Bekanntgabe von Steuerbescheiden
Leitsatz
Wird ein Steuerbescheid mit der Post übermittelt und wird die betreffende Postsendung später als drei Tage nach Absendung in den Hausbriefkasten des Empfängers eingeworfen, so beginnt die Einspruchsfrist am Tag des Einwurfs. Das gilt auch dann, wenn der Empfänger des Steuerbescheids ein Unternehmen ist, der Einwurf an einem Sonnabend erfolgt und in dem betreffenden Unternehmen sonnabends nicht gearbeitet wird (Abgrenzung zum , BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898).
Gesetze: AO 1977 § 108 Abs. 3AO 1977 § 122 Abs. 2 Nr. 1AO 1977 § 355 Abs. 1 Satz 1
Instanzenzug: FG des Landes Brandenburg vom 6 K 2047/02 (EFG 2005, 1002) (Verfahrensverlauf),
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) einen gegen sie gerichteten Steuerbescheid rechtzeitig angefochten hat.
Die Klägerin, eine GmbH, gab für das Streitjahr (1999) zunächst keine Körperschaftsteuererklärung ab. Deshalb erließ der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) ihr gegenüber einen Körperschaftsteuerbescheid, der auf einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen beruhte. Dieser Bescheid wurde am Dienstag, dem , mit einfachem Brief zur Post gegeben.
Mit Schriftsatz vom , der am selben Tag beim FA einging, legte die Klägerin gegen den Bescheid Einspruch ein. In diesem Zusammenhang machte sie geltend, der angefochtene Bescheid sei erst am Sonnabend, dem , in ihren Briefkasten eingeworfen und dort am nachfolgenden Montag () bemerkt worden. Das FA hielt den Einspruch gleichwohl für verspätet und wies ihn deshalb zurück.
Der deswegen erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) statt. Es kam auf Grund einer Beweisaufnahme zu der Überzeugung, dass der Bescheid —dem Vortrag der Klägerin entsprechend— erst am bei der Klägerin eingegangen sei. Auf dieser Basis entschied es, dass die Einspruchsfrist erst am Montag, dem begonnen habe und dass der Einspruch deshalb rechtzeitig eingelegt worden sei. Das Urteil des FG des Landes Brandenburg vom 6 K 2047/02 ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 1002 abgedruckt.
Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA eine Verletzung des § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977). Es beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage. Das FA hat den Einspruch der Klägerin zu Recht als unzulässig angesehen.
1. Nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist der Einspruch gegen einen finanzbehördlichen Verwaltungsakt innerhalb eines Monats nach dessen Bekanntgabe einzulegen. Geschieht dies nicht, so ist der Einspruch unzulässig.
2. Wird ein schriftlicher Verwaltungsakt durch die Post im Inland übermittelt, so gilt er als am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977). Im letztgenannten Fall kommt es für die Bekanntgabe auf den tatsächlichen Zugangszeitpunkt an.
3. Im Streitfall hat das FG hierzu festgestellt, dass der angefochtene Bescheid am zur Post gegeben und am in den Briefkasten der Klägerin eingeworfen wurde. Diese Feststellungen sind nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen worden und deshalb gemäß § 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) für den Senat bindend. Aus ihnen folgt, dass der Bescheid am bekannt gegeben worden ist, wodurch die Einspruchsfrist in Lauf gesetzt wurde.
4. Dem steht nicht entgegen, dass der ein Sonnabend war und dass nach dem unwidersprochenen Vortrag der Klägerin deren Briefkasten an diesem Tag nicht geleert worden ist:
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) setzt die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts nicht voraus, dass der Empfänger den Verwaltungsakt tatsächlich zur Kenntnis nimmt. Es genügt vielmehr, dass nach den allgemeinen Gepflogenheiten von ihm eine Kenntnisnahme erwartet werden kann (, BFHE 190, 292, BStBl II 2000, 175, m.w.N.). Das wiederum ist regelmäßig anzunehmen, wenn die Sendung entsprechend den postalischen Vorschriften zugestellt wurde (BFH-Urteile in BFHE 190, 292, BStBl II 2000, 175; vom IV R 100/93, BFHE 176, 510, BStBl II 1995, 484, m.w.N.), wofür ein Einwurf in den Briefkasten des Empfängers ausreicht (, BFHE 114, 176, BStBl II 1975, 286). Letzteres gilt auch dann, wenn die Postsendung mit dem Verwaltungsakt an einem Sonnabend in den Briefkasten eines Betriebes eingeworfen wird und in dem betreffenden Betrieb sonnabends weder gearbeitet noch der Briefkasten geleert zu werden pflegt (, BFHE 119, 201, BStBl II 1976, 764; , EFG 1985, 378). In einem solchen Fall ist mithin für die Berechnung der Rechtsbehelfsfrist regelmäßig der Tag des Einwurfs maßgeblich; eine Verschiebung des Fristbeginns auf einen nachfolgenden Tag sieht das Gesetz nicht vor (, BFH/NV 1994, 183; Pahlke in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, § 355 Rz. 8).
b) Zu einer abweichenden Beurteilung führt nicht die neuere Rechtsprechung zur Berechnung des Fristbeginns in den Fällen des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977. Nach dieser Vorschrift gilt ein durch die Post übermittelter schriftlicher Verwaltungsakt als am dritten Tag nach seiner Aufgabe zur Post bekannt gegeben. Dazu hat der IX. Senat des BFH in Abkehr von früherer Rechtsprechung entschieden, dass die Dreitagesfrist erst am nächstfolgenden Werktag abläuft, wenn das Fristende auf einen Sonnabend oder einen Sonntag bzw. einen gesetzlichen Feiertag fällt (, BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898). Diese Rechtsfolge hat er aus § 108 Abs. 3 AO 1977 abgeleitet, der eine entsprechende Bestimmung für diejenigen Fälle enthält, in denen das Ende einer Frist auf einen der genannten Wochentage fällt. Der erkennende Senat ist dieser Beurteilung gefolgt (Senatsurteil vom I R 4/03, BFH/NV 2004, 758; ebenso , BFH/NV 2004, 1065). Auf den Streitfall kann sie jedoch nicht übertragen werden:
aa) Die genannte Rechtsprechung beruht auf der Überlegung, dass der in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 genannte Zeitraum eine „Frist” i.S. des § 108 Abs. 3 AO 1977 sei. Diese Überlegung kann für die hier zu beurteilende Gestaltung nicht gelten. Denn die in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 bestimmte Vermutung des Bekanntgabezeitpunkts greift von vornherein nicht ein, wenn die betreffende Postsendung erst nach Ablauf der dort genannten drei Tage zugegangen ist. In diesem Fall kommt es nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut allein auf den tatsächlichen Zugangszeitpunkt an. Eine Regelung, nach der die Bekanntgabe unmittelbar durch den Eintritt eines bestimmten Ereignisses ausgelöst wird, kann indessen auch bei weitester Auslegung dieses Begriffs nicht als Anknüpfung an den Ablauf einer „Frist” angesehen werden. Deshalb ist § 108 Abs. 3 AO 1977 auf sie nicht anwendbar.
bb) Eine Übertragung der zu § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 entwickelten Grundsätze auf die hier zu beurteilende Konstellation kann auch mit dem Sinn und Zweck des § 108 Abs. 3 AO 1977 nicht gerechtfertigt werden. Zwar mag es richtig sein, dass diese Vorschrift darauf abzielt, die Sonn- und Feiertagsruhe zu wahren und der in Wirtschaft und Verwaltung üblichen Fünftagewoche Rechnung zu tragen (BFH-Urteil in BFHE 203, 26, 30, BStBl II 2003, 898, 900). Der Gesetzgeber hat diesen Anliegen aber lediglich in der Weise Geltung verschafft, dass er im Hinblick auf den Ablauf von Fristen —insbesondere von Rechtsbehelfsfristen— eine entsprechende Hemmung angeordnet hat. In dem hier interessierenden Zusammenhang geht es indessen nicht um den Ablauf, sondern um den Anlauf jener Fristen, und dazu enthält das Gesetz keine vergleichbare Regelung. Der Gesetzgeber geht mithin ersichtlich davon aus, dass der Anlauf einer Rechtsbehelfsfrist —anders als deren Ablauf— auch auf einen Sonntag, Feiertag oder Sonnabend fallen kann. Mit dieser klaren Vorgabe wäre es nicht vereinbar, wenn die Gerichte den Anlauf der Einspruchsfrist generell dem Regelungsbereich des § 108 Abs. 3 AO 1977 unterstellen würden.
cc) Schließlich kann eine solche Handhabung nicht auf die vom FG angestellte Erwägung gestützt werden, dass ein an einem Sonnabend eingegangenes Schreiben häufig erst am nächstfolgenden Werktag bearbeitet werde und dass dem Empfänger eines Verwaltungsakts die gesetzliche Rechtsbehelfsfrist unverkürzt als Überlegungs- und Bearbeitungsfrist zur Verfügung stehen müsse (ähnlich zu § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 BFH-Urteil in BFHE 203, 26, 30, BStBl II 2003, 898, 900). Ein genereller Aufschub des Fristanlaufs unter diesem Gesichtspunkt müsste —wie dargelegt— vom Gesetzgeber angeordnet werden, was nicht geschehen ist. Ebenso wäre es aber verfehlt, den Fristanlauf von den Umständen des konkreten Einzelfalls abhängig zu machen. Insbesondere kann es in diesem Zusammenhang nicht darauf ankommen, ob die Bekanntgabe in einem privaten oder in einem betrieblichen Bereich erfolgt und ob letzterenfalls in dem betreffenden Betrieb an Wochenenden oder Feiertagen gearbeitet wird oder nicht. Denn damit würden genau diejenigen Unsicherheiten und Erschwernisse bei der Bestimmung der Rechtsbehelfsfrist, die durch die neuere Rechtsprechung zu § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 u.a. beseitigt werden sollten (vgl. dazu BFH-Urteil in BFHE 203, 26, 31, BStBl II 2003, 898, 900 f.), für die hier zu beurteilende Fallgestaltung neu geschaffen: Die Bestimmung des Bekanntgabezeitpunkts hinge von den Gepflogenheiten des einzelnen Empfängers ab, die deshalb selbst dann von Fall zu Fall ermittelt werden müssten, wenn der Verwaltungsakt förmlich zugestellt wurde (ähnlich auch , Neue Juristische Wochenschrift 1989, 606 zur Bekanntgabe eines Kündigungsschreibens während urlaubsbedingter Abwesenheit). Eine solche Lösung erscheint nicht sachgerecht. Vorzugswürdig ist es vielmehr, insoweit an der Rechtsprechung festzuhalten, nach der die postalische Zustellung durch Einwurf in den Briefkasten unabhängig von der konkreten Empfangsbereitschaft des Adressaten zur Bekanntgabe des Verwaltungsakts führt.
c) Der Streitfall bietet keine Veranlassung, zu der Frage Stellung zu nehmen, ob ein zu ungewöhnlichen Zeiten —z.B. kurz vor Mitternacht— erfolgender Einwurf einer Postsendung in den Briefkasten des Empfängers zum Anlauf der Rechtsbehelfsfrist führen kann (vgl. hierzu , BFH/NV 1999, 286); eine solche Gestaltung liegt hier ersichtlich nicht vor. Ebenso ist nicht darüber zu entscheiden, ob ein Irrtum über den Ablauf der Einspruchsfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen kann: Im Streitfall erscheint ein solcher Irrtum schon deshalb ausgeschlossen, weil nach den Feststellungen des FG der in Rede stehende Steuerbescheid bei der Klägerin den Eingangsstempel des Einwurftages () erhalten hat. Das FA hat den gleichwohl verspätet eingelegten Einspruch deshalb zu Recht als unzulässig verworfen, so dass die dagegen gerichtete Klage unbegründet ist.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2006 II Seite 219
AO-StB 2006 S. 63 Nr. 3
BB 2006 S. 256 Nr. 5
BFH/NV 2006 S. 641 Nr. 3
BStBl II 2006 S. 219 Nr. 6
DB 2006 S. 710 Nr. 13
DStRE 2006 S. 252 Nr. 4
DStZ 2006 S. 61 Nr. 3
DStZ 2006 S. 80 Nr. 3
HFR 2006 S. 229 Nr. 3
INF 2006 S. 161 Nr. 5
KÖSDI 2006 S. 14967 Nr. 2
NJW 2006 S. 1615 Nr. 22
NWB-Eilnachricht Nr. 4/2006 S. 231
SJ 2006 S. 11 Nr. 5
StB 2006 S. 86 Nr. 3
StBW 2006 S. 4 Nr. 3
StuB-Bilanzreport Nr. 6/2006 S. 245
RAAAB-75017