BFH Beschluss v. - III B 117/05

Anspruch auf Kindergeld für ein suchtkrankes, volljähriges Kind

Gesetze: EStG § 32 Abs. 4, EStG § 62, EStG § 63

Instanzenzug:

Gründe

I. Der am…1982 geborene Sohn der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) Z brach seine Berufsausbildung im März 2001 ab.

Seit April 2001 befand er sich in der Jugendanstalt A in Haft, wo er bis zum an einem Grundbildungslehrgang teilnahm. Ab dem war er bis zu seiner Haftentlassung am in der Jugendanstalt B untergebracht.

Unmittelbar im Anschluss daran wurde Z zur Behandlung seiner Suchterkrankung stationär in eine Fachklinik aufgenommen, wo er bis zum vorzeitigen Ende der Behandlung am blieb.

Mit Bescheid vom hob die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung für Z ab Januar 2002 auf. Nachdem Z sich ab Oktober 2002 wieder als arbeitssuchend gemeldet hatte, gewährte die Familienkasse Kindergeld für die Zeit ab Oktober 2002.

Der Einspruch gegen den Aufhebungsbescheid blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage, mit der die Klägerin wegen der Schwerbehinderung ihres Sohnes Kindergeld für die Zeit von Januar bis September 2002 begehrte, als unbegründet ab. In seinem Urteil, das im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung erging, bezieht es sich im Wesentlichen auf den während des Klageverfahrens übermittelten ärztlichen Entlassungsbericht, aus dem hervorgehe, dass Z bei fortgesetzter Suchtmittelabstinenz aus medizinischer Sicht seine Lehre als…„vollschichtig” fortsetzen könne. Daher sei Z trotz seiner Suchterkrankung nicht als behindert i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) anzusehen.

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin die Verletzung der Sachaufklärungspflicht durch das FG als Verfahrensfehler nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO geltend.

Die Klägerin führt aus, die Behinderung ihres Sohnes könne auch auf andere Weise als durch Vorlage eines Schwerbehindertenausweises oder eines Bescheides über die Anerkennung der Schwerbehinderung nachgewiesen werden. Die Behinderung ergebe sich u.a. aus dem vorgelegten ärztlichen Gutachten. Ein Suchtkranker, der sich nicht ohne fremde Hilfe versorgen könne, sei außerstande, sich selbst zu unterhalten. Zwar habe sie die Einholung eines Sachverständigengutachtens entsprechend dem Beweisbeschluss des FG zur Art der Behinderung und dem durch die Behinderung bewirkten Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit abgelehnt. Dies beruhe aber auf der Erwägung, dass die ärztliche Stellungnahme sich nur auf die Zeit habe beziehen sollen, in der ihr Sohn in Therapie gewesen sei. Das FG hätte aber jedenfalls die von ihr zur Vernehmung angebotenen, den Sohn der Klägerin behandelnden Personen als Zeugen vernehmen müssen. Hätte das Gericht dies getan, wäre es zu der Schlussfolgerung gelangt, dass Z im streitbefangenen Zeitraum schwerbehindert gewesen sei.

Der Rechtsstreit sei auch grundsätzlich bedeutsam, weil sich die Beantwortung der Frage, welche Anforderungen an eine Behinderung und deren Nachweis im Falle einer Drogensucht zu stellen seien, nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergebe. Die bisher vom Bundesfinanzhof (BFH) hierzu ergangene Rechtsprechung habe die Rechtsfrage noch nicht hinreichend geklärt, weil sie sich auf die allgemeine Feststellung beschränke, dass auch Suchtkrankheiten eine Behinderung darstellen könnten (Urteil vom VIII R 62/99, BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738). Einheitliche Kriterien zur Beurteilung dieser Rechtsfrage seien indes noch nicht aufgestellt worden.

II. Die Beschwerde ist unbegründet und wird daher zurückgewiesen (§ 132 FGO).

1. Das FG hat im Streitfall die ihm obliegende Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 FGO nicht verletzt, so dass kein Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO gegeben ist.

a) Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten.

Das Kind muss nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht nur behindert sein, vielmehr muss die Behinderung auch ursächlich für die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt sein. Davon ist nach zutreffender Auffassung der Verwaltung grundsätzlich auszugehen, wenn der Grad der Behinderung 50 v.H. oder mehr beträgt und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint. Die vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz” erlauben keine ausreichenden Feststellungen zu Beginn, Grad und Folgen einer Behinderung wegen Drogenabhängigkeit (BFH-Urteil in BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738, m.w.N.).

Der Nachweis der Behinderung kann dabei auch in anderer Form als durch Vorlage eines Schwerbehindertenausweises bzw. der in § 65 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung genannten Unterlagen geführt werden. Ein Anscheinsbeweis reicht indessen nicht aus. Das FG soll dabei im Regelfall zur Erfüllung seiner Sachaufklärungspflicht ein ärztliches Gutachten einholen oder entsprechende Erkenntnisse durch Einvernahme der behandelnden Ärzte als Zeugen gewinnen (BFH-Urteil in BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738).

b) Gemessen an diesen Rechtsgrundsätzen hat das FG im Streitfall nicht die ihm nach § 76 Abs. 1 FGO obliegende Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt.

Vielmehr hat es zutreffend auf Grundlage der eingereichten ärztlichen Zeugnisse —insbesondere des ärztlichen Entlassungsberichts der behandelnden Ärztin aus der Therapieeinrichtung— entschieden, dass Z im streitbefangenen Zeitraum nicht schwerbehindert i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG war.

Aus den den Senat bindenden Feststellungen des FG nach § 118 Abs. 2 FGO ist ersichtlich, dass die behandelnde Ärztin den Sohn der Klägerin bei seiner Entlassung als „vollschichtig” erwerbsfähig beurteilt hat. Da Z ausweislich des von ihr verfassten Entlassungsberichts bis zu dem vorzeitigen Ende der Therapie noch nicht von seiner Suchterkrankung geheilt war, bedeutet diese Feststellung zugleich, dass die fortbestehende Suchterkrankung noch nicht zu seiner Erwerbsunfähigkeit geführt hat. Mithin gehörte Z zum Zeitpunkt seiner Entlassung zu den Suchtkranken, deren Abhängigkeit ein bestimmtes Maß noch nicht überschritten hat und die deshalb durchaus nach wie vor die Fähigkeit besitzen, ihre Angelegenheiten so zu regeln, dass von einer Behinderung im Sinne des Gesetzes nicht gesprochen werden kann (BFH-Urteil in BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738).

Das FG war entgegen der Auffassung der Klägerin nicht verpflichtet, weitere Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts nach § 76 Abs. 1 FGO zu ergreifen. Insbesondere musste das FG kein —weiteres— medizinisches Sachverständigengutachten einholen, nachdem die Klägerin und ihr Sohn nach Ergehen des Beweisbeschlusses des FG die Erstellung eines Sachverständigengutachtens unter Verweigerung ihrer weiteren Mitwirkung verhindert hatten. Die dem FG obliegende Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts findet nämlich ihre Grenze, wenn die Beteiligten ihrerseits ihre Mitwirkungspflichten verletzen (§ 76 Abs. 1 Satz 2 FGO).

Die Klägerin ist in diesem Zusammenhang zu Unrecht davon ausgegangen, dass es zur Beurteilung der Behinderung i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ausschließlich auf eine während der Suchttherapie bestehende Erwerbsunfähigkeit aufgrund der Krankheit ankomme. Nach der Entscheidung des BFH im Urteil in BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738 ist eine Behinderung infolge einer Suchterkrankung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG indes nur zu bejahen, wenn ein Krankheitsstadium erreicht ist, das zu einer dauerhaften Erwerbsunfähigkeit führt. Dieses Stadium hat bei dem Sohn der Klägerin ausweislich des Entlassungsberichts der behandelnden Ärztin im streitbefangenen Zeitraum nicht vorgelegen. Die Klägerin und ihr Sohn haben mithin zu Unrecht ihre Mitwirkung an der Erstellung des nach Maßgabe des Beweisbeschlusses erbetenen weiteren ärztlichen Sachverständigengutachtens verweigert. Dies hat die entsprechende Einschränkung der Sachaufklärungspflicht des FG zur Folge.

Die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens war darüber hinaus auch deshalb entbehrlich, weil der dem FG vorliegende und von ihm zutreffend ausgewertete Entlassungsbericht in seinem Umfang und seinem Aussagegehalt einem eingeholten Sachverständigengutachten nahezu gleichkommt.

Das FG war deshalb auch nicht verpflichtet, ergänzend die von der Klägerin beantragten Zeugen zu vernehmen.

Zum einen stehen die Art und Weise der Beweiserhebung und vor allem auch die Auswahl der Beweismittel im Ermessen des Gerichts (Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 76 Rz. 21, m.w.N.).

Zum anderen hat die Klägerin ihre Beweisanträge zur Einvernahme der Zeugen insbesondere auch nach der Einreichung des ärztlichen Entlassungsberichts nicht mehr hinreichend konkretisiert und substantiiert. Dies wäre vor allem deshalb besonders angezeigt gewesen, weil einer der Anträge auf Zeugenvernehmung sich auch auf die behandelnde Ärztin bezog, die den Entlassungsbericht verfasst hatte. Die Klägerin hätte insoweit ergänzend im Einzelnen ausführen müssen, zu welchem Beweisthema in Bezug auf den der Klägerin bekannten Inhalt des Entlassungsberichts die angebotenen Zeugen hätten vernommen werden sollen. Unsubstantiierten Beweisanträgen muss das Gericht nicht nachgehen (Gräber/von Groll, a.a.O., § 76 Rz. 25).

Es kann daher offen bleiben, ob in dem —zeitlich nach den schriftsätzlich angekündigten Beweisanträgen und nach Einreichung des ärztlichen Entlassungsberichts— schriftlich erklärten Verzicht auf mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 2 FGO bereits eine Rücknahme der ursprünglichen angekündigten Beweisanträge zu sehen ist.

2. Die Rechtssache ist entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht grundsätzlich bedeutsam i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.

Der BFH hat bereits geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Suchtkrankheit zu einer Behinderung i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG führen kann. Nach seiner Entscheidung in BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738 liegt eine Behinderung bei einer Suchterkrankung nur dann vor, wenn diese ein Stadium erreicht hat, die zu einer dauerhaften Erwerbsunfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt führt.

Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin fällt deshalb eine nur vorübergehende Behandlung einer Suchterkrankung wie im Streitfall mit der zeitweise damit verbundenen Nichterwerbstätigkeit nicht unter den Begriff der Behinderung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG.

Fundstelle(n):
AO-StB 2006 S. 63 Nr. 3
BFH/NV 2006 S. 540 Nr. 3
GStB 2006 S. 5 Nr. 2
FAAAB-76207