BVerfG Beschluss v. - 2 BvR 2122/03

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: BVerfGG § 93a; BVerfGG § 93a Abs. 2; BVerfGG § 93b; StPO § 247a; StPO § 244 Abs. 2; GG Art. 2 Abs. 2; GG Art. 20 Abs. 3; EMRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1; EMRK Art. 6 Abs. 3

Instanzenzug: BGH 3 StR 316/02 vom LG Oldenburg 5 SG 30/96 vom

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anforderungen an die gerichtliche Aufklärungspflicht und die Ausgestaltung des Fragerechts des Angeklagten im Falle mittelbarer Beweisführung durch Bekundungen einer Vertrauensperson, die trotz der Vorschrift über die audiovisuelle Zeugenvernehmung (§ 247a StPO) in der Hauptverhandlung nicht gehört worden ist.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind entschieden (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG); denn die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>).

Die Rüge der Verletzung des Rechts auf ein faires Strafverfahren durch die Weigerung der Schwurgerichtskammer, an den als Vertrauensperson gesperrten Hauptbelastungszeugen unmittelbar Fragen stellen zu dürfen, dringt ebenso wenig durch wie das Vorbringen der Beschwerde, jedenfalls mit der Möglichkeit der - ggf. "abgeschirmten" - Videovernehmung nach § 247a StPO habe ein gegenüber dem Verzicht auf die Einvernahme des Zeugen weniger intensiv in das Verteidigungsrecht des Beschwerdeführers eingreifendes Mittel zur Verfügung gestanden.

1. a) Prüfungsmaßstab für die Frage der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die strafrichterliche Aufklärungspflicht ist vornehmlich Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die Grundsätze fairen Verfahrens haben insoweit Vorrang vor dem aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ableitbaren Willkürverbot, da sie die stärkere sachliche Beziehung zu dem zu prüfenden Sachverhalt haben (vgl. BVerfGE 75, 348 <357>). Ein zentrales Ziel eines rechtsstaatlich geordneten Strafverfahrens ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts als der notwendigen Grundlage eines gerechten Urteils. Die Ermittlung des Sachverhalts durch den Tatrichter untersteht dabei dem aus § 244 Abs. 2 StPO abzuleitenden und den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechenden "Gebot bestmöglicher Sachaufklärung" (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des -, NJW 2003, S. 2444 <2445>).

Besondere Sorgfalt bei dieser Aufklärung ist geboten, wenn - wie hier - polizeiliche Gewährspersonen nur deshalb nicht als Zeugen gehört werden können, weil die zuständige Behörde sich weigert, ihre Identität preiszugeben oder eine Aussagegenehmigung zu erteilen. Hier ist es nämlich die Exekutive, die eine erschöpfende Sachaufklärung verhindert und es den Verfahrensbeteiligten unmöglich macht, die persönliche Glaubwürdigkeit der im Dunkeln bleibenden Gewährsperson zu überprüfen (vgl. BVerfGE 57, 250 <287 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des -, NStZ 1997, S. 94; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des -, NStZ 1991, S. 445 f.; aus der Rechtsprechung des EGMR insbesondere EGMR, StV 1997, S. 617 - van Mechelen u.a. v. Niederlande; StV 1999, S. 127 - Teixeira de Castro v. Portugal; NJW 2003, S. 2297 f. - N.F.B. v. Deutschland).

Allerdings rechtfertigt nicht jeder Verstoß gegen § 244 Abs. 2 StPO das Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts. Voraussetzung ist vielmehr, dass sich das Tat- und gegebenenfalls das Revisionsgericht so weit von der Verpflichtung entfernt haben, in Wahrung der Unschuldsvermutung bei jeder als Täter in Betracht kommenden Person auch die Gründe, die gegen die mögliche Täterschaft sprechen, wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen, dass der rationale Charakter der Entscheidung verloren gegangen scheint und sie keine tragfähige Grundlage mehr für die mit einem Schuldspruch einhergehende Freiheitsentziehung sein kann. Dies wird auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des -, NJW 2003, S. 2444 <2446>).

b) Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Die Erwägung der Strafgerichte, die Tatsache, dass eine Sperrerklärung fast vier Jahre alt ist, führe nicht automatisch dazu, dass weitere Aufklärungsbemühungen - nötigenfalls im Wege der Gegenvorstellung - erforderlich seien, um die Identität der Vertrauensperson zu klären, ist mit Blick auf die Besonderheiten des der konkreten Sperrerklärung zu Grunde liegenden Sachverhalts von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Die Sperrerklärung hebt die hohe Gewaltbereitschaft und außergewöhnliche kriminelle Energie der Tätergruppierung und die daraus resultierenden besonderen Gefahren für die Vertrauensperson hervor. Die Berücksichtigung dieser Umstände ist weder willkürlich noch offensichtlich fehlerhaft (vgl. BVerfGE 57, 250 <288 f.>; BGHSt 29, 109 <112>; Renzikowski, JZ 1999, S. 605 <608, 612>). Eine konkrete Bedrohung der Aussageperson im Falle "offener" Vernehmung ist auch nach den Grundsätzen der Entscheidung des EGMR in der Rechtssache van Mechelen v. Niederlande (StV 1997, S. 617 <619 Tz. 61>) ein rechtfertigender Grund für den Verzicht auf deren unmittelbare Befragung. Die Einschätzung, dass eine Aufhebung der Sperrerklärung unter diesen besonderen Umständen nicht zu erwarten war, ist daher jedenfalls vertretbar.

Angesichts dieser Besonderheiten ist auch die Prognose, die Innenbehörde werde ihre Zustimmung auch zu einer "verdeckten" Videovernehmung nicht geben, aus Sicht des Verfassungsrechts hinzunehmen. Dass der Individualschutz der Aussageperson gegenüber dem gerichtlichen Aufklärungsinteresse nicht von vornherein zurückstehen muss, ergibt sich auch aus den Motiven des Gesetzgebers, der sich der besonderen Risiken für Personen, die sich von ihrem kriminellen Umfeld lossagen wollen, bewusst war (vgl. BTDruck 13/7165, S. 4, 6). Ungeachtet der Frage der Zulässigkeit von optischer oder akustischer Abschirmung von Zeugen im Rahmen des § 247a StPO (vgl. Diemer, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 5. Aufl. 2003, § 247a Rn. 14; Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl. 2004, § 68 Rn. 18) ist die Erwägung, die Fragen der Verteidigung hätten insbesondere auf die Herkunft der Kenntnisse des sich im Täterumfeld bewegenden Zeugen gezielt, angesichts der Feststellungen zu den Beziehungen zwischen dem Tippgeber und der Vertrauensperson nahe liegend.

2. a) Prüfungsmaßstab für eine mögliche Verletzung des Fragerechts des Angeklagten gegenüber Belastungszeugen sind in erster Linie die sich aus dem Prinzip eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens ergebenden Anforderungen (vgl. BVerfGE 57, 250 <274 f.>; 86, 288 <317 f.>). Aus diesem Prinzip folgt unter anderem ein Anspruch auf materielle Beweisteilhabe, also auf Zugang zu den Quellen der Sachverhaltsfeststellung (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des -, NJW 2001, S. 2245 <2246>). Dieser Anspruch wird einerseits bestätigt, andererseits ausgeformt durch die als Auslegungshilfe verstandenen Regelungsinhalte des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 EMRK und ihre Ausprägung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesgerichtshofs (stRspr; vgl. BVerfGE 64, 135 <157>; 74, 358 <370>).

b) Ob angesichts dieser Anforderungen hier ein verfassungskräftiges Recht des Beschwerdeführers auf eine konfrontative und unmittelbare Befragung des Belastungszeugen vereitelt wurde, kann offen bleiben. Die Verwerfung der unter Berufung auf ein solches Recht erhobenen Verfahrensrüge als unzulässig stellt an die Substantiierung der Verfassungsbeschwerde besondere Anforderungen (vgl. BVerfGE 95, 96 <127>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des -, NJW 1995, S. 2839 <2840>). Das Vorbringen des Beschwerdeführers erschöpft sich aber in einfach-rechtlichen Argumenten gegen die Revisionsentscheidung.

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Fundstelle(n):
NAAAB-86964