BFH Urteil v. - IX R 36/03

Anwendung des § 171 Abs. 3a AO in Fällen der Teilfestsetzungsverjährung

Gesetze: AO § 171 Abs. 3a

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Der verstorbene Bruder der Klägerin und Revisionsklägerin zu 1. (Klägerin zu 1.), B, erwarb im Jahr 1980 das Erbbaurecht an einem Grundstück und machte der Klägerin zu 1. das unwiderrufliche Angebot, ihr sämtliche Rechte aus dem Erbbaurechtsvertrag zur ideellen Hälfte unentgeltlich zu übertragen; dieses Angebot nahm die Klägerin zu 1. im Juli 1986 an.

Das Erbbaugrundstück wurde 1982 mit einem Einfamilienhaus bebaut und in der Folgezeit von B mit seiner Familie bewohnt. Die Finanzierung des Bauvorhabens erfolgte über ein gemeinsames Bankkonto beider Geschwister.

B und die Klägerin zu 1. reichten für die Jahre 1983 bis 1986 Erklärungen zur gesonderten und einheitlichen Feststellung von Einkünften aus dem Erbbaugrundstück ein, und zwar für das Jahr 1985 im Dezember 1986 und für das Jahr 1986 im Januar 1988. Die Einkünfte ermittelten sie für den Anteil der Klägerin zu 1. durch Gegenüberstellung von Einnahmen und Werbungskosten und für den Anteil des B nach § 21a des Einkommensteuergesetzes in der für die Streitjahre (1985 und 1986) maßgeblichen Fassung (EStG a.F.). Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) folgte dem nicht und erließ für die Jahre 1983 bis 1986 negative Feststellungsbescheide. Gegen diese Bescheide legten sowohl B als auch die Klägerin zu 1. Einspruch ein.

Das Finanzgericht (FG) gab der gegen die negativen Feststellungsbescheide für 1983 und 1984 erhobenen Klage statt (Urteile vom XI 361/86 und XI 362/86, nicht veröffentlicht —n.v.—). Für das Objekt seien Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung gesondert und einheitlich festzustellen.

Aufgrund dieser Urteile des FG berücksichtigte das FA im Wege der Teilabhilfe durch am ergangene Feststellungsbescheide für die Streitjahre (1985 und 1986) —in der Höhe von den eingereichten Feststellungserklärungen abweichend— negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, die es der Klägerin zu 1. und B anteilig zurechnete. Die Klägerin zu 1. und B sahen ihre Einsprüche hierdurch nicht als erledigt an und hielten diese (nur) im Hinblick auf die Höhe der Einkünfte weiterhin aufrecht.

Mit Schreiben vom und wies das FA gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) auf die Möglichkeit zum Erlass einer verbösernden Entscheidung durch Aufhebung der Feststellungsbescheide hin; die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine gesonderte und einheitliche Feststellung seien nicht erfüllt. Durch Einspruchsbescheid vom hob es die Änderungsbescheide über die gesonderte und einheitliche Feststellung vom auf.

Hiergegen wandten sich die Klägerin zu 1. und B mit ihrer Klage. Im Laufe des Klageverfahrens hat das FA das FG davon in Kenntnis gesetzt, dass B verstorben ist. Der Prozessbevollmächtigte des B hat dem FG mit Schriftsatz vom mitgeteilt, dass B von der Erbengemeinschaft nach B (Klägerin und Revisionsklägerin zu 2. —Klägerin zu 2.—), beerbt worden ist und diese das unterbrochene Klageverfahren fortführe (§ 155 der FinanzgerichtsordnungFGO— i.V.m. § 239 Abs. 1 der ZivilprozessordnungZPO—). Dieser Schriftsatz wurde gemäß Verfügung des Berichterstatters vom dem FA in Durchschrift zugesandt. Das FA rügte die Aufnahme des Verfahrens in der mündlichen Verhandlung vom , zu der es am geladen worden war, nicht.

Das FG wies die Klage ab (Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 2003, 1135). Eine gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte sei nicht durchzuführen. Die Aufhebung der Feststellungsbescheide vom durch die Einspruchsentscheidung sei auch nicht deshalb rechtswidrig, weil eine Teilbestandskraft dieser Bescheide eingetreten sei. Das FG hat im Rubrum des Urteils die Klägerin zu 1. und B als Kläger bezeichnet.

Mit der Revision rügen die Klägerinnen die Verletzung des § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977.

Die Klägerinnen beantragen, die Vorentscheidung aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. 1. Die Revision ist zulässig. Sie genügt den Anforderungen des § 120 Abs. 2 FGO, auch wenn die Klägerinnen nur beantragt haben, das angefochtene Urteil aufzuheben. Ein solcher Antrag ist in der Regel dahin auszulegen, dass eine Entscheidung nach dem in der Vorinstanz gestellten Antrag begehrt wird (vgl. , BFHE 164, 219, BStBl II 1991, 729; vom IX R 184/85, BFH/NV 1990, 287; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 120 FGO Rz. 54; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 120 FGO Rz. 95). Die Klägerinnen hatten in der Vorinstanz beantragt, unter Aufhebung der negativen Feststellungsbescheide in Gestalt der Einspruchsbescheide vom für die Jahre 1985 und 1986 Feststellungsbescheide auf der Grundlage der abgegebenen Feststellungserklärungen zu erlassen.

2. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Das FG ist unzutreffend davon ausgegangen, dass das FA die Feststellungsbescheide für die Streitjahre vom im Wege der Verböserung nach § 367 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 aufheben durfte; die Aufhebung ist wegen Ablaufs der Feststellungsfrist unzulässig (§ 169 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977).

a) Das Urteil der Vorinstanz ist nicht nach § 155 FGO, § 249 ZPO unwirksam. Gemäß § 249 ZPO sind zwar Handlungen des Gerichts, die während einer Unterbrechung des Verfahrens nach außen vorgenommen werden, grundsätzlich unwirksam (vgl. , BGHZ 111, 104 unter II. 2. b, m.w.N.; , BFHE 162, 208, BStBl II 1991, 101; , BFHE 99, 348, BStBl II 1970, 665). Jedoch ist das durch den Tod des B nach § 155 FGO, § 239 Abs. 1 ZPO unterbrochene Verfahren durch die Klägerin zu 2. trotz fehlender Zustellung der Aufnahmeerklärung (§ 155 FGO, § 250 ZPO) wirksam aufgenommen worden; die fehlende Zustellung ist nach § 155 FGO, § 295 Abs. 1 ZPO durch rügelose mündliche Verhandlung geheilt (zur Heilbarkeit vgl. , BGHZ 50, 397, 399 f.; , Zeitschrift für Insolvenzpraxis —ZIP— 1999, 75; , BAGE 31, 309; siehe auch , BGHZ 23, 172 zu § 244 ZPO).

b) Das Urteil des FG ist jedoch aufzuheben, weil im Streitfall durch die Teilabhilfebescheide des FA vom insoweit Feststellungsverjährung eingetreten ist, als darin festgestellt worden ist, dass B und die Klägerin zu 1. in den Streitjahren Einkünfte in der festgestellten Höhe erzielt haben; diese Feststellung darf nach § 169 Abs. 1 Satz 1, § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 nicht mehr aufgehoben werden.

aa) Nach § 169 Abs. 1 Satz 1, § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist eine gesonderte Feststellung sowie ihre Aufhebung oder Änderung nicht mehr zulässig, wenn die Feststellungsfrist abgelaufen ist. Die Feststellungsfrist beträgt bei der gesonderten und einheitlichen Feststellung von einkommensteuerpflichtigen Einkünften (§ 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977) nach § 169 Abs. 2 Nr. 2, § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 vier Jahre und beginnt gemäß § 170 Abs. 2 Nr. 1, § 181 Abs. 1 Satz 2 AO 1977, wenn eine Erklärung zur gesonderten Feststellung abzugeben ist, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Feststellungserklärung eingereicht wird. Nach § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 i.V.m. § 171 Abs. 3 Satz 1 und 2 AO 1977 in der vor dem geltenden Fassung (AO 1977 a.F.) läuft die Festsetzungsfrist erst ab, wenn über einen Rechtsbehelf gegen einen Feststellungsbescheid unanfechtbar entschieden worden ist (, BFHE 175, 323, BStBl II 1995, 39).

Allerdings ist im Einspruchsverfahren trotz § 367 Abs. 2 AO 1977 der Eintritt einer Teilfeststellungsverjährung grundsätzlich möglich (vgl. , BFHE 168, 1, BStBl II 1992, 995 unter II. 2. und 3.). Zwar umfasst die Anfechtung eines Steuerbescheides, auch wenn sie wegen eines bestimmten Betrages oder eines bestimmten Sachverhalts erfolgt, in der Regel den gesamten Bescheid und die Ablaufhemmung tritt in vollem Umfang ein (, BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327; , BFH/NV 2003, 1140). Jedoch ist eine Verböserung (§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO 1977) nicht zulässig: Das FA darf einen (Steuerbescheid) Feststellungsbescheid, gegen den Einspruch eingelegt worden ist, nach Ablauf der regulären (Festsetzungsfrist) Feststellungsfrist nicht mehr zum Nachteil der Steuerpflichtigen ändern (vgl. , BFHE 180, 444, BStBl II 1997, 449 unter II. A. 2. b, m.w.N.; vom II R 9/95, BFHE 183, 235, BStBl II 1997, 635 unter II. A. 2. c; vom I R 112/97, BFHE 186, 496, BStBl II 1999, 123 unter B. II. 3.; BFH-Beschlüsse vom IX B 74/98, BFH/NV 1999, 749; vom IX B 134/91, BFH/NV 1993, 171; Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler —HHSp—, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 171 AO Rz. 32 f.; Frotscher in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 171 Rz. 13 c; a.A. Ling, Deutsche Steuer-Zeitung —DStZ— 1981, 402, 403).

bb) Gemessen daran ist eine Aufhebung der Feststellungsbescheide vom wegen Eintritts der Feststellungsverjährung nicht mehr zulässig. Die Klägerin zu 1. und B haben die Feststellungserklärung für das Jahr 1985 im Dezember 1986 und die Feststellungserklärung für das Jahr 1986 im Januar 1988 abgegeben; damit begannen nach § 170 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 die Feststellungsfristen für 1985 mit Ablauf des Jahres 1986 und für 1986 mit Ablauf des Jahres 1988 zu laufen. Der Ablauf der Feststellungsfrist war zunächst —wie regelmäßig— nach § 171 Abs. 3 Satz 1 und 2 AO 1977 a.F. in vollem Umfang gehemmt, da die Klägerin zu 1. und B gegen die negativen Feststellungsbescheide Einspruch eingelegt hatten. Jedoch hat das FA am im Wege der Teilabhilfe Feststellungsbescheide für die Streitjahre erlassen und dabei Einkünfte gesondert und einheitlich festgestellt. Da nach den den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG die Klägerin zu 1. und B ihre Einsprüche nur hinsichtlich der Höhe der festgestellten Einkünfte aufrecht erhalten haben, umfasste ihr Antrag nach der Teilabhilfe nur noch eine weitere Herabsetzung der negativen Einkünfte; auf die völlige Aufhebung der Feststellung konnte sich daher die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3 AO 1977 a.F. nicht mehr erstrecken. Aufgrund dessen trat im Umfang der Teilabhilfebescheide vom für das Jahr 1985 am und für 1986 mit Ablauf des Feststellungsverjährung ein.

cc) § 171 Abs. 3a AO 1977 steht dieser Beurteilung nicht entgegen.

Nach dieser Vorschrift, die durch das Steuerbereinigungsgesetz 1999 vom (BGBl I, 2601) in die Abgabenordnung eingefügt worden ist, läuft, wenn ein Steuerbescheid mit einem Einspruch oder einer Klage angefochten wird, die Festsetzungsfrist nicht ab, bevor über den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden ist; der Ablauf der Festsetzungsfrist ist hinsichtlich des gesamten Steueranspruchs gehemmt. Sie gilt über § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 auch in Fällen gesonderter Feststellung.

Jedoch bringen sowohl der Wortlaut des Art. 97 § 10 Abs. 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO) als auch der Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass abgelaufene Festsetzungsfristen von § 171 Abs. 3a AO 1977 nicht berührt werden sollen: Gemäß Art. 97 § 10 Abs. 9 EGAO gilt die Vorschrift nur für alle bei In-Kraft-Treten dieses Gesetzes noch nicht abgelaufenen Festsetzungsfristen, also für alle noch nicht verjährten Ansprüche (Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 8. Aufl., § 171 Rz. 22; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 171 AO Tz. 29 a; vgl. auch BTDrucks 14/1514, S. 50 zu Nr. 3 zu Buchst. b). Dementsprechend ist in den nicht ausdrücklich genannten Fällen der Teilfestsetzungsverjährung die Anwendung des § 171 Abs. 3a AO 1977 nach Art. 97 § 10 Abs. 9 EGAO auf den zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung nicht festsetzungs- oder feststellungsverjährten Teil des Steueranspruchs beschränkt.

dd) Die vom FA im Einspruchsbescheid vorgenommene Aufhebung der Feststellung war auch nicht gemäß § 181 Abs. 5 Satz 1 AO 1977 nach Ablauf der Feststellungsfrist zulässig. Unabhängig davon, ob die Voraussetzungen der Vorschrift vorliegen, was anhand der tatsächlichen Feststellungen des FG nicht beurteilt werden kann, fehlt jedenfalls der im Bescheid erforderliche Hinweis nach § 181 Abs. 5 Satz 2 AO 1977 (vgl. dazu , BFHE 186, 485, BStBl II 1999, 4; vom IX R 76/88, BFHE 159, 398, BStBl II 1990, 411).

c) Die Sache ist nicht spruchreif. Das FA hat durch die Feststellungsbescheide vom für die Streitjahre Einkünfte des B und der Klägerin zu 1. gesondert und einheitlich festgestellt. Da diese Feststellung nicht aufgehoben werden darf, muss unabhängig davon, ob an den streitigen Einkünften tatsächlich mehrere Personen beteiligt sind oder nicht (vgl. dazu , BFHE 127, 319, BStBl II 1979, 476 unter 1.), über die Berücksichtigungsfähigkeit dieser Einkünfte im vorliegenden Verfahren entschieden werden (vgl. , BFHE 168, 248, BStBl II 1992, 890; vom IX R 125/89, juris-Dokument Nr. STRE 935074060). Ausgehend von seiner Rechtsauffassung hat das FG allerdings keine Feststellungen dazu getroffen, ob und in welcher Höhe die Klägerin zu 1. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nach § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG erzielt hat, sondern hat dies ausdrücklich offen gelassen. Innerhalb der Grenzen des § 171 Abs. 3 AO 1977 a.F. stünde einer Feststellung dieser Einkünfte eine Feststellungsverjährung nicht entgegen. Der Rechtsstreit ist daher insoweit nach § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Die in den Feststellungsbescheiden vom FA getroffene Feststellung, die Klägerin zu 1. und B hätten negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in der festgestellten Höhe erzielt, bedeutet nicht, dass das Gericht hierbei unterstellen müsste, die Klägerin zu 1. hätte Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erzielt (vgl. , BFHE 170, 383, BStBl II 1994, 615 unter III. 1.).

3. Der Senat sieht davon ab, das Rubrum des FG-Urteils, das statt der Erbengemeinschaft nach B den verstorbenen B als Beteiligten nennt, nach § 107 FGO zu berichtigen (zur Berichtigungsmöglichkeit in diesem Fall vgl. BFH-Beschlüsse vom IX R 155/83, BFH/NV 1990, 104; vom III B 5/99, BFH/NV 2000, 844 unter 1.), da die Vorentscheidung im Ganzen aufzuheben ist (vgl. , BFH/NV 1992, 371 unter 1.).

Fundstelle(n):
BFH/NV 2004 S. 1361
BFH/NV 2004 S. 1361 Nr. 10
FAAAB-25679