BVerfG Beschluss v. - 1 BvL 9/89

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 14 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1; GG Art. 100 Abs. 1; RVO § 1246; RVO § 1247; RVO § 1246 Abs. 2 a; RVO § 1246 Abs. 2 a Satz 1; BVerfGG § 81 a; BVerfGG § 80 Abs. 2 Satz 1; ArVNG § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2;

Gründe

Die Vorlage betrifft die Frage, ob die durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 bewirkte Verschärfung der gesetzlichen Voraussetzungen für den Bezug von Renten wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit in der Arbeiterrentenversicherung verfassungsgemäß sind, soweit sie Strafgefangene betrifft.

I.

1. Seit dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter (Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz - ArVNG) vom (BGBl I S. 45) konnten Versicherte Renten wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit erhalten, wenn der Versicherungsfall eingetreten und die Wartezeit erfüllt war. § 1246 Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung des ArVNG lautete:

(1) Rente wegen Berufsunfähigkeit erhält der Versicherte, der berufsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist.

(2) ...

(3) Die Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit ist erfüllt, wenn vor Eintritt der Berufsunfähigkeit eine Versicherungszeit von sechzig Kalendermonaten zurückgelegt ist.

(4) ...

Entsprechende Regelungen für den Fall der Erwerbsunfähigkeit enthielt § 1247 RVO in der Fassung des ArVNG.

Seit dem ist der Bezug von Renten wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit erschwert. Durch Art. 1 Nr. 32 des Gesetzes über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte und zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sowie über die Verlängerung der Investitionshilfeabgabe (Haushaltsbegleitgesetz 1984) vom (BGBl I S. 1532) wurde § 1246 Abs. 1 RVO geändert. Danach wird die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente zusätzlich davon abhängig gemacht, dass der Versicherte zuletzt vor Eintritt der Berufsunfähigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat. Unter welchen Voraussetzungen dies der Fall ist, regelt der neue Absatz 2 a des § 1246 RVO. § 1246 Abs. 1 und 2 a Satz 1 RVO in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 hat folgenden Wortlaut:

(1) Rente wegen Berufsunfähigkeit erhält der Versicherte, der berufsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der Berufsunfähigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist.

(2 a) Zuletzt vor Eintritt der Berufsunfähigkeit ist eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt worden, wenn

1. von den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt der Berufsunfähigkeit mindestens 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind oder

2. ...

§ 1247 RVO wurde in entsprechender Weise geändert.

Für diejenigen Versicherten, die vor dem bereits die Wartezeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hatten, sieht das Haushaltsbegleitgesetz 1984 Übergangsregelungen vor. Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG in der Fassung des Art. 4 Nr. 4 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 bestimmt, soweit hier von Bedeutung:

§ 1246 Abs. 1 sowie § 1247 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung in der am geltenden Fassung gelten auch für Versicherungsfälle nach diesem Zeitpunkt, wenn der Versicherte

1. vor dem eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hat und

2. jeden Kalendermonat in der Zeit vom bis zum Ende des Kalenderjahres vor Eintritt des Versicherungsfalls mit Beiträgen oder den bei der Ermittlung der 60 Kalendermonate nach § 1246 Abs. 2 a der Reichsversicherungsordnung nicht mitzuzählenden Zeiten belegt hat.

2. Der am verstorbene Kläger des Ausgangsverfahrens hatte vor dem die Wartezeit von 60 Kalendermonaten erfüllt. Er verbüßte vom bis zum eine Freiheitsstrafe. In dieser Zeit wurden keine freiwilligen Beiträge zur Aufrechterhaltung seiner Rentenanwartschaft gezahlt. Seinen 1988 gestellten Antrag auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit lehnte die Beklagte des Ausgangsverfahrens ab. Der seit dem erwerbsunfähige Kläger habe innerhalb des maßgebenden 60-Monatszeitraumes vom bis zum nicht mindestens 36, sondern lediglich 23 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen zurückgelegt. Auch sei in der Zeit vom bis zum nicht jeder Kalendermonat mit Beiträgen oder gleichgestellten Zeiten belegt.

3. Das Sozialgericht hat das Verfahren über die hiergegen erhobene Klage ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 1247 Abs. 2 a in Verbindung mit § 1246 Abs. 2 a RVO und Art. 2 § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ArVNG in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar sind, als Zeiten der Freiheitsentziehung bei Strafgefangenen bei der Ermittlung der Rahmenfrist von 60 Kalendermonaten auch dann mitgezählt werden, wenn diese vor und nach der Freiheitsentziehung rentenversicherungspflichtig beschäftigt oder bei einem inländischen Arbeitsamt als Arbeit Suchende gemeldet waren, und Strafgefangene daher übergangsrechtlich zur Erhaltung ihrer Anwartschaft auf eine Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung für Zeiten der Freiheitsentziehung entrichten müssen.

Zur Begründung führt das Sozialgericht aus, die Vorschriften verletzten die Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die zur Anwartschaftserhaltung notwendige Zahlung freiwilliger Beiträge stelle für Strafgefangene eine unzumutbare Belastung dar. Im Unterschied zu anderen Versicherten, insbesondere zu den von der Neugestaltung des Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrentenrechts besonders betroffenen Personengruppen der Beamten, Selbständigen und im Haushalt Tätigen seien Strafgefangene während der Haftzeit gehindert, einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit nachzugehen und die notwendigen finanziellen Mittel zu erwirtschaften. Die Erschwerung des Bezugs von Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten treffe Strafgefangene in besonderem Maße, weil sich deren wirtschaftliche Situation durch die Inhaftierung regelmäßig verschlechtere und weder sie noch ihre Familien über ausreichende Geldmittel zur Aufrechterhaltung der Rentenanwartschaften verfügten. Das Erfordernis der freiwilligen Beitragsentrichtung komme deshalb faktisch einem Entzug der Rentenanwartschaften gleich. Der Vorlage stehe nicht der (BVerfGE 75, 78) entgegen. Die in dieser Entscheidung festgestellte Vereinbarkeit der zur Prüfung gestellten Regelungen mit Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG beziehe sich auf Selbständige, Beamte sowie Hausfrauen und damit ausnahmslos auf Angehörige von Personengruppen, die freiwillig den Kreis der Arbeitnehmer verlassen hätten.

II.

Die Vorlage ist unzulässig.

1. Ein Gericht kann die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat. Dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genügt ein Vorlagebeschluss daher nur dann, wenn die Ausführungen des Gerichts erkennen lassen, dass es eine solche Prüfung vorgenommen hat (vgl. BVerfGE 86, 71 <76 f.>). Das Gericht hat nicht nur darzulegen, dass seine Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm abhängt (vgl. BVerfGE 97, 49 <60>), sondern auch die für seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit dieser Norm maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar aufzuzeigen und sich dabei mit nahe liegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten auseinander zu setzen (vgl. BVerfGE 86, 52 <57>). Der Vorlagebeschluss muss auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingehen und die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der zur Prüfung vorgelegten Norm von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 79, 240 <243 f.>; 86, 71 <77 f.>; 97, 49 <60>; stRspr).

2. Diesen Anforderungen wird die Vorlage nicht gerecht.

a) Es bestehen Bedenken, ob das Sozialgericht die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Frage hinreichend begründet hat. Der Vorlagebeschluss muss erkennen lassen, dass das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift zu einem anderen Ergebnis gelangen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit und wie es dieses Ergebnis begründen würde (vgl. BVerfGE 83, 111 <116>). Das Sozialgericht ist offensichtlich davon ausgegangen, dass die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug der Erwerbsunfähigkeitsrente erfüllt wären, wenn für die Dauer des Freiheitsentzugs vom bis zum auf das nach seiner Ansicht verfassungswidrige Erfordernis der Zahlung freiwilliger Beiträge verzichtet würde. Im Zusammenhang mit der möglichen Begründetheit der Klage ist es aber nur unzureichend auf die im Anschluss an den Freiheitsentzug zurückgelegten Versicherungszeiten eingegangen. Art. 2 § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ArVNG setzt voraus, dass jeder Kalendermonat vom bis zum Ende des Kalenderjahres vor Eintritt des Versicherungsfalls (hier und nicht ) mit Beiträgen oder den nach § 1246 Abs. 2 a RVO nicht mitzuzählenden Zeiten belegt ist. Für den Monat April 1986 weist der Versicherungsverlauf vom eine Lücke auf. Hierzu enthält der Vorlagebeschluss keine Ausführungen.

b) Diese Bedenken können jedoch auf sich beruhen. Denn das Sozialgericht hat sich jedenfalls nicht in genügender Weise mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und derjenigen des Bundessozialgerichts auseinander gesetzt.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom die Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Renten wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 verfassungsrechtlich geprüft und die unmittelbar gegen die Bestimmungen dieses Gesetzes erhobenen Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen. In den Gründen ist ausgeführt, § 1246 Abs. 1 und 2 a sowie § 1247 Abs. 1 und 2 a RVO seien mit Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, soweit nach Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG Versicherte, die vor dem eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt haben, ihre Rentenanwartschaften nur durch Weiterzahlung von Beiträgen aufrechterhalten können (vgl. BVerfGE 75, 78 <96>). Das Bundessozialgericht ist in seinem Urteil vom (BSG, NJW 1989, S. 190) in Auseinandersetzung mit dem davon ausgegangen, dass die spezifische Situation eines Strafgefangenen, den die Obliegenheit zur Weiterzahlung von Beiträgen während der Dauer seiner Strafhaft trifft, keine abweichende Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der bezeichneten Bestimmungen rechtfertige.

Hat sich das Bundesverfassungsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit der vorgelegten Normen bereits befasst, sind an die Begründung der Vorlage erhöhte Anforderungen zu stellen. Das vorlegende Gericht hat von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auszugehen und darzulegen, inwiefern eine erneute Überprüfung geboten ist. Das Sozialgericht hätte sich daher zunächst eingehend mit der entgegenstehenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auseinander setzen und deutlich machen müssen, aus welchen Gründen die Entscheidung vom sich nicht auf Strafgefangene, die bis zum die Wartezeit erfüllt hatten, erstreckt und die Besonderheiten dieses Personenkreises eine verfassungsrechtliche Überprüfung der in Frage stehenden Vorschriften nahe legen. Dies ist hier nicht in der gebotenen Weise geschehen.

aa) Das Sozialgericht vertritt die Auffassung, die Anwendung der zur Prüfung gestellten Vorschriften auf Strafgefangene bedürfe deshalb einer Beurteilung der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz, weil diese unfreiwillig das Erwerbsleben verließen und sich als Folge des Freiheitsentzugs in einer besonderen wirtschaftlichen Situation befänden. Es legt aber nicht nachvollziehbar dar, weshalb die Entscheidung des nur Personen betrifft, die freiwillig den Kreis der gesetzlich Versicherten verlassen haben. Eine solche Einschränkung ist den Gründen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls explizit nicht zu entnehmen.

bb) Soweit das Sozialgericht auf das finanzielle Unvermögen von Strafgefangenen zur Zahlung anwartschaftserhaltender Beiträge abstellt, wäre zu erörtern gewesen, ob die Leistungsfähigkeit der von der Gesetzesänderung betroffenen Personen vorliegend überhaupt als Kriterium für eine Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit in Betracht kommt. Zu entsprechenden Ausführungen hätte Anlass bestanden, weil sich das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der Zumutbarkeit der Beitragsbelastung weder an den individuellen finanziellen Verhältnissen eines einzelnen Versicherten noch an einer abgrenzbaren, durch bestimmte Eigenschaften nicht versicherungsrechtlicher Art charakterisierten Personengruppe orientiert hat. Es ist vielmehr allgemein von Versicherungsverhältnissen im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 ausgegangen und hat bei der Prüfung der Zumutbarkeit nur zwischen Versicherten mit kurzen und solchen mit längeren Versicherungszeiten unterschieden.

c) Das vorlegende Gericht hat auch nicht hinreichend seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Normen begründet. Es fehlt an der gebotenen Auseinandersetzung mit der Frage der Zumutbarkeit des gesetzgeberischen Eingriffs (vgl. BVerfGE 80, 297 <312>; 90, 145 <173>).

Ob sich die Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in den Grenzen des Zumutbaren hält, hat das Sozialgericht zwar zutreffend im Hinblick auf die finanzielle Belastung sowie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Strafgefangenen geprüft. Es hat aber im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nicht erörtert, ob der ohne Beitragszahlung eintretende Anwartschaftsverlust in der Person des Strafgefangenen gerechtfertigt sein könnte, weil er aus ihm zurechenbaren Umständen gehindert ist, eine versicherungspflichtige Beschäftigung fortzusetzen oder aufzunehmen.

Fundstelle(n):
QAAAB-85080