BVerfG Beschluss v. - 2 BvR 66/01

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: StPO § 260 Abs. 3; GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 2; GG Art. 20 Abs. 3

Instanzenzug: BGH 2 StR 232/00 vom

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind entschieden (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG); denn die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>). Sie ist unzulässig, da dem Beschwerdeführer das Rechtsschutzinteresse fehlt.

I.

Der Beschwerdeführer ist rechtskräftig vom Vorwurf des Betrugs in 60 Fällen und versuchten Betrugs in sieben Fällen freigesprochen worden. Der Verfahrensablauf gestaltete sich wie folgt:

1. Ab November 1986 gingen bei verschiedenen Staatsanwaltschaften im Bundesgebiet Strafanzeigen u.a. gegen den Beschwerdeführer wegen des Vorwurfs ein, im Zeitraum von Oktober 1984 bis November 1986 den Verkauf einer Vielzahl von Eigentumswohnungen in Wohnanlagen des sozialen Wohnungsbaus im sogenannten "Erwerbermodell" zwischen privaten Anlegern und mehreren von ihm beherrschten Gesellschaften, die die Immobilien zuvor gekauft hatten, betrügerisch vermittelt zu haben. Der Beschwerdeführer erhielt durch Ladung vom zur polizeilichen Vernehmung erstmals Kenntnis von dem gegen ihn gerichteten Verfahren. Am erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zur Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Köln. Das Hauptverfahren wurde durch Beschluss vom eröffnet. Am wurde die Hauptverhandlung auf (vorerst) 126 Sitzungstage vom 13. Januar bis terminiert. Tatsächlich verhandelte die Kammer bis zum an insgesamt 44 Verhandlungstagen und stellte das Verfahren wegen überlanger Verfahrensdauer als Prozesshindernis nach § 260 Abs. 3 StPO durch Urteil ein.

2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob der Bundesgerichtshof das erstinstanzliche Urteil auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Bonn. Zur Begründung führte der Strafsenat aus:

Ein Verfahrenshindernis ergebe sich zunächst nicht aus dem Eintritt der Verfolgungsverjährung. Ob aus der Verletzung des Beschleunigungsgebots ein zur Einstellung zwingendes Verfahrenshindernis folge, könne der Senat nicht abschließend prüfen.

Grundsätzlich sei das in ganz außergewöhnlichen Sonderfällen aus der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Verbot einer weiteren Strafverfolgung als Verfahrenshindernis zu behandeln und vom Tatrichter als auch vom Revisionsgericht in diesen Fällen von Amts wegen zu berücksichtigen. Der Senat könne hier auf der Grundlage der Urteilsfeststellungen und des ihm zugänglichen Akteninhalts feststellen, dass ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auf Grund einer vom Angeklagten nicht zu vertretenden überlangen Verfahrensdauer vorliege. Ob dieser Verstoß aber so gewichtig sei, dass eine Kompensation im Rahmen einer Sachentscheidung nicht mehr in Betracht komme und er daher der Weiterführung des Verfahrens insgesamt entgegenstehe, könne regelmäßig nicht ohne tatsächliche Feststellungen zur Tatschuld des Angeklagten beurteilt werden.

Das Landgericht habe hierzu keine für das Revisionsgericht nachprüfbaren Feststellungen getroffen. Die Urteilsgründe erschöpften sich in einer Darstellung der Verfahrensgeschichte sowie rechtlichen Ausführungen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Dem Senat sei es auf Grund des gänzlichen Fehlens tatsächlicher Feststellungen nicht möglich zu beurteilen, ob die Umstände des Einzelfalls angesichts der überlangen Verfahrensdauer und des vom Angeklagten nicht zu vertretenden Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot hier einen Extremfall begründeten, in welchem der Verstoß weder durch eine Berücksichtigung im Rahmen der Strafzumessung noch etwa durch Einstellung nach § 153a oder § 153 StPO hinreichend ausgeglichen werden könne. Der rechtsfehlerhafte Verzicht auf nachprüfbare Tatsachenfeststellungen müsse daher zur Aufhebung des Urteils führen. Denn nach dem Akteninhalt komme vorliegend bei der gebotenen zügigen Sachbehandlung eine Berücksichtigung des Verstoßes im Rahmen einer Rechtsfolgeentscheidung durchaus noch in Betracht.

3. Das Landgericht Bonn terminierte das Verfahren neu ab dem . Verhandelt wurde an 43 Verhandlungstagen bis zum . An diesem Terminstag wurde der Beschwerdeführer freigesprochen. Das Urteil ist, da die Staatsanwaltschaft ihr ursprünglich eingelegtes Rechtsmittel zurückgenommen hat, seit dem rechtskräftig.

II.

1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs. Mit ihr wird ein Verstoß gegen die Grundsätze fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), gegen die Unschuldsvermutung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) sowie gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) geltend gemacht.

Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, die Voraussetzungen für eine Einstellung des Verfahrens wegen bestehenden Verfahrenshindernisses hätten entgegen den Ausführungen des Bundesgerichtshofs vorgelegen. Die in der angegriffenen Entscheidung aufgestellten Anforderungen an die Darlegungspflicht der ersten Instanz seien nicht nur überzogen, sondern gingen ausschließlich auf Kosten des Angeklagten, der die mangelnden Feststellungen des Landgerichts nicht zu vertreten habe.

Zudem sei es dem Landgericht von Verfassungs wegen verwehrt gewesen, in einem Prozessurteil Ausführungen zum Schuldumfang zu machen. Diese seien allein einem Sachurteil bei Abschluss der Hauptverhandlung und Schuldspruchreife vorbehalten. Ansonsten liege ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor. Der Umstand, dass der Bundesgerichtshof nicht selbst das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses geprüft habe, stelle weiterhin einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter dar.

2. Um den Ausgang des Verfahrens vor dem Landgericht Bonn abzuwarten und einer etwaigen freisprechenden Entscheidung nicht vorzugreifen, beantragte der Beschwerdeführer am , das Ruhen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens anzuordnen. Diesem Antrag hat die Kammer durch Beschluss vom entsprochen.

3. Nach Rechtskraft des freisprechenden Urteils hat der Beschwerdeführer beantragt, das Verfahren fortzusetzen und festzustellen, dass die Entscheidung des Bundesgerichtshofs verfassungswidrig gewesen sei. Zur Begründung seiner Behauptung, nach wie vor ein Rechtsschutzinteresse an der Durchführung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu haben, hat er vorgetragen, trotz des Freispruchs durch das Revisionsurteil beschwert zu sein.

Das Strafverfahren und die mediale Berichterstattung hierüber hätten zu erheblichen Beeinträchtigungen persönlicher und wirtschaftlicher Art geführt. Eine wirtschaftliche Fortentwicklung der von ihm geführten Unternehmen sei nicht möglich gewesen. Diese Beeinträchtigungen wirkten bis heute fort. Die ihm entstandenen Verluste ließen sich durch das Entschädigungsrecht nicht angemessen ausgleichen.

Es bestehe Wiederholungsgefahr. Denn bei der Staatsanwaltschaft Köln sei ein weiteres Verfahren aus demselben Tatzeitraum anhängig, und bislang sei - nach 14 Jahren - noch keine abschließende Entscheidung getroffen worden. Es stehe daher zu befürchten, dass sich der massive Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot wiederhole.

Durch das Urteil des Landgerichts Bonn sei keine prozessuale Überholung eingetreten, da die Rechtmäßigkeit der Ausführungen des Bundesgerichtshofs nicht geprüft worden sei.

Das langjährige, in seiner zeitlichen Dauer nicht gerechtfertigte Verfahren stelle einen intensiven Grundrechtseingriff dar und betreffe eine verfassungsrechtlich bedeutsame Fragestellung. Die angestrebte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diene auch der Rechtswegerschöpfung vor einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

III.

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da der Beschwerdeführer kein Rechtsschutzinteresse an der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der revisionsgerichtlichen Entscheidung mehr hat.

1. Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsakts oder - in bestimmten Fällen wie dem vorliegenden - jedenfalls für die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit besteht. Dieses Rechtsschutzbedürfnis muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben sein (vgl. BVerfGE 21, 139 <143>; 30, 54 <58>; 56, 99 <106>; 72, 1 <5>; stRspr). Im Falle der Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens sind die entscheidenden Kriterien für das Fortbestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses darin zu sehen, dass entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint, eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt (vgl. BVerfGE 33, 247 <257 f.>; 69, 161 <168>).

2. Das mit der Verfassungsbeschwerde ursprünglich verfolgte Begehren des Beschwerdeführers hat sich unabhängig von der Frage, ob das Landgericht die Revisionsentscheidung überprüft hat, erledigt, weil das Strafverfahren nicht mehr andauert und durch einen rechtskräftigen Freispruch beendet worden ist. Eine Aufhebung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs und die zugleich begehrte endgültige Einstellung des Verfahrens würden den Beschwerdeführer schlechter stellen, da mit einer derartigen Entscheidung keine materiell-rechtliche Rehabilitierung einherginge, der Schuldvorwurf vielmehr im Raum bliebe. Sinnvoll ist daher nur noch ein Feststellungsantrag, den der Beschwerdeführer konkludent gestellt hat.

Die Voraussetzungen, unter denen das Rechtsschutzbedürfnis trotz Erledigung des verfolgten Begehrens fortbesteht, liegen nicht vor.

a) Sollte die Verfassungsbeschwerde begründet sein, läge in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs kein Grundrechtseingriff, der in seinen Auswirkungen für den Beschwerdeführer besonders belastend erscheint.

Ein Verstoß gegen grundrechtlich geschützte Rechtspositionen des Beschwerdeführers liegt hier in erster Linie in der Verfahrensdauer bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Aus der mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG gerügten Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs folgte für den Beschwerdeführer zwar, dass er sich einer weiteren, über ein halbes Jahr andauernden Hauptverhandlung stellen musste. Diese endete aber mit einem rechtskräftigen Freispruch, durch den der Beschwerdeführer eine materiell-rechtliche Rehabilitierung erreicht hat. Zudem hat der Bundesgerichtshof in der angegriffenen Entscheidung in aller Deutlichkeit festgestellt, dass die Dauer des gegen den Beschwerdeführer durchgeführten Strafverfahrens einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK darstellt; der Strafsenat sah sich lediglich nicht in der Lage, allein auf Grund der ihm zur Verfügung stehenden Aufklärungsmöglichkeiten und wegen der mangelnden Feststellungen des Landgerichts die zuvor erstmalig in dieser Schärfe aufgezeigte Konsequenz aus dem Verstoß - von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis - zu ziehen; auch verfahrensrechtlich ist dem Anliegen des Beschwerdeführers daher im Wesentlichen Genüge getan, zumal er auf die sofortige Durchführung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens parallel zum Strafverfahren durch seinen Antrag, das Verfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss ruhen zu lassen, verzichtet hat, um sich die Option eines Freispruchs offen zu halten.

Unter diesen Umständen bedarf es keiner Prüfung, ob die Verfassungsbeschwerde Anlass zur Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung geben könnte (BVerfGE 81, 138 <141>).

b) Ein Rechtsschutzbedürfnis ist weiterhin nicht unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr begründet. Der Beschwerdeführer hat zwar vorgetragen, es sei noch ein ebenso altes Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Köln anhängig. Unabhängig davon, ob dieses Verfahren zu einer Anklage führt, würde der Durchführung des Verfahrens eine inhaltliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im vorliegenden Fall aber nicht entgegen stehen. Denn aus der Feststellung, es gebe ein von Verfassungs wegen zu berücksichtigendes Verfahrenshindernis der überlangen Verfahrensdauer und dessen Voraussetzungen lägen auch im konkreten Fall vor, könnte nicht der Schluss gezogen werden, dies gelte auch für das weitere Ermittlungsverfahren. Vielmehr wäre der Beschwerdeführer insoweit erneut auf den fachgerichtlichen Rechtsweg verwiesen und könnte erneut eine Verfassungsbeschwerde einlegen.

Kann der Beschwerdeführer somit seine Rechte in vollem Umfang in einem späteren Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen eine etwa in einem neuen Strafverfahren ergangene gerichtliche Entscheidung wahren, so besteht kein Anlass, im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren trotz Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde ursprünglich verfolgten Begehrens weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis zu bejahen (BVerfGE 50, 244 <252>).

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
PAAAB-87299