BFH Beschluss v. - VI B 99/05

Instanzenzug: ,Ki

Gründe

Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

1. Der Kläger rügt, das Finanzgericht (FG) habe zu Unrecht ein Prozessurteil anstelle eines Sachurteils erlassen. Diese Verfahrensrüge (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO; vgl. hierzu auch Bundesfinanzhof —BFH—, Beschlüsse vom IV B 38/02, BFH/NV 2003, 1602; vom IV B 32/01, BFH/NV 2002, 927; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 115 Rz. 78, 80; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 115 FGO Tz. 88, jeweils m.w.N.) ist begründet.

2. Das FG hat die Klage wegen Fristversäumung als unzulässig abgewiesen. Es stützte seine Rechtsauffassung maßgeblich darauf, die Klage sei beim Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) nicht rechtzeitig „angebracht” (§ 47 Abs. 2 Satz 1 FGO) worden; aus den Gesamtumständen sei davon auszugehen, dass ein „Anbringen” nicht beabsichtigt gewesen sei und für das FA keine Notwendigkeit bestanden habe, die ihm lediglich zur Kenntnis übermittelte Klageschrift an das FG weiterzuleiten. Dieser Auffassung ist nicht zu folgen.

a) Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat die Klageschrift im Original zusammen mit einem an das FA adressierten (und mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung verbundenen) Begleitschreiben innerhalb der Klagefrist dem FA übersandt. Zur Begründung seines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung hat der Kläger erkennbar (und sinnvollerweise) Bezug auf die zeitgleich vorgelegte Klagebegründung genommen. Der vom Prozessbevollmächtigten unterzeichneten Klageschrift waren der einschlägige Steuerbescheid und die Einspruchsentscheidung (jeweils als Kopie) beigefügt. Wie sich überdies aus dem Schreiben des FA vom , mit dem die Klageschrift schließlich an das FG weitergeleitet wurde, ergibt, hatte der Prozessbevollmächtigte dem Klageschriftsatz —entgegen der Annahme des FG— zudem „Ausfertigungen” (offenbar der Klageschrift) bzw. fünf Anlagen beigefügt. Die Klageschrift ist überdies an das FG als Erklärungsempfänger (vgl. § 64 Abs. 1 FGO) gerichtet.

Angesichts dieser Umstände ist die Klage rechtzeitig beim FA „angebracht” worden (zum Begriff des Anbringens i.S. des § 47 Abs. 2 Satz 1 FGO: , BFHE 177, 237, BStBl II 1995, 601; vom III R 99/96, BFH/NV 1997, 508; vom III R 69/97, BFH/NV 2001, 784; Beschluss vom I B 80/96, BFH/NV 1997, 675). Entgegen der Auffassung des FG lag eindeutig ein für das FG bestimmtes Schriftstück vor (siehe hierzu Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 47 FGO Rz. 150 ff., 155, m.w.N.). Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich —wie das FA in seinem Schreiben vom meinte— nur um eine ihm nachrichtlich übermittelte Leseabschrift handelte.

b) Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus dem Begleitschreiben des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom , in welchem dieser beim FA (zugleich) einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim FA eingereicht und überdies angeführt hat: „mit gleicher Post habe ich beim FG Klage wegen der ablehnenden Einspruchsentscheidung erhoben”.

Der Senat vermag dem FG nicht darin beizupflichten, ein „Anbringen” der Klage i.S. des § 47 Abs. 2 Satz 1 FGO sei nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des Anschreibens offensichtlich nicht beabsichtigt gewesen. Allenfalls mag das Begleitschreiben —für sich gesehen— mehrdeutig gewesen sein. Selbst wenn dies unterstellt wird, war das FA angesichts der Gesamtumstände des Streitfalles jedenfalls gehalten, etwaige Zweifel am Vorliegen einer Klage durch Rückfrage beim Prozessbevollmächtigten des Klägers auszuräumen (vgl. auch , BFH/NV 1998, 6, 7). Dies ist indessen nicht geschehen.

c) Im Übrigen entspricht es ständiger Rechtsprechung des BFH, dass das Anbringen einer Klage (§ 47 Abs. 2 Satz 1 FGO) als Prozesshandlung in gleicher Weise wie bürgerlich-rechtliche Willenserklärungen der Auslegung zugänglich ist (, BFH/NV 1999, 633). Dabei ist nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften; vielmehr ist der in der Erklärung verkörperte Wille anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln. Der Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung gebietet Prozesserklärungen so auszulegen, dass im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (BFH-Beschlüsse vom XI B 206/04, BFH/NV 2006, 68; vom XI B 189/04, BFH/NV 2005, 1608; Urteil vom VI R 37/94, BFH/NV 1997, 363). Auch dies hat das FG verkannt.

3. Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat der Kläger fristgerecht Klage (durch Anbringung beim FA) erhoben. Der Irrtum des FA über die Weiterleitung der Klageschrift (§ 47 Abs. 2 Satz 2 FGO) kann dem Kläger nicht zur Last gelegt werden.

4. Das Urteil des FG war demnach aufzuheben und der Rechtsstreit an das FG (Vollsenat) zurückzuverweisen. Das FG erhält hierdurch Gelegenheit, nunmehr in der Sache zu entscheiden.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
BB 2006 S. 2165 Nr. 40
BFH/NV 2006 S. 1118 Nr. 6
YAAAB-82510