BGH Beschluss v. - IX ZB 27/02

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: AVAG § 15 Abs. 1; AVAG § 16 Abs. 2 Satz 1; AVAG § 16 Abs. 2 Satz 2; AVAG § 17 Abs. 1 Satz 1; AVAG § 17 Abs. 2 Satz 2; ZPO § 286; ZPO § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1; ZPO § 574 Abs. 2; ZPO § 575 Abs. 2 Nr. 2; ZPO § 577 Abs. 6 Satz 3

Instanzenzug: OLG Frankfurt am Main vom

Gründe

I.

Die C. Company, die R. und die Ch. Ltd. haben beim High Court of Justice (Chancery Division), London, einen Zahlungstitel über 163.440.468 CAN$, 125.018.620 US$ und 68.845.886 CAN$ gegen den Antragsgegner erwirkt. Diesem Titel vorangegangen waren, da der Antragsgegner in dem in England durchgeführten Verfahren nicht zu den anberaumten Terminen erschienen war, Versäumnisentscheidungen vom und des High Court of Justice. Die Antragstellerinnen haben als Rechtsnachfolgerinnen der Klägerinnen wegen eines Teilbetrages von US$ 500.000 beantragt, den Titel in Deutschland für vollstreckbar zu erklären.

Der Vorsitzende einer Zivilkammer des Landgerichts hat dem Antrag stattgegeben. Die Beschwerde des Antragsgegners ist erfolglos geblieben. Dagegen wendet sich dieser mit seiner Rechtsbeschwerde.

II.

Auf das Anerkennungsverfahren findet das EuGVÜ Anwendung, das im Verhältnis zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich seit galt (BGBl. 1994 II S. 3707). Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom (Amtsblatt EG 2001 Nr. L12, S. 1, im folgenden: EuGVVO) ist erst am in Kraft getreten (vgl. Art. 66 Abs. 1, Art. 76 EuGVVO). Da die anzuerkennende Entscheidung vom und damit vor diesem Zeitpunkt erlassen worden ist, greift die Übergangsvorschrift in Art. 66 Abs. 2 Buchst. a EuGVVO nicht ein.

III.

Das gemäß § 15 Abs. 1 AVAG, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsmittel ist unzulässig; denn die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts (§ 574 Abs. 2 ZPO).

Gemäß § 575 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, § 16 Abs. 2 Satz 1 und 2 AVAG müssen die Zulässigkeitsgründe in der Begründung des Rechtsmittels dargelegt werden. Im Rahmen der Rechtsbeschwerde prüft der Bundesgerichtshof nur die Zulässigkeitsgründe, die in der Beschwerdebegründung schlüssig und substantiiert dargelegt sind (vgl. BGHZ 152, 7, 8 f für die Nichtzulassungsbeschwerde).

Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Diese Voraussetzungen müssen in der Beschwerdebegründung dargelegt werden (BGHZ 151, 221, 223; BGHZ 154, 288, 291 für § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO).

Die von der Rechtsbeschwerde aufgeworfenen Fragen haben keine grundsätzliche Bedeutung (§ 15 Abs. 1 AVAG, § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).

1. Die Rechtsbeschwerde hält die Frage für rechtsgrundsätzlich, ob die internationale Zuständigkeit des Urteilsgerichts im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung entgegen Art. 28 Abs. 3 EuGVÜ ausnahmsweise zu prüfen ist, wenn ein Kläger in England Klage einreicht, d.h. sich einen writ ausstellen lässt, obwohl er positiv weiß, dass der Beklagte seinen Wohnsitz in England aufgegeben hat, er den Wohnsitz des Beklagten in Deutschland kennt und die Klageeinreichung nur deshalb erfolgt, um sich die Zuständigkeit englischer Gerichte auf der Grundlage von Art. 2 EuGVÜ für ein späteres Verfahren zu sichern; im vorliegenden Fall sei erst ca. 6 Monate nach Ausstellung des writ versucht worden, diesen dem Beschwerdeführer zuzustellen. Bei Antragstellung zu dem Zeitpunkt, zu dem das Klageverfahren in England tatsächlich durchgeführt wurde, habe der Gerichtsstand des Art. 2 EuGVÜ in England nicht mehr bestanden.

a) Es kann dahinstehen, ob die in dieser Frage enthaltenen tatsächlichen Annahmen, die teilweise den Feststellungen des Beschwerdegerichts widersprechen, für die Beurteilung des Rechtsbeschwerdeverfahrens zugrunde gelegt werden könnten. Die Frage ist jedenfalls nicht klärungsbedürftig.

b) Art. 28 Abs. 3 EuGVÜ bestimmt, dass die Vorschriften über die Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsstaates im Anerkennungsverfahren nicht nachgeprüft werden. Dasselbe gilt für die Vollstreckbarerklärung, Art. 34 Abs. 2 EuGVÜ. Ausgenommen hiervon ist lediglich Art. 28 Abs. 1 EuGVÜ, wonach die Einhaltung der Bestimmungen des 3., 4. und 5. Abschnitts des Titels II zu überprüfen ist, also der Regelungen über die Zuständigkeit für Versicherungssachen, Verbrauchersachen und über die ausschließliche Zuständigkeit; diese sind hier nicht betroffen.

Eine Überprüfung der Zuständigkeit findet auch nicht mittelbar im Rahmen des Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ statt. Die Vorschriften über die Zuständigkeit gehören nach der ausdrücklichen Regelung in Art. 28 Abs. 3 Halbs. 2 EuGVÜ nicht zur öffentlichen Ordnung (ordre public) im Sinne des Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ. Der Jenard-Bericht (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C59/46, zu Art.28) begründet den Ausschluss mit dem Vertrauen darauf, dass der Richter des Urteilsstaates die Zuständigkeitsregeln richtig anwendet.

Deshalb ist auch eine mögliche Fehlentscheidung des Gerichts des Urteilsstaates hinsichtlich seiner internationalen Zuständigkeit hinzunehmen, gleichgültig ob sie durch unzutreffende tatsächliche Feststellungen oder durch fehlerhafte Rechtsanwendung entstanden ist (Kroppholler, Europäisches Zivilprozessrecht 7. Aufl. Art. 35 EuGVVO Rn. 1; Wolf in Bülow/Böckstiegel/Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr Art. 28 EuGVÜ Rn. 2; Zöller/Geimer, ZPO 25. Aufl. Art. 35 EuGVVO Rn. 1; Schlosser, Europäisches Zivilprozessrecht 2. Aufl. Art. 34 bis 36 EuGVVO Rn. 30; Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht 2. Aufl. Art. 35 EuGVVO Rn. 13 f).

Der Europäische Gerichtshof hat auf Vorlage des Senats (, EuZW 1999, 26) entschieden, dass das Verbot, auf den ordre public zurückzugreifen, absolut gilt (EuGHE 2000, 1935 f, Rn. 31 f). Dies entspricht der Rechtsprechung des Senats in der genannten Vorlageentscheidung.

Soweit die Rechtsbeschwerde meint, der Europäische Gerichtshof habe in dieser Entscheidung die Auffassung vertreten, dass in Ausnahmefällen die Anwendung der ordre public Klausel auch in Bezug auf die internationale Zuständigkeit in Betracht komme, ist dies unzutreffend. Der Europäische Gerichtshof hatte sich mit unterschiedlichen Vorlagefragen des Senats zu befassen. Die erste betraf die Begründung der internationalen Zuständigkeit für die Verurteilung in einem strafrechtlichen Annexverfahren aus der Staatsangehörigkeit des Opfers (Rn. 29). In diesem Punkt hat der Europäische Gerichtshof die Regel des Art. 28 Abs. 3 EuGVÜ uneingeschränkt bestätigt. Bei der zweiten Frage ging es darum, ob das Urteil anzuerkennen war, obwohl der Beklagte sich nur bei persönlicher Anwesenheit hätte verteidigen können (Rn. 35). Nur hierauf beziehen sich die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs zu den grundlegenden Verfahrensgarantien und Rechten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der Europäische Gerichtshof hat damit keine Einschränkung des Art. 28 Abs. 3 EuGVÜ zugelassen, diese vielmehr generell, auch für die Fälle so genannter exorbitanter Zuständigkeit, ausgeschlossen (vgl. Schlosser, EU-Zivilprozessrecht aaO Art. 34 bis 36 EuGVVO Rn. 30).

c) Aus dem Senatsbeschluss vom (IX ZB 27/86, NJW-RR 1987, 377) ergibt sich entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nichts anderes; denn diese Entscheidung befasst sich im Rahmen der ordre-public-Klausel des Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ lediglich mit der Frage, ob ein durch Täuschung des ausländischen Gerichts erschlichenes Urteil für vollstreckbar erklärt werden kann, nachdem der im Vollstreckungsstaat wohnhafte Beklagte ebenfalls durch Täuschung davon abgehalten wurde, sich gegen die wahrheitswidrig begründete Klage und gegen das Urteil zu verteidigen. Hieraus ergibt sich nichts zur Frage der internationalen Zuständigkeit.

2. Die Rechtsbeschwerde hält außerdem die Frage für rechtsgrundsätzlich, ob einem ausländischen Urteil gemäß Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ die Anerkennung zu versagen ist, wenn zwar nach Auffassung des Urteilsgerichts die Zustellung oder die Ersatzzustellung ordnungsgemäß erfolgt ist, die Kläger jedoch keinen Antrag gestellt haben, die Klage dem Beklagten an dessen - ihnen bekannten - tatsächlichen Wohnsitz zuzustellen. Zu entscheiden sei in diesem Zusammenhang, welche Auswirkungen das Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die Zustellung innerhalb des Geltungsbereiches des EuGVÜ habe.

a) Auch insoweit kann dahinstehen, ob die in dieser Frage enthaltenen tatsächlichen Annahmen für die Beurteilung der Rechtsbeschwerde zugrunde gelegt werden könnten. Die Frage ist ebenfalls nicht klärungsbedürftig.

b) Ob das verfahrenseinleitende Schriftstück ordnungsgemäß zugestellt wurde, ist auch vom Gericht des Vollstreckungsstaates zu prüfen (EuGHE 1981, 1593 ff Rn. 16; 1982, 2723 ff Rn. 13 f; EuGH, EuZW 1990, 352, 354; , WM 1986, 539, 540; Kroppholler aaO Art. 34 Rn. 45 f). Diese Überprüfung findet immer statt, wenn die Entscheidung eines Mitgliedsstaates in einem anderen Mitgliedsstaat anerkannt oder vollstreckt werden soll, auch dann, wenn der Beklagte einen oder seinen einzigen Wohnsitz im Staat des Erstrichters hatte (EuGHE 1985, 1779 ff Rn. 13; Kroppholler aaO Art. 34 EuGVVO Rn. 24). Diese Prüfung hat das Beschwerdegericht jedenfalls hilfsweise vorgenommen. Es ist zutreffend davon ausgegangen, dass für die Zustellung das Recht des Urteilsstaates, also englisches Recht anwendbar ist. Dies wird von den Parteien nicht beanstandet (vgl. auch EUGH, EuZW 1990, 352, 354).

Das Beschwerdegericht hat festgestellt, dass nach englischem Recht das maßgebende verfahrenseinleitende Schriftstück, der am ausgestellte writ, dem Antragsgegner zweimal ordnungsgemäß zugestellt worden ist, nämlich im März 1997 und jedenfalls durch Ersatzzustellung im Juni 1997. Die Ersatzzustellung hat es insbesondere deshalb für zulässig gehalten, weil nach seiner Feststellung der Beklagte versucht hatte, die Zustellung einer gegen ihn gerichteten Klage in England zu vereiteln. Die Richtigkeit dieser Beurteilung des englischen Rechts kann vom Bundesgerichtshof gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 AVAG nicht überprüft werden. Einen Zulässigkeitsgrund im Sinne des § 574 Abs. 2 ZPO hat die Rechtsbeschwerde nicht dargelegt. Die geltend gemachte Verletzung des § 286 ZPO genügt hierfür nicht.

Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ verlangt nicht den Nachweis, dass der Beklagte tatsächlich von dem verfahrenseinleitenden Schriftstück Kenntnis erhalten hat (EUGHE 1981, 1593 ff Rn. 19).

c) Gemäß Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ muss das verfahrenseinleitende Schriftstück allerdings so rechtzeitig zugestellt worden sein, dass sich der Beklagte ordnungsgemäß verteidigen konnte. Normalerweise kann der Richter des Anerkennungsstaates davon ausgehen, dass der Beklagte ab dem Zeitpunkt der Zustellung Maßnahmen zur Verteidigung seines Interesses einleiten kann (EuGHE 1981, 1593 ff Rn. 19). Er hat jedoch im Einzelfall zu prüfen, ob so außergewöhnliche Umstände vorliegen, dass die Zustellung, obgleich ordnungsgemäß erfolgt, nicht genügt, den zur Verteidigung eingeräumten Zeitraum beginnen zu lassen. Dabei kann das Gericht alle Umstände des Einzelfalles berücksichtigen (EuGHE 1981, 1593 ff, Rn. 20), auch soweit außergewöhnliche Umstände erst nach einer ordnungsgemäßen Zustellung eingetreten sind (EuGHE 1985, 1779 ff Rn. 23 f).

Das Gericht des Vollstreckungsstaates muss daher bei der Beurteilung der Frage, ob die Zustellung rechtzeitig erfolgt ist, alle Umstände des Einzelfalles berücksichtigen. Es hat dabei die Art und Weise der Zustellung, der Beziehungen zwischen dem Gläubiger und dem Schuldner, die Art der Maßnahmen, die zur Vermeidung einer Versäumnisentscheidung einzuleiten waren, aber auch außergewöhnliche Umstände oder Tatsachen, die nach der Zustellung eingetreten sind, zu berücksichtigen. Zu diesen Umständen gehört, ob es der Beklagte zu vertreten hat, dass das ordnungsgemäß zugestellte Schriftstück ihn nicht erreicht hat, oder der Kläger von einer neuen Anschrift des Beklagten Kenntnis erhalten hat (EuGHE 1981, 1593 ff Rn. 20 f; 1985, 1779 ff Rn. 33; Kroppholler aaO Rn. 36 f).

Bei der Abwägung aller Umstände hat der Tatrichter das Recht des Beklagten auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK zu berücksichtigen. Es ist nicht ersichtlich, dass insoweit andere Auffassungen vertreten würden. Auch das Beschwerdegericht hat dies nicht verkannt, sondern das Recht auf ein faires Verfahren bei der Abwägung ausdrücklich berücksichtigt. Es ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Beklagte im damaligen Verfahren eine sachgerechte Verteidigung bis zu dem erst mehr als sechs Monate nach der Ersatzzustellung stattfindenden Termin vorbereiten konnte.

Dies ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Klärungsbedürftige Rechtsfragen stellen sich in diesem Zusammenhang nicht.

3. Im Übrigen wird gemäß § 577 Abs. 6 Satz 3 ZPO, § 17 Abs. 2 Satz 2 AVAG von einer Begründung abgesehen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
ZAAAB-99836

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