Kläger nicht ausdrücklich das Wort Berufung verwendet. Die Berufungsschrift muss aber nicht förmlich als Berufung bezeichnet werden (BSG aaO; Meyer-Ladewig, in ders/Keller/Leitherer, SGG-Komm, 8. Aufl 2005, § 151 RdNr 11). In seinem Schreiben vom hat der Kläger ausreichend deutlich erklärt, er wolle seine Angelegenheit durch eine höhere Instanz prüfen lassen.

Ebenso wenig hat der Kläger eine unzulässige, weil bedingte Berufung (vgl BSG SozR 1500 § 101 Nr 8 S 10 f) eingelegt. Ob eine bedingte Berufung vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln (vgl Meyer-Ladewig in ders/Keller/Leitherer, aaO, § 151 RdNr 2a). Mit der Formulierung in dem Schreiben vom "für den Fall, dass meine zusätzlich vorgelegten Dokumente und die von mir gegebenen Erklärungen die Erwartungen vom Sozialgericht Berlin nicht erfüllen sollten" wollte der Kläger nicht zum Ausdruck bringen, dass er das eingelegte Rechtsmittel nur bedingt durchführen wolle, zumal in der zitierten Wendung allenfalls eine unschädliche Rechtsbedingung (vgl auch BVerwG NVwZ 2002, 990 f) zu sehen ist.

Der Senat kann damit offen lassen, inwiefern die zögerliche Behandlung der Rechtsmittelschrift durch das SG (Eingang , Verfügung einer Übersetzung , Ausführung dieser Verfügung am , Eingang der Übersetzung , Weiterleitung an die Beklagte zur Stellungnahme am ) zu einer Wiedereinsetzung (§ 67 SGG) hätte führen müssen.

Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach § 160a Abs 5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

Das LSG wird sich auch damit zu befassen haben, ob der Bescheid der Beklagten vom gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

Fundstelle(n):
XAAAC-15052