Sachliche Unbilligkeit bei Einbeziehung von nichtsozialversicherungspflichtigem Arbeitslohn in die Bemessungsgrundlage für die Kürzung des Vorwegabzugs
Leitsatz
Ist die ganzjährige nichtselbständige Tätigkeit eines Steuerpflichtigen nur während eines Teils des Jahres als sozialversicherungspflichtig einzustufen und sind deshalb nur während des sozialversicherungspflichtigen Zeitraums Zukunftssicherungsleistungen durch den Arbeitgeber erbracht worden, ist die Einbeziehung des nicht sozialversicherungspflichtigen Teils des Arbeitslohns in die Bemessungsgrundlage für die Kürzung des Vorwegabzugs gem. § 10 Abs. 3 Satz 2 Buchst. a EStG sachlich unbillig im Sinne des § 163 Satz 1 AO.
Gesetze: AO § 163,EStG § 10 Abs. 3
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Ingenieur. Im Streitjahr 2001 war er als Geschäftsführer der W-Gesellschaft mbH (GmbH) tätig, an der er mit 20 v.H. beteiligt ist. Eine versicherungsrechtliche Beurteilung seiner Geschäftsführertätigkeit durch die Betriebskrankenkasse (BKK) führte zu dem Ergebnis, dass das Beschäftigungsverhältnis seit dem nicht als sozialversicherungspflichtig anzusehen ist. Die GmbH hat für den Kläger deshalb lediglich im Januar 2001 auf ein Gehalt von 6 190 DM Sozialversicherungsbeiträge abgeführt.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) kürzte bei der Einkommensteuerveranlagung des Klägers den Vorwegabzug im Rahmen der Vorsorgeaufwendungen in voller Höhe, weil es die gesamten Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit, die der Kläger im Veranlagungszeitraum 2001 bezogen hatte, in die Bemessungsgrundlage für die Kürzung des Vorwegabzugs einbezog. Die gegen den Einkommensteuerbescheid 2001 eingelegte Klage, mit der er geltend gemacht hatte, den Vorwegabzug lediglich um 16 v.H. von 6 190 DM zu kürzen, nahm der Kläger im Hinblick auf das (BFHE 200, 548, BStBl II 2003, 288) zurück.
Parallel zum Einspruchsverfahren gegen die Einkommensteuerfestsetzung 2001 beantragte der Kläger, die Einkommensteuer aus Billigkeitsgründen nach § 163 der Abgabenordnung (AO 1977) in der Weise festzusetzen, dass der Vorwegabzug bei den Sonderausgaben lediglich um 990 DM (= 16 v.H. von 6 190 DM) auf 5 010 DM gekürzt wird. Zur Begründung verwies er auf das BFH-Urteil in BFHE 200, 548, BStBl II 2003, 288, wonach Besonderheiten im Einzelfall bei einer nicht ganzjährigen sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit allenfalls im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO 1977 Berücksichtigung finden könnten.
Das FA lehnte den Antrag ab und wies den Einspruch als unbegründet zurück. Das Finanzgericht (FG) gab der dagegen eingelegten Klage statt. Es verpflichtete das FA, die Einkommensteuer 2001 antragsgemäß nach § 163 Satz 1 AO 1977 niedriger festzusetzen, weil es die Voraussetzungen für einen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen für gegeben sah. Eine unbeschränkte Kürzung des Vorwegabzugs entspreche im Streitfall nicht dem erklärten Willen des Gesetzgebers. Die Vorstellungen des Gesetzgebers, bei nur zeitweiser sozialversicherungspflichtiger Tätigkeit falle die Kürzung des Vorwegabzugs aufgrund eines verringerten Arbeitslohns ohnehin niedriger aus, würden hier nicht zutreffen. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BFH in BFHE 200, 548, BStBl II 2003, 288) sei deshalb die hier vorliegende Besonderheit, dass zwar ganzjährig Arbeitslohn bezogen worden sei, dieser jedoch nur im ersten Monat sozialversicherungspflichtig gewesen sei, im Wege einer Billigkeitsmaßnahme zu korrigieren.
Dagegen wendet sich das FA mit seiner Revision, zu deren Begründung es im Wesentlichen vorträgt: Das FG ziehe aus der angeführten BFH-Entscheidung zu Unrecht den Schluss, dass bei Benachteiligungen aus der pauschalierenden Regelung des § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. des Gesetzes zur Bekämpfung des Missbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts vom 21. Dezember 1993 (StMBG) grundsätzlich die Voraussetzung für eine sachliche Unbilligkeit nach § 163 AO 1977 vorliegen würde. Der gewollten typisierenden und pauschalierenden Regelung der Kürzung des Vorwegabzugs müssten sich auch Steuerpflichtige unterwerfen, bei denen sich die Pauschalierung nachteilig auswirke, etwa weil sie nur während eines Teils des Jahres Zukunftssicherungsleistungen i.S. des § 3 Nr. 62 EStG erbracht hätten. Es würde dem Willen des Gesetzgebers widersprechen, wenn eine verfassungsrechtlich unbedenkliche pauschalierende Regelung im Billigkeitsverfahren unter dem Gesichtspunkt der Einzelfallgerechtigkeit anderweitig beurteilt würde. Eine Billigkeitsmaßnahme wegen sachlicher Unbilligkeit komme deshalb nicht in Betracht.
Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision des FA ist unbegründet.
Das FG hat das FA zu Recht verpflichtet, bei der Einkommensteuerveranlagung 2001 des Klägers den Vorwegabzug lediglich um 990 DM zu kürzen.
1. Nach § 163 Satz 1 AO 1977 können Steuern niedriger festgesetzt werden, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Dabei handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des FA, bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff der Unbilligkeit bestimmt werden (vgl. Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Die Entscheidung darf gerichtlich (nur) daraufhin überprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. § 102 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Gleichwohl kann das FG ausnahmsweise eine Verpflichtung des FA zum Erlass aussprechen (vgl. § 101 FGO), wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, dass nur eine Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (vgl. zur sog. Ermessensreduzierung auf Null: , BFHE 168, 500, BStBl II 1993, 3). Das war hier der Fall.
2. Das FG hat —im Gegensatz zum FA— zu Recht angenommen, dass eine Festsetzung der Einkommensteuer unter voller Kürzung des Vorwegabzugs im Streitfall eine sachliche Unbilligkeit darstellen würde.
Sachlich unbillig ist die Festsetzung einer Steuer vor allem dann, wenn sie zwar dem Tatbestand des Gesetzes entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Einzelfall zuwider läuft. Dies ist dann anzunehmen, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers davon ausgegangen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage —hätte er sie geregelt— im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (vgl. , BFHE 174, 482, BStBl II 1994, 833, m.w.N.). Ein derartiger Gesetzesüberhang liegt hier vor.
a) Nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a EStG ist der Vorwegabzug um 16 v.H. der Summe der Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit zu kürzen, wenn für die Zukunftssicherung des Steuerpflichtigen Leistungen i.S. des § 3 Nr. 62 EStG erbracht werden. Dieser Wortlaut ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats so zu verstehen, dass es nicht darauf ankommt, ob der Arbeitgeber während des gesamten Veranlagungszeitraums derartige Leistungen erbracht hat. Vielmehr ist der Vorwegabzug auch dann zu kürzen, wenn während des Veranlagungszeitraums nur zeitweise Zukunftssicherungsleistungen durch den Arbeitgeber erbracht worden sind (vgl. Senatsurteil in BFHE 200, 548, BStBl II 2003, 288).
b) Bei der Einführung der typisierenden und pauschalierenden Regelung in § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a EStG durch das StMBG vom hatte der Gesetzgeber die Vorstellung, dass bei einer nur zeitweisen sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit die Kürzung des Vorwegabzugs wegen des dann verringerten Bezugs von Arbeitslohn stets niedriger ausfallen würde (vgl. bereits Senatsurteil in BFHE 200, 548, BStBl II 2003, 288). Dies trifft indes auf solche Fälle nicht zu, in denen —wie im Streitfall— die ganzjährige nichtselbständige Tätigkeit eines Steuerpflichtigen nur während eines Teils des Jahres als sozialversicherungspflichtig einzustufen ist und deshalb nur während des sozialversicherungspflichtigen Zeitraums Zukunftssicherungsleistungen erbracht worden sind. Aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber die Vorstellung hatte, eine nur während eines Teils des Jahres bestehende Sozialversicherungspflicht eines Arbeitsverhältnisses resultiere stets aus der Beendigung dieses Arbeitsverhältnisses, und diese unzutreffende Vorstellung auch in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebracht hat (vgl. BTDrucks 12/5764 S. 19), geht für den erkennenden Senat hinreichend klar hervor, dass der Gesetzgeber aus diesem Grund eine Regelung nicht für erforderlich gehalten hat, nach der in die Bemessungsgrundlage für die pauschale Kürzung des Vorwegabzugs nur ein sozialversicherungspflichtiger Arbeitslohn einzubeziehen ist.
Daraus folgt zugleich die Ermessensreduzierung auf Null. Hat der Gesetzgeber erkennbar eine zeitanteilige Berechnung des Kürzungsbetrages für entbehrlich gehalten, weil bei geringem Arbeitslohn infolge nur kurzzeitiger Beschäftigung die Bemessungsgrundlage für die Kürzung des Vorwegabzugs ohnehin niedriger ist und ist nach oben Gesagtem die Einbeziehung nicht sozialversicherungspflichtigen Arbeitslohns sachlich unbillig, kann Rechtsfolge des § 163 AO 1977 nur die Außerachtlassung des nicht sozialversicherungspflichtigen Arbeitslohns sein.
c) Der Kläger hat während des gesamten Streitjahres aus seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der GmbH Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit bezogen. Da diese Tätigkeit allerdings aufgrund einer versicherungsrechtlichen Beurteilung der BKK ab dem als nicht sozialversicherungspflichtig eingestuft wurde, weil der Kläger an der GmbH beteiligt war und deshalb deren Geschicke maßgeblich beeinflussen konnte, hat die GmbH lediglich für den Monat Januar auf ein Gehalt von 6 190 DM Sozialversicherungsbeiträge abgeführt. Eine Einbeziehung auch des nicht sozialversicherungspflichtigen Teils der Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit in die Bemessungsgrundlage für die Kürzung des Vorwegabzugs entspricht in einem derartigen Fall zwar dem Wortlaut der gesetzlichen Regelung in § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a EStG, widerspricht allerdings —wie oben dargestellt— den Wertungen des Gesetzgebers. Die Erhebung der Einkommensteuer unter voller Kürzung des Vorwegabzugs würde damit eine sachliche Unbilligkeit darstellen. Bei der Festsetzung der Einkommensteuer darf das FA deshalb den dem Kläger zustehenden Vorwegabzug von 6 000 DM lediglich —wie vom FG entschieden— um 990 DM (16 v.H. aus 6 190 DM) kürzen.
d) Dieses Ergebnis wird durch die folgende Überlegung gestützt: Hätte der Kläger nicht aus lediglich einem (durchgehenden) Arbeitsverhältnis sowohl sozialversicherungspflichtige als auch nicht sozialversicherungspflichtige Einnahmen bezogen, sondern hätte er nach dem Monat Januar 2001 den Arbeitgeber gewechselt und von diesem Zeitpunkt an als Gesellschafter-Geschäftsführer nicht sozialversicherungspflichtige Einnahmen bezogen, hätten die Einnahmen aus dem zweiten Arbeitsverhältnis bei der Kürzung des Vorwegabzugs nicht berücksichtigt werden dürfen. Denn wie der Senat in seinen Urteilen vom XI R 54/03 (BFHE 205, 442, BStBl II 2004, 720) und vom XI R 11/03 (BFHE 204, 461, BStBl II 2004, 709) dargelegt hat, sind bei mehreren Beschäftigungsverhältnissen eines Steuerpflichtigen und bei unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen von zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Ehegatten nur die Einnahmen aus solchen Beschäftigungsverhältnissen in die Bemessungsgrundlage für die Kürzung des (bei Ehegatten: gemeinsamen) Vorwegabzugs einzubeziehen, in deren Zusammenhang der Arbeitgeber Zukunftssicherungsleistungen i.S. des § 3 Nr. 62 EStG erbracht hat.
e) Entgegen der Auffassung des FA kann eine Billigkeitsmaßnahme im Streitfall nicht mit der Begründung versagt werden, dass der Gesetzgeber mit der Einführung der typisierenden und pauschalierenden Regelung in § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a EStG systembedingte Härten bewusst in Kauf genommen habe. Auch wenn —wie hier— eine Vorschrift in ihren generalisierenden Wirkungen verfassunsgemäß ist, kann eine Billigkeitsmaßnahme aus Gründen der Belastungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes) dann geboten sein, wenn die Anwendung dieser Vorschrift im Einzelfall zu einer sachwidrigen Härte führt (vgl. , Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1995, 220).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2006 S. 943 Nr. 5
HFR 2006 S. 476 Nr. 5
NWB-Eilnachricht Nr. 22/2006 S. 1833
NWB-Eilnachricht Nr. 28/2006 S. 8
NWB-Eilnachricht Nr. 37/2006 S. 3107
SAAAB-80098