BVerfG Beschluss v. - 2 BvR 1361/05

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 2 Abs. 2; GG Art. 3 Abs. 1

Instanzenzug: OLG Bamberg 2 Ss 78/05 vom LG Hof 4 Ns 292 Js 184/02 vom

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

I.

1. Der 1973 in Afrika geborene Beschwerdeführer, der behauptet, sudanesischer Staatsangehöriger zu sein, hält sich seit seiner Einreise im Oktober 1998, bei der er keinen Pass bei sich führte, in der Bundesrepublik Deutschland auf. Sein Asylantrag wurde am bestandskräftig abgelehnt; seitdem ist er vollziehbar ausreisepflichtig.

Vom bis befand sich der Beschwerdeführer in Abschiebehaft, seine Abschiebung scheiterte aber am Fehlen von Identitätspapieren. Im Herbst 1999 war er der Botschaft der Republik Sudan vorgeführt worden. Der dortige Bearbeiter hatte festgestellt, dass es sich bei dem Beschwerdeführer um keinen sudanesischen Staatsbürger handele, weil er in dem Gespräch keine Angaben zu seiner vorgeblichen Heimat habe machen können. Botschaften mehrerer weiterer afrikanischer Staaten hatten sich nach Gesprächen mit dem Beschwerdeführer aus ähnlichen Gründen geweigert, diesen als eigenen Staatsangehörigen anzuerkennen.

In der Folge hielt sich der Beschwerdeführer teils in einem Asylbewerberheim und teils an unbekannten Orten auf, zeitweise befand er sich auch in diesem und in anderen Verfahren in Untersuchungshaft. Seit Ende Oktober 2003 erhält er eine regelmäßig verlängerte ausländerrechtliche Duldung, ohne dass ihm die Ausländerbehörde die Duldungsbescheinigung zugleich als Ausweisersatz gemäß § 39 AuslG a.F. bzw. § 48 Abs. 2 AufenthG ausgestellt hat. Einen Antrag auf Erteilung eines Passes hat der Beschwerdeführer trotz entsprechender Aufforderungen der Ausländerbehörden nicht gestellt.

2. Nachdem das Bayerische Oberste Landesgericht (veröffentlicht in NStZ-RR 2005, S. 21) ein zuvor ergangenes freisprechendes Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen hatte, verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer wegen passlosen Aufenthalts nach § 92 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a.F. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten. Die Revision des Beschwerdeführers wurde vom Oberlandesgericht verworfen.

II.

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts. Er rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot. Er meint, sein Anspruch auf Erteilung einer Duldung schließe nicht nur einer Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG a.F., sondern auch nach § 92 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a.F. aus. Infolge seiner Duldung habe er einen Ausweisersatz gemäß § 39 AuslG a.F. beanspruchen können.

III.

Die zulässig erhobene Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

Eine Verletzung des - hier vorrangig zu prüfenden - Gleichheitssatzes in seiner Ausprägung als Willkürverbot ist nicht gegeben. Ein solcher Verstoß liegt nicht schon in einer fehlerhaften Rechtsanwendung. Hinzukommen muss vielmehr, dass diese bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 74, 102 <127>; stRspr). Dies ist hier nicht der Fall.

1. Das Landgericht und das Oberlandesgericht haben in ihren Entscheidungen die gesetzgeberische Konzeption des Ausländerrechts berücksichtigt, wonach ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer entweder unverzüglich abzuschieben oder nach § 55 Abs. 2 AuslG a.F. zu dulden ist (vgl. BVerfGK 1, 72 <79>). Dementsprechend haben sie die Verurteilung des Beschwerdeführers nicht mit einem unerlaubten Aufenthalt nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG a.F. begründet.

2. Die in den angegriffenen Entscheidungen vertretene Auffassung, die Systematik des Ausländerrechts lasse trotz Vorliegens der Duldungsvoraussetzungen eine Strafbarkeit wegen passlosen Aufenthalts nach § 92 Abs. 1 Nr. 2 AuslG zu, ist jedenfalls nicht unvertretbar.

a) Die Annahme, eine Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a.F. (Aufenthalt ohne Pass) sei möglich, ohne dass gleichzeitig ein unerlaubter Aufenthalt im Sinne des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG a.F. vorgelegen hat, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

aa) Der Gesetzgeber hat den passlosen Aufenthalt als strafwürdige Verhaltensweise definiert und ebenso wie andere Verstöße gegen das Ausländer- und Aufenthaltsrecht unter Strafe gestellt. Auch wenn sich die verschiedenen Formen strafbaren Handelns vielfach überschneiden, handelt es sich jeweils um selbständige Strafnormen. Stünde § 92 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a.F. unter dem Vorbehalt einer zugleich gegebenen Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts (§ 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG a.F.), bliebe die Norm ohne selbständigen Anwendungsbereich.

bb) Die Strafvorschrift des § 92 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a.F. verfolgt zudem einen von der Strafbewehrung des unerlaubten Aufenthalts abweichenden Schutzzweck. Die Norm sichert die Beachtung der in § 4 AuslG a.F. bzw. § 3 AufenthG als selbständige Verpflichtung ausgestalteten Passpflicht einschließlich der innerstaatlich zu erfüllenden Ausweispflicht, nämlich der Verpflichtung, sich während des Aufenthalts im Bundesgebiet in angemessener Frist ausweisen zu können (vgl. Jansen, ZAR 1998, S. 70 <75>). Dieses auch völkerrechtlich legitimierte Instrument dient eigenständigen, über die Frage des Aufenthaltsrechts hinausgehenden Zielen, nämlich der Feststellung von Identität, Nationalität und Rückkehrberechtigung des Ausländers in einen anderen Staat (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Oktober 1998, § 4 AuslG Rn. 11; Westphal, in: Huber, Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, Stand Juli 1999, § 4 AuslG Rn. 15 ff.; Funke-Kaiser, in: GK zum Ausländerrecht, Stand April 2005, § 3 AufenthG Rn. 14; Senge, in: Erbs-Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand April 1998, § 4 AuslG Rn. 2). Die Strafnorm sichert die Möglichkeit einer Identitätskontrolle (vgl. Leopold/Vallone, ZAR 2005, S. 66 <67>; Aurnhammer, Spezielles Ausländerstrafrecht, 1996, S. 78 ff.). Dementsprechend erstreckt sich die Pass- und Ausweispflicht auch auf Ausländer, die über einen Aufenthaltstitel oder -anspruch verfügen; auch diese können sich strafbar machen, wenn sie ihren Pass nach dessen Ablauf wissentlich nicht verlängern lassen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand April 2005, § 95 AufenthG Rn. 8 sowie für das alte Recht, Stand Oktober 1997, § 92 AuslG Rn. 27).

cc) Auch wenn man diese Pflicht als Obliegenheit begreifen wollte, die letztlich doch dazu dient, die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts zu sichern, lässt sich eine Abhängigkeit der Strafbewehrung vom Vorliegen der ausländerrechtlichen Duldungsvoraussetzungen nicht begründen. Denn in diesem Fall besteht gerade kein Aufenthaltsrecht des Betroffenen; die Duldung lässt die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht und damit das Gebot, innerhalb einer bestimmten Ausreisefrist das Bundesgebiet zu verlassen, unberührt. Das Recht zum Verweilen im Inland gründet allein darauf, dass der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht - ihrer Natur nach vorübergehende - Hindernisse entgegenstehen.

b) Die Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a.F. musste auch nicht deshalb entfallen, weil schon der bloße Duldungsanspruch dem Beschwerdeführer ein Recht auf Gewährung eines Ausweisersatzes nach § 39 Abs. 1 AuslG a.F. verliehen hätte. Ein solches Recht folgt insbesondere nicht daraus, dass eine Duldung nach § 55 AuslG a.F. unabhängig von dem Mitführen von Identitätspapieren bei der Einreise oder der Mitwirkung an der Beschaffung von nötigen Ausweispapieren zu erteilen ist.

aa) Zwar ist eine Strafbarkeit wegen passlosen Aufenthalts nach § 92 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a.F. auch dann ausgeschlossen, wenn der Ausländer über einen Ausweisersatz nach § 39 Abs. 1 AuslG a.F. bzw. § 48 Abs. 2 AufenthG oder einen Anspruch auf dessen Erteilung verfügt (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand April 2005, § 95 AufenthG Rn. 9). Die teilweise von der Rechtsprechung geteilte Ansicht (vgl. OLG Frankfurt, NStZ-RR 2003, S. 7; NStZ-RR 2003, S. 8 <9>; a.A. BayObLG, StV 2005, S. 213 mit zustimmender Anmerkung Kudlich), wer Anspruch auf eine Duldung habe, könne damit zugleich die Ausstellung eines Ausweisersatzes beanspruchen, ist verfassungsrechtlich jedoch nicht geboten.

Sie entspricht schon nicht den Regelungen des Ausländerrechts, denn eine Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) ist weder nach § 39 Abs. 1 AuslG a.F. noch nach neuem Recht (§ 48 Abs. 2 AufenthG) zwingend in Form eines Ausweisersatzes zu erteilen (vgl. Leopold/Vallone, ZAR 2005, S. 66 <68>). Das zeigt der Wortlaut dieser Normen, wonach die Ausstellung eines Ausweisersatzes voraussetzt, dass der Ausländer "einen Pass weder besitzt noch in zumutbarer Weise erlangen kann". Der Gesetzgeber hat den Anspruch auf Ausstellung eines Ersatzdokuments nicht allein vom Vorliegen der Duldungsvoraussetzungen abhängig machen wollen. Auf die nachrangige Möglichkeit der Ausstellung eines Ausweisersatzes durch deutsche Behörden kann vielmehr nur zurückgegriffen werden, wenn die eigene Beschaffung eines Passes für den Ausländer unzumutbar ist.

bb) Außerdem lässt das Recht, in der Bundesrepublik Deutschland verweilen zu dürfen, die Pass- und Ausweispflicht auch in sonstigen Fällen nicht entfallen. Selbst derjenige Ausländer, der über einen Aufenthaltstitel verfügt oder dessen Erteilung verlangen kann, hat sich, wie im Übrigen auch jeder Deutsche, um den Erhalt eines Passes zu bemühen (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 3 AuslG a.F. bzw. § 5 AufenthG). Dies muss aber erst Recht für jene Ausländer gelten, die keinen Aufenthaltstitel beanspruchen können, sondern nur ein schwächeres Recht auf Erteilung einer Duldung haben. Gegen deren generelle Befreiung von der Passpflicht spricht schon, dass die damit verfolgten Zwecke - Feststellung der Identität, Nationalität und Rückkehrberechtigung - gerade in Fällen, in denen etwa bereits die Einreise unter Vorgabe unzutreffenden Personalien erfolgte, besondere Relevanz erhalten. Vor diesem Hintergrund ist der Staat nicht gehalten, duldungsberechtigte Ausländer durch Ausstellung eines Ersatzdokuments stets von ihrer Ausweispflicht zu dispensieren. Von Verfassungs wegen ist es dem Gesetzgeber daher weder untersagt, die Gewährung eines Ausweisersatzes von der Voraussetzung abhängig zu machen, dass der Ausländer sich einen Pass nicht auf zumutbare Weise verschaffen kann, noch Verstöße gegen die Pass- und Ausweispflicht allgemein mit Strafe zu bedrohen.

c) Da es sich bei der Strafnorm des § 92 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a.F. um ein echtes Unterlassungsdelikt handelt, wäre eine Strafbarkeit jedoch - auch im Hinblick auf den Schuldgrundsatz und das Übermaßverbot - ausgeschlossen, wenn dem Ausländer im Falle seiner ausländerrechtlichen Duldung die Erfüllung seiner Pass- und Ausweispflicht unzumutbar wäre. Diese Schlussfolgerung haben die Fachgerichte hier jedoch willkürfrei nicht gezogen.

Insbesondere begründet das Vorliegen eines ausländerrechtlichen Duldungsanspruchs keine Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens. Eine Unzumutbarkeit folgt weder daraus, dass das den Duldungsanspruch des Beschwerdeführers begründende tatsächliche Abschiebungshindernis hier gerade auf dem Fehlen von Identitätspapieren beruht, noch daraus, dass die Ausstellung eines Passes die Abschiebung des Beschwerdeführers möglicherweise erleichtern würde. Denn die Duldung gewährt kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht, sondern lässt die (hier mit rechtskräftiger Ablehnung des Asylantrags begründete) Ausreisepflicht bestehen. Ob die Voraussetzungen für ein (dauerhaftes) Aufenthaltsrecht vorliegen, wird in einem rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahren umfassend geprüft, das richterlicher Kontrolle unterliegt. Gleiches gilt für die Frage, ob rechtliche Abschiebungshindernisse gegeben sind. Stehen der Ausreise hingegen lediglich tatsächliche Hindernisse entgegen, namentlich solche, die der Ausreisepflichtige selbst zu vertreten hat, wird ihm durch die Auferlegung (und strafrechtliche Durchsetzung) der Pass- und Ausweispflicht regelmäßig nichts Unzumutbares abverlangt. Der Ausreisepflichtige kann nicht beanspruchen, dass der Staat die Durchsetzung der Ausreisepflicht unterlässt, ihn von weiteren aufenthaltsrechtlichen Verpflichtungen freistellt oder deren Verletzung nicht sanktioniert.

d) Einer strafrechtlichen Ahndung steht verfassungsrechtlich auch keine vorrangige Verantwortlichkeit der Verwaltungsbehörde entgegen. Insbesondere steht die Entscheidung über die Strafbarkeit hier nicht in deren Belieben. Vielmehr hat es der Betroffene selbst in der Hand, durch ein ihm zumutbares Verhalten einen Anspruch auf Erteilung eines Ausweisersatzes zu erlangen und damit eine strafrechtliche Sanktionierung auszuschließen.

e) Die angegriffenen Entscheidungen lassen auch im Übrigen keine willkürliche Sachbehandlung erkennen.

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

IV.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
NJW 2006 S. 681 Nr. 10
EAAAB-86591