Erfolgreicher Eilantrag von Internetprovidern gegen eine Anordnung nach §§ 100a Abs 1, 100e StPO zur Protokollierung von DNS-Abfragen bzgl eines bestimmten Domain-Namens - Folgenabwägung
Gesetze: Art 10 Abs 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 100a Abs 1 StPO, § 100e StPO, § 101 Abs 4 S 1 Nr 3 StPO, § 101 Abs 4 S 4 StPO, § 101 Abs 4 S 5 StPO
Instanzenzug: AG Oldenburg (Oldenburg) Az: 28 Gs 940 Js 37536/25 (4257/25) Beschlussvorgehend AG Oldenburg (Oldenburg) Az: 28 Gs 940 Js 37536/25 (3372/25) Beschlussvorgehend LG Oldenburg (Oldenburg) Az: 2 Qs 312/25 Beschlussvorgehend AG Oldenburg (Oldenburg) Az: 28 Gs 940 Js 37536/25 (3372/25) Beschluss
Gründe
1Gegenstand der Verfassungsbeschwerde und des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sind ermittlungsrichterliche Beschlüsse, die Telekommunikationsdiensteanbieterinnen dazu verpflichten, alle Domain Name System (DNS)-Server-Anfragen zu einem bestimmten dritten, mutmaßlich inkriminierten Server zu überwachen und auszuwerten, sowie die dazu ergangene Beschwerdeentscheidung.
I.
2Die Beschwerdeführerinnen sind Konzernunternehmen eines Telekommunikationsdiensteanbieters. Das Amtsgericht hat gegenüber den Beschwerdeführerinnen "die Überwachung und Aufzeichnung der inländischen Domain-Name-System-Anfragen über die von [den Beschwerdeführerinnen] bereitgestellten Netzwerkinfrastrukturen zu dem Serversystem mit dem Namen […] mit der […] nebst Übermittlung der zur Identifizierung der Anschlussinhaber erforderlichen Kundendaten" für die Dauer von etwas mehr als einem Monat angeordnet. Es hat die Maßnahme auf § 100a Abs. 1 StPO und § 100e StPO gestützt und dabei abstrakt den Tatverdacht gegen die beschuldigte Person wiedergegeben. Eine weitere Begründung enthielt der den Beschwerdeführerinnen zugestellte Beschluss nicht.
3Gegen den Beschluss haben die Beschwerdeführerinnen Beschwerde eingelegt. Ihren Antrag auf Akteneinsicht hat die Staatsanwaltschaft abgelehnt. Ihre Beschwerde gegen die Überwachungsanordnung hat das Landgericht als unzulässig verworfen und dabei auf einen Vermerk in der Akte verwiesen. Die Beschwerdeführerinnen seien nicht beschwerdeberechtigt. Sie hätten als Telekommunikationsdiensteanbieterinnen die angeordnete Maßnahme umzusetzen und keiner Rechtmäßigkeitskontrolle zu unterziehen. Die dagegen gerichtete Anhörungsrüge blieb erfolglos.
4Das Amtsgericht hat die Anordnung noch zweimal inhaltsgleich für je einen weiteren Monat wiederholt, wogegen die Beschwerdeführerinnen jeweils Beschwerde eingelegt haben, über die noch nicht entschieden ist.
II.
51. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG durch die angegriffenen Entscheidungen und eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nur durch die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts. Insbesondere liege schon keine Ermächtigungsgrundlage für die angegriffene Anordnung zur Überwachung und Aufzeichnung der Domain Name System-Server-Anfragen vor, was die Beschwerdeführerinnen als Telekommunikationsdiensteanbieterinnen auch im fachgerichtlichen Beschwerdeverfahren zulässig hätten rügen dürfen.
62. Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verfolgen die Beschwerdeführerinnen das Ziel, der Staatsanwaltschaft eine Vollziehung der amtsgerichtlichen Anordnungsbeschlüsse sowie die Festsetzung von Ordnungs- und Zwangsmitteln zu untersagen und dem Amtsgericht den Erlass weiterer gleichartiger Beschlüsse bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde zu untersagen.
73. Das Niedersächsische Justizministerium hatte Gelegenheit, zum Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Stellung zu nehmen. Es hat von einer Stellungnahme abgesehen.
84. Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft lag der Kammer vor.
III.
9Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.
101. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache zu entscheidende Verfassungsbeschwerde erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 140, 99 <106 Rn. 11>; 143, 65 <87 Rn. 35>; stRspr).
11Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>; stRspr).
122. Bei Anlegen dieser Maßstäbe ist der Erlass der einstweiligen Anordnung geboten. Der Antrag ist zulässig und begründet.
13a) Die Verfassungsbeschwerde ist nach summarischer Prüfung nach gegenwärtigem Verfahrensstand weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde sind mindestens offen.
14b) Die gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung.
15aa) Dabei ist auf Grundlage des Vortrags der Beschwerdeführerinnen - dem das Niedersächsische Justizministerium nicht entgegengetreten ist - davon auszugehen, dass die amtsgerichtliche Anordnung so umzusetzen wäre, dass die Beschwerdeführerinnen mit erheblichem organisatorischen und personellen Aufwand ihre DNS-Server-Systeme dergestalt anpassen müssten, dass sie alle an diese gerichteten Anfragen der Anschlüsse ihrer etwa 40 Millionen Kundinnen und Kunden inhaltlich daraufhin auswerten würden, ob sie die Adresse des inkriminierten Servers abfragen. Die so isolierten Anfragen müssten sie dann mit eventuell vorhandenen Bestandsdaten der betroffenen Kundinnen und Kunden an die Ermittlungsbehörden weitergeben. Dabei gehen die Beschwerdeführerinnen von durchschnittlich etwa 5 Millionen betroffenen DNS-Server-Anfragen in der Sekunde und damit rund 12,96 Billionen Anfragen im Anordnungszeitraum von einem Monat aus. Die große Zahl beruht darauf, dass das Domain Name System ein System ist, mit dem alle Internet-Nutzenden etwa Websites des World Wide Webs aufrufen, aber auch E-Mails versenden oder automatisierte Anfragen an Server über das Internet stellen. Wollen Internet-Nutzende beispielsweise manuell oder automatisiert eine Website aufrufen und deren Inhalte einsehen, eine E-Mail versenden oder Inhalte eines Servers über das Internet herunterladen, benötigen sie die IP-Adresse des Servers der Website, des E-Mail-Servers oder des Servers mit den herunterzuladenden Inhalten. In der Regel sind diese aus Nummernkombinationen bestehenden IP-Adressen den Internet-Nutzenden aber nicht bekannt, zudem können sie sich ändern oder für verschiedene Länder aus Effizienzgründen unterschiedlich sein. Stattdessen sind die Namen oder "Domains" der Websites bekannt und tendenziell länger gleichbleibend (z.B. "www.bundesverfassungsgericht.de"). Geben Internet-Nutzende diesen Namen in ihren Web-Browser ein, senden sie eine E-Mail an "xxx@bundesverfassungsgericht.de" oder haben eine Einstellung in ihrem System, die regelmäßig automatisiert Anfragen an den Server stellt (etwa ein automatisierter Download neuer Entscheidungen), fragen die Geräte im Hintergrund und vollautomatisch beim DNS-Dienst ihres Telekommunikationsdiensteanbieters an, welche IP-Adresse für ihr Land mit der Domain verknüpft ist. Der DNS-Dienst besteht aus mehreren Servern, die ein möglichst aktuelles Verzeichnis aller Domains und der für sie hinterlegten IP-Adressen haben. Diese Server melden ebenfalls automatisch und im Hintergrund den Geräten der Internet-Nutzenden die der Domain zugeordnete IP-Adresse. Die Geräte können dann eine direkte Verbindung zu dieser IP-Adresse aufbauen und beispielsweise die Inhalte der Website abrufen. In der Sache handelt es sich bei einem DNS-Dienst um eine Art automatisiertes Telefonbuch des Internets. Es ist davon auszugehen, dass große Teile der heutigen Internetnutzung nur durch DNS-Dienste möglich sind. Die Beschwerdeführerinnen tragen - vom Niedersächsischen Justizministerium unwidersprochen - vor, dass die angeordnete Überwachungsmaßnahme neuartig ist und so in der Vergangenheit nicht angeordnet wurde.
16bb) Erginge die begehrte einstweilige Anordnung nicht und wäre die Verfassungsbeschwerde später erfolgreich, wären die Beschwerdeführerinnen unabhängig von etwaigen Zwangsgeldern nach § 100a Abs. 4 Satz 3 StPO i.V.m. § 95 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 70 Abs. 1 Satz 2 StPO verpflichtet, die angeordneten Überwachungsmaßnahmen umzusetzen. Dafür müssten sie nicht nur erheblichen organisatorischen und personellen Aufwand betreiben. Sie hätten auch einen irreversiblen Reputationsverlust zu befürchten, weil sie eine später als verfassungswidrig erkannte Anordnung umgesetzt hätten. Aufgrund der Neuartigkeit der angeordneten Maßnahme wäre von einer kritischen Kenntnisnahme der Öffentlichkeit, Medien und der betroffenen Kundinnen und Kunden auszugehen. Hinzu kommen die jedenfalls massenhaften Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis der Kundinnen und Kunden (vgl. insoweit auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1861/93 -, juris, Rn. 37, 40, 43; Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvQ 50/22 -, Rn. 46 ff. und vom - 1 BvR 1654/22 -, Rn. 26 ff.).
17cc) Erginge die einstweilige Anordnung und wäre die Verfassungsbeschwerde nachfolgend erfolglos, könnten die Anfragen an den DNS-Server der Beschwerdeführerinnen nicht überwacht werden. Damit entfiele die Möglichkeit, dass DNS-Anfragen zum inkriminierten Server aufgezeichnet und nebst der zur Identifizierung der Anschlussinhaber erforderlichen Kundendaten an die Ermittlungsbehörden übermittelt werden. Diese könnten entsprechende Informationen nicht zum Zweck der Verfolgung verwenden. Wird bereits die Anordnung der Überwachung einstweilen außer Vollzug gesetzt, wäre darüber hinaus die Möglichkeit einer nachträglichen Auswertung versperrt. Die Ermittlungsbehörden müssten daher bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde zuwarten, bevor sie die laufende Anordnung vom vollziehen oder einen inhaltsgleichen Beschluss auf Grundlage von § 100a StPO erwirken könnten. In der Zwischenzeit wären sie auf die ihnen zur Verfügung stehenden hergebrachten Ermittlungsmethoden - insbesondere auch andere Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung - beschränkt.
18dd) In der Abwägung dieser Folgen überwiegen die auf Seiten der Beschwerdeführerinnen zu berücksichtigenden Nachteile. Zwar stünde den Ermittlungsbehörden mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung die Überwachung des DNS-Servers als Mittel zur Aufklärung der von ihnen verfolgten Straftaten nicht zur Verfügung. Es ist aber nicht ersichtlich, dass die hier konkret verfolgten Delikte besonders schwer wögen oder die Ermittlung des Sachverhalts mit anderen Ermittlungsmethoden nicht ebenso erfolgsversprechend sein könnte. Auch sonst ist ein hohes Strafverfolgungsinteresse, das gegen den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechen könnte weder den angegriffenen Entscheidungen zu entnehmen noch liegt es auf der Hand. Auch das Niedersächsische Justizministerium hat insoweit nichts vorgebracht. Demgegenüber sind auf Seiten der Beschwerdeführerinnen ihr erheblicher organisatorischer Aufwand sowie der ihnen drohende Reputationsverlust zu berücksichtigen. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen insbesondere die drohenden massenhaften und irreversiblen Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis der Kundinnen und Kunden, die einer Kenntnisnahme ihrer privaten oder beruflichen Kontakte ausgesetzt wären, ohne entsprechende Verdachtsmomente geliefert zu haben (vgl. auch BVerfGE 93, 181 <191>). Das gilt hier umso mehr, da die betroffenen Kundinnen und Kunden aufgrund der Heimlichkeit der Maßnahme keinen vorbeugenden oder abwehrenden Rechtsschutz gegen die angegriffene Anordnung haben dürften und auch ihre spätere Benachrichtigung angesichts ihrer schieren Zahl praktisch ausgeschlossen sein dürfte (vgl. § 101 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, Sätze 4 und 5 StPO). Die Möglichkeit einer Kenntnisnahme und der Wahrnehmung nachträglichen Rechtsschutzes hinge daher insbesondere von der Detailliertheit der Medienberichterstattung über die DNS-Server-Überwachung ab.
19c) Die einstweilige Anordnung war gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG i.V.m.§ 95 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG auch für zukünftige inhaltsgleiche Anordnungen gegen die Beschwerdeführerinnen auf Grundlage von § 100a Abs. 1 StPO auszusprechen, weil aufgrund des bisherigen Verfahrensablaufs und des bevorstehenden Endes des Anordnungszeitraums der letzten amtsgerichtlichen Anordnung am mit weiteren inhaltsgleichen Anordnungen zu rechnen ist, für die die oben genannten Erwägungen ebenfalls gelten.
20Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20251125.1bvr231725
Fundstelle(n):
RAAAK-05712