Leitsatz
[1] Bei der Prüfung, ob die Aufklärungspflicht die Ladung eines benannten Zeugen im Ausland gebietet, sind neben dem Gewicht der Strafsache die Bedeutung und der Beweiswert des weiteren Beweismittels vor dem Hintergrund des Ergebnisses der bisherigen Beweisaufnahme einerseits und der zeitliche und organisatorische Aufwand der Ladung und Vernehmung mit den damit verbundenen Nachteilen durch die Verzögerung des Verfahrens andererseits unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit abzuwägen.
Gesetze: StPO § 244 Abs. 5 Satz 2
Instanzenzug: LG Kleve
Gründe
Das Landgericht hat die Angeklagten, zwei Brüder, wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit diesen zu Freiheitsstrafen von je fünf Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichteten Revisionen der Angeklagten haben mit einer auf die Verletzung des § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO gestützten Verfahrensrüge Erfolg; auf die weiteren Rügen, die der Generalbundesanwalt zum Anlaß für seinen Aufhebungsantrag genommen hat, kommt es daher nicht an.
Nach den Feststellungen waren die aus der Nähe von Neapel stammenden Angeklagten mit dem Tunesier K. zu einer Kurzreise von Italien nach Amsterdam gefahren. Dort versteckte dieser 3,5 kg Kokain im PKW der Angeklagten und trennte sich von ihnen, um die Heimreise mit dem Zug anzutreten. Bei der Einreise der Angeklagten nach Deutschland wurde das Rauschgift in deren PKW entdeckt und diese festgenommen. Sie haben sich dahin eingelassen, das Kokain sei ohne ihr Wissen und Wollen von K. dort versteckt worden. Die Strafkammer hat dies auf Grund verschiedener Indizien für widerlegt erachtet. In der Hauptverhandlung hatten die Verteidiger beider Angeklagter u. a. beantragt, die in Lioni/Italien wohnende Zeugin Rita P. , die Freundin des K. , die mit der Schwester der Angeklagten befreundet ist, zum Beweis dafür zu vernehmen, daß K. gemeinsam mit ihr den Plan gefaßt habe, die beiden Angeklagten zu der Kurzreise nach Amsterdam zu veranlassen, dort heimlich Rauschgift in deren PKW zu verstecken und sie so als ahnungslose Kuriere zu mißbrauchen. Die Strafkammer hat diesen Beweisantrag nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO abgelehnt, da eine weitere Sachaufklärung nicht zu erwarten sei. Es sei angesichts des Verdachts der Beteiligung am Kokainhandel schon fraglich, ob die Zeugin der Ladung folgen werde; aber selbst wenn sie erscheine, sei damit zu rechnen, daß sie insoweit von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch machen werde.
Diese Ablehnung hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO kann die Vernehmung eines Auslandszeugen abgelehnt werden, wenn sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Maßgebendes Kriterium dabei ist, ob die Erhebung des Beweises ein Gebot der Aufklärungspflicht ist (BGHSt 40, 60, 62).
Die Möglichkeit, nach dieser Vorschrift einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen abzulehnen, erfaßt nicht nur Fälle der voraussichtlichen Unergiebigkeit der Zeugenaussage oder der Unerreichbarkeit des Zeugen, sondern - als Unterfall der Unerreichbarkeit - grundsätzlich auch solche Fallgestaltungen, in denen der Aufenthalt eines Zeugen zwar bekannt, aber damit zu rechnen ist, daß er entweder einer Ladung nicht folgen oder im Falle seines Erscheinens keine Angaben zur Sache machen werde. Dies gilt insbesondere für Zeugen, die der Beteiligung an der Tat verdächtig sind und denen deswegen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zusteht (vgl. ; ferner für die Behandlung eines inländischen Zeugen als unerreichbar BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Unerreichbarkeit 17).
Bei der Anwendung der Vorschrift des § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO ist jedoch zu beachten, daß das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom (BGBl I 50 f.) mit dieser von Anfang an umstrittenen Regelung die Ablehnungsmöglichkeit nur um den schmalen Bereich erweitert hat, um den die Ablehnungsgründe des bis dahin allein anwendbaren Abs. 3 Satz 2 über die Aufklärungspflicht hinausreichen (vgl. amtl. Begr. zum Entwurf des Bundesrates BTDrucks. 12/1217 S. 36; ferner zum Diskussionsstand: Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 244 Rdn. 339). Die Bundesregierung hatte in ihrer ablehnenden Stellungnahme zum Ausdruck gebracht, daß die Nutzung moderner Kommunikationswege den Richter in die Lage versetzen würde, Anträgen auf Ladung ohne wesentliche Verzögerungen nachzugehen (BTDrucks. 12/1217 S. 67). Im Rechtsausschuß ist dazu die Erwartung ausgesprochen worden, die Rechtsprechung werde im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens berücksichtigen, welche praktischen Probleme die Ladung eines benannten Zeugen bereiten würde (vgl. zum Gang der Gesetzgebung Siegismund/Wickern, wistra 1993, 81, 86).
Danach sind bei der Prüfung, ob die Aufklärungspflicht die Ladung eines benannten Auslandszeugen gebietet, neben dem Gewicht der Strafsache die Bedeutung und der Beweiswert dieses weiteren Beweismittels vor dem Hintergrund des Ergebnisses der bisherigen Beweisaufnahme einerseits und der zeitliche und organisatorische Aufwand einer Aufklärungsmaßnahme mit den damit verbundenen Nachteilen durch die Verzögerung des Verfahrens andererseits unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit abzuwägen (vgl. BGH NJW 2001, 695 f.). Dabei wird nicht unbeachtet bleiben können, ob die zu treffende Maßnahme nur durch ein aufwendiges Rechtshilfeersuchen oder auch durch direkte Kontaktaufnahme in benachbarten Ländern erledigt werden kann (vgl. zum "kleinen Rechtshilfegrenzverkehr" Siegismund/Wickern, wistra 1993, 81, 86).
Diesen Maßstäben wird die Entscheidung des Landgerichts nicht gerecht. Die Strafsache ist von erheblicher Bedeutung, da die bislang unbestraften Angeklagten zu je fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden sind. Einerseits sind die für die Überführung der Angeklagten sprechenden Indizien nicht so gewichtig, daß ihr Beweiswert nicht durch eine die Einlassung der Angeklagten stützende Aussage erschüttert werden könnte, andererseits kommt der benannten Zeugin eine wesentliche Rolle im Geschehen zu, die für eine nicht unerhebliche Beweisbedeutung spricht. Denn über diese Zeugin ist nach den Feststellungen der Kontakt zwischen K. und den Angeklagten hergestellt worden; auch hat K. , als er sich für die Rückreise in Amsterdam von den Angeklagten trennte, diesen einen Zettel mit der Telefonnummer der Zeugin nach dem Hinweis gegeben, über diesen Anschluß könne er erreicht werden, falls es Probleme gebe. Auch wenn die Zeugin in Italien zurückgeblieben ist und zunächst nur über die dort getroffenen Absprachen mit K. , nicht aber über die Gespräche zwischen K. und den Angeklagten in Amsterdam berichten kann, käme einer solchen Tatplanung für die Beurteilung erhebliche Bedeutung zu.
Bei dieser besonderen Beweislage hätte es die Aufklärungspflicht erfordert, daß das Gericht nicht lediglich auf Grund der mutmaßlichen Interessenlage der Zeugin von der fehlenden Bereitschaft ausgeht, vor Gericht zu erscheinen und trotz eines Auskunftsverweigerungsrechts auszusagen. Vielmehr hätte es die - wenn auch möglicherweise nur geringe - Chance, eine Aussage der Zeugin zu erlangen, wahrnehmen und wenigstens einen Ladungsversuch oder zumindest eine freibeweisliche Klärung der Aussagewilligkeit, etwa durch einen Telefonanruf (gegebenenfalls unter Zusicherung freien Geleits), unternehmen müssen, zumal der zeitliche und organisatorische Aufwand solcher Maßnahmen in vertretbarem Rahmen geblieben wäre.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
RAAAC-07677
1Nachschlagewerk: ja