Leitsatz
Bei der Prüfung, ob der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vorliegt, sind auch solche nach materiellem Recht entscheidungserhebliche und erstmals von dem Antragsteller innerhalb der Antragsfrist vorgetragene Tatsachen zu berücksichtigen, die vom Verwaltungsgericht deshalb im Zeitpunkt seiner Entscheidung außer Betracht gelassen wurden, weil sie von den Beteiligten nicht vorgetragen und mangels entsprechender Anhaltspunkte auch nicht von Amts wegen zu ermitteln waren.
Gesetze: VwGO § 10 Abs. 3; VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1; VwGO § 124 b
Instanzenzug: VG Gelsenkirchen VG 9 K 1872/95 vom OVG Münster OVG 3 A 3297/99 vom
Gründe
I.
Die Kläger wenden sich als Rechtsnachfolger der früheren Klägerin gegen die Heranziehung zu einem Erschließungsbeitrag. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, weil die in Rede stehende Straße nicht die Voraussetzungen einer vorhandenen und damit beitragsfreien Erschließungsanlage im Sinne des § 242 Abs. 1 BauGB erfülle. Die frühere Klägerin hat die Zulassung der Berufung beantragt und ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils geltend gemacht. Sie hat innerhalb der Antragsfrist des § 124 a Abs. 1 VwGO a.F. Unterlagen vorgelegt und vorgetragen, aus ihnen ergebe sich, dass die in Rede stehende Straße entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts eine vorhandene Erschließungsanlage sei. Das Oberverwaltungsgericht möchte diese erstmals im Zulassungsverfahren vorgelegten Unterlagen und den darauf bezogenen Tatsachenvortrag berücksichtigen und die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils zulassen. Mit Blick auf abweichende Rechtsprechung und Literatur hat es sein Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 124 b Satz 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt, ob bei der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO von dem Antragsteller erstmals innerhalb der Antragsfrist vorgetragene und nach materiellem Recht entscheidungserhebliche Tatsachen zu berücksichtigen sind, die im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bereits vorlagen, von dem Gericht jedoch nicht berücksichtigt wurden, weil sie von den Beteiligten nicht vorgetragen und mangels entsprechenden Anhaltspunktes auch nicht von Amts wegen zu ermitteln waren.
Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Äußerung.
II.
1. Der Senat hat über die ihm vorgelegte Rechtsfrage in der Besetzung von fünf Richtern zu entscheiden. Zwar bestimmt § 10 Abs. 3 Halbsatz 2 VwGO, dass die Senate des Bundesverwaltungsgerichts bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung in der Besetzung von drei Richtern entscheiden. Die Vorlage nach § 124 b VwGO dient jedoch der Klärung grundsätzlicher Fragen des revisiblen Prozessrechts durch das Bundesverwaltungsgericht, weiter dazu, das Recht fortzubilden oder eine einheitliche Rechtsprechung sicherzustellen. Diese Aufgabe wird außerhalb des Vorlageverfahrens im Revisionsverfahren wahrgenommen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO). Über Revisionen entscheiden die Senate des Bundesverwaltungsgerichts in der Besetzung von fünf Richtern (§ 10 Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO). Da die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts gemäß § 124 b VwGO in dem von dieser Vorschrift erfassten Bereich dieselbe Funktion haben wie Urteile in Revisionsverfahren, ergehen Beschlüsse nach § 124 b VwGO in entsprechender Anwendung des § 10 Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO in der vollen Senatsbesetzung (so zum Vorlageverfahren nach § 47 Abs. 5 VwGO a.F.: BVerwG 7 N 1.78 - BVerwGE 56, 172).
2. Die Vorlagefrage betrifft nicht solche Tatsachen, die erst nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils eingetreten und in diesem Sinne neu sind. Sie betrifft ferner nicht solche Tatsachen, die das Verwaltungsgericht auch ohne Vortrag eines am Prozess Beteiligten aufgrund bestehender Anhaltspunkte von Amts wegen hätte ermitteln müssen. Ob in einem solchen Fall vorrangig die Erhebung einer Aufklärungsrüge im Rahmen des in § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO geregelten Zulassungsgrundes in Betracht kommt, ist deshalb im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden.
3. Der Senat beantwortet die Vorlagefrage in Übereinstimmung mit dem Oberverwaltungsgericht dahin, dass bei der Entscheidung über den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vom Antragsteller erstmals innerhalb der Antragsfrist vorgetragene und nach materiellem Recht entscheidungserhebliche Tatsachen zu berücksichtigen sind, die im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bereits vorlagen, die das Verwaltungsgericht jedoch nicht berücksichtigt hat, weil die Beteiligten diese Tatsachen nicht vorgetragen haben und das Gericht sie mangels entsprechender Anhaltspunkte auch nicht von Amts wegen zu ermitteln hatte.
Der Zweck des Zulassungsverfahrens gebietet es, auch solche Tatsachen zu berücksichtigen. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO öffnet den Zugang zur Rechtsmittelinstanz mit Blick auf das prognostizierte Ergebnis des angestrebten Rechtsmittels. Der Zulassungsgrund hat ebenso wie der Zulassungsgrund besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) kein Vorbild im Recht der Revisionszulassung. Diese Zulassungsgründe sind auf das Berufungsverfahren zugeschnitten. Sie sollen Richtigkeit im Einzelfall gewährleisten; die maßgebliche Frage geht also dahin, ob die Rechtssache richtig entschieden worden ist. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO will demgemäß den Zugang zu einer inhaltlichen Überprüfung des angefochtenen Urteils in einem Berufungsverfahren in den Fällen eröffnen, in denen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils weiterer Prüfung bedarf, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich ist. Das gilt für die Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts ebenso wie für die darauf bezogene Rechtsanwendung. Es kommt also nicht darauf an, ob das Verwaltungsgericht angesichts der ihm erkennbaren Tatsachengrundlage in der Sache richtig entschieden hat. Im Lichte dieses Zweckes, sind im Zulassungsverfahren alle vom Antragsteller dargelegten tatsächlichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die für den Erfolg des angestrebten Rechtsmittels entscheidungserheblich sein könnten. Dazu gehören auch Umstände, die das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigen konnte, weil die Beteiligten sie nicht vorgetragen haben. Die Berufung hat nach wie vor die Aufgabe einer zweiten Tatsacheninstanz. Das Rechtsmittel umfasst eine Überprüfung des angefochtenen Urteils in tatsächlicher Hinsicht. Das Berufungsgericht hat hierfür auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen (§ 128 Satz 2 VwGO), sofern nicht die Voraussetzungen des § 128 a Abs. 1 VwGO vorliegen, unter denen das Berufungsgericht neue Erklärungen und Beweismittel ausnahmsweise zurückweisen kann.
Die Berücksichtigung neuen tatsächlichen Vorbringens ist, wie das Oberverwaltungsgericht mit Recht dargelegt hat, auch nicht in den Fällen ausgeschlossen, in denen diese Umstände dem Antragsteller bereits früher bekannt waren und deshalb schon im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können. Zwar trifft jeden Beteiligten die Pflicht, den Prozessstoff umfassend vorzutragen. Diese allgemeine Prozessförderungspflicht und das Ziel, verwaltungsgerichtliche Verfahren zu beschleunigen, begründen jedoch allein keine Präklusion neuen Vorbringens. Ein solcher Ausschluss bedarf einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung. Die Vorschriften über das Berufungszulassungsverfahren enthalten aber keine Regelung, die eine schuldhafte Verletzung der allgemeinen Prozessförderungspflicht sanktioniert. Sofern die Voraussetzungen des § 128 a VwGO nicht vorliegen, können deshalb neue Tatsachen und neue Beweismittel im Berufungszulassungsverfahren nicht ausgeschlossen werden.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
MAAAC-13184