Leitsatz
[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: StPO § 349 Abs. 2; StPO § 349 Abs. 4; StGB § 46 a; StGB § 176a Abs. 2; StGB § 177; StGB § 177 Abs. 1 Nr. 3; StGB § 177 Abs. 2 Satz 2; StGB § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1
Instanzenzug: LG Verden vom
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern und sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in sieben Fällen (II. 48 bis 52, 60, 61), "besonders schwerer" sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und sexuellem Missbrauchen von Schutzbefohlenen in drei Fällen (II. 45, 47 und 59), schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in fünf Fällen (II. 54 bis 58), sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 44 Fällen (II. 1 bis 43, 46) sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen (II. 44 und 53) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die allgemeine Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.
1. Der Angeklagte hat seine zu Tatbeginn 10 Jahre alte Adoptivtochter dreieinhalb Jahre lang sexuell missbraucht. Das Landgericht hat 61 Taten festgestellt und 54 der Missbrauchsfälle - weil es die Entscheidung des Senats vom (3 StR 230/04) noch nicht kennen konnte - auch als sexuelle Nötigung bzw. Vergewaltigung unter Ausnutzen einer schutzlosen Lage (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB) abgeurteilt. Diese Würdigung hält auf der Grundlage der Feststellungen rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Es bestehen bereits Bedenken, ob sich die Adoptivtochter - wie von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB vorausgesetzt - jeweils objektiv in einer Lage befand, in der sie der Einwirkung des Angeklagten schutzlos ausgeliefert war. Eine schutzlose Lage ist gegeben, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maß verringert sind, dass es dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben ist (vgl. BGH NStZ 1999, 30; NStZ-RR 2003, 42, 44). Das ist durch die Feststellungen nicht belegt.
Nach deren Zusammenhang geschahen die Taten im Wesentlichen in der im Obergeschoss eines Zweifamilienhauses gelegenen Familienwohnung, während die Ehefrau des Angeklagten abwesend war (Fälle II. 1 bis 43, 45, 48 bis 52, 59 bis 61). Eine schutzlose Lage ergibt sich aber nicht schon daraus, dass sich der Täter mit dem Opfer allein in einer Wohnung befindet. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzutreten, wie die Einsamkeit der Wohnung, das Fehlen von Fluchtmöglichkeiten o. ä. (vgl. BGHR StGB § 177 Abs. 1 Schutzlose Lage 7 m. w. N.; Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl. § 177 Rdn. 29). Solche Umstände sind nicht festgestellt. Vielmehr hat sich während dieser Taten der Sohn des Angeklagten - drei Jahre jünger als die Adoptivtochter - in einem anderen Raum der Wohnung aufgehalten. Soweit das Landgericht ausführt, dass in den Fällen, in denen der Missbrauch im elterlichen Schlafzimmer stattfand, die Tür des Schlafzimmers stets "geschlossen (so im festgestellten Sachverhalt, UA S. 5, 10) oder "verschlossen" (so in der rechtlichen Würdigung, UA S. 20) war, lässt dies die Möglichkeit offen, dass der Angeklagte lediglich die Zimmertüre ins Schloss gezogen hat, ohne dadurch für das Kind ein Hindernis zum Verlassen des Raumes zu errichten.
Ausreichende Feststellungen zur schutzlosen Lage fehlen auch im Fall II. 46. Hier fand der Missbrauch anlässlich eines Urlaubs des Angeklagten mit beiden Kindern im gemeinsam benutzten Schlafraum einer Ferienwohnung statt.
b) Es ist zudem nicht belegt, dass der Angeklagte sein Tatopfer unter Ausnutzung der schutzlosen Lage - deren Vorliegen unterstellt - zur Duldung oder Vornahme sexueller Handlungen genötigt hat.
Nach Auffassung des Senats muss die auf die sexuelle Handlung bezogene Beugung des Opferwillens objektiv gerade durch die schutzlose Lage gefördert werden. Das Tatopfer muss dem Täter gegenüber von Widerstand absehen, weil es diesen aufgrund des Ausgeliefertseins für sinnlos erachtet (). Nach den Feststellungen hatte sich die Adoptivtochter gegen die Übergriffe "aus Angst" nicht gewehrt, "weil sie nicht wusste, wie der Angeklagte dann reagieren würde, also ob er insbesondere zornig reagieren würde" (UA S. 6). Danach war nicht die jeweilige Tatsituation sondern die Unsicherheit des Mädchens über die Reaktion des Angeklagten im Falle seiner Zurückweisung entscheidend dafür, dass es entgegen dem eigenen Willen dem sexuellen Verlangen des Angeklagten nachkam. Nachdem sich der Angeklagte seit der Geburt um das Mädchen "wie ein Vater" gekümmert und es adoptiert hatte und in der Familie ein gutes Verhältnis herrschte (UA S. 4), liegt es fern, dass die Adoptivtochter damit Körperverletzungshandlungen oder gar Tötungshandlungen seitens des Angeklagten befürchtet hat (vgl. BGHR StGB § 177 I Schutzlose Lage 5).
Auch zur subjektiven Seite fehlen die erforderlichen Feststellungen. Das Landgericht führt dazu (in der rechtlichen Würdigung) lediglich aus, dass der Angeklagte die Taten "jeweils mit Vorbedacht zu Zeiten begangen hat, zu denen seine Ehefrau in der Wohnung nicht anwesend gewesen ist" (UA S. 19). Diese Begehensweise gehört zum regelmäßigen Erscheinungsbild des sexuellen Kindesmissbrauchs in familiären Nähesituationen und ersetzt nicht die Feststellung, dass der Angeklagte die Beugung des Opferwillens durch die schutzlose Lage erkannt und in seinen Vorsatz aufgenommen hat (vgl. ).
c) Nachdem die Feststellungen auf dem "glaubhaften Geständnis" (UA S. 16) des Angeklagten beruhen, schließt der Senat aus, dass in einer erneuten tatrichterlichen Verhandlung solche Feststellungen getroffen werden können, die eine Verurteilung nach § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB rechtfertigen, und ändert deshalb den Schuldspruch. Dies führt - auch in den Fällen II. 60 und 61, in denen durch die Verwirklichung von § 176a Abs. 2 StGB ebenfalls ein Strafrahmen von zwei bis fünfzehn Jahren zur Verfügung stand, die fehlerhafte Annahme von § 177 StGB also nicht die Strafrahmenwahl beeinflusst hat - zur Aufhebung der Einzelstrafen.
2. In den übrigen Fällen (II. 44, 53 bis 58) ist der Schuldspruch ohne Rechtsfehler. Die Einzelstrafen können gleichwohl nicht bestehen bleiben, da sich in ihnen erkennbar die Beurteilung des Gesamtgeschehens - insbesondere die Einordnung der anderen Taten als Verbrechen nach § 177 StGB - ausgewirkt hat.
3. Der neue Tatrichter wird die Bedenken zu berücksichtigen haben, die der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift gegenüber den bisherigen Strafzumessungserwägungen geäußert hat. Außerdem wird er bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 46 a StGB nicht nur die im Vergleichswege erfolgte Selbstverpflichtung des Angeklagten zur Zahlung eines erheblichen Schmerzensgelds (UA S. 24), sondern auch die - auch auf Initiative der Nebenklägerin zustande gekommenen - Kontakte zwischen Täter und Opfer zu würdigen haben.
4. Die Fassung des Schuldspruchs in den Fällen II. 45, 47 und 59 der Urteilsgründe gibt Anlass zu folgendem Hinweis: Wenn der Tatrichter eine sexuelle Nötigung (§ 177 Abs. 1 StGB) wegen sonstiger, nicht im Katalog des § 177 Abs. 2 Satz 2 StGB aufgeführter, Umstände als besonders schweren Fall beurteilt, kommt dies im Schuldspruch nicht zum Ausdruck. Der Grundsatz, dass Strafzumessungsvorschriften nicht in den Urteilstenor aufzunehmen sind (BGH NStZ 1984, 262, 263; vgl. auch Granderath MDR 1984, 988 f. jeweils m.w.N.; BGHR StGB § 243 I 2 Nr. 3 - Gewerbsmäßig 1), findet nur für das schon durch die gesetzliche Überschrift besonders hervorgehobene Regelbeispiel der Vergewaltigung nach § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB eine Durchbrechung (vgl. BGHR StGB § 177 Abs. 2 Strafrahmenwahl 10).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
EAAAC-08675
1Nachschlagewerk: nein