Strafbarkeit der "groben Störung" einer Versammlung im Rahmen einer Gegendemonstration (§ 21 Alt 3 VersG <RIS: VersammlG>) verfassungsgemäß - Beschränkung des Zitiergebots des Art 19 Abs 1 S 2 GG auf vorhersehbare Grundrechtseinschränkungen - Versammlungsfreiheit schützt grds auch "störende" Gegendemonstrationen - Sprungrevision steht Rechtswegerschöpfung gem § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG nicht grds entgegen
Leitsatz
1. Die Erfordernisse der Erschöpfung des Rechtswegs und der Subsidiarität können auch bei Einlegung einer Sprungrevision anstelle einer Berufung gewahrt sein. Die Verfassungsbeschwerde kann in diesem Fall allerdings nicht auf solche Einwände gestützt werden, die fachrechtlich nur vor der übersprungenen Instanz hätten geltend gemacht werden können.
2. Das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG findet jedenfalls nur auf solche Grundrechtseinschränkungen Anwendung, die der Gesetzgeber vorhergesehen hat oder die für ihn hinreichend vorhersehbar waren. Zur Beurteilung der hinreichenden Vorhersehbarkeit ist maßgeblich darauf abzustellen, was von einem sorgfältig handelnden Gesetzgeber ausgehend von einer strikten ex-ante-Perspektive realistischerweise erwartet werden kann.
3. Die Versammlungsfreiheit zählt zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens und ist für die freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend. Der einer Demokratie immanente kontinuierliche Meinungskampf mit seinen wiederkehrenden, auf der Grundlage des Mehrheitsprinzips zu treffenden Entscheidungen erfordert fortwährend einen freien, offenen und pluralistischen Diskurs, in dem auch andersdenkende Minderheiten zu Wort kommen und Gehör finden.
4. Eine Versammlung in physischer Präsenz im öffentlichen Raum stellt auch in einer zunehmend digitalisierten Welt ein unverzichtbares Instrument der kollektiven Meinungskundgabe dar, durch das ein gemeinsames kommunikatives Anliegen unmittelbar erlebbar wird und unabhängig von selektierenden Mechanismen direkt an einen konkreten Adressatenkreis oder allgemein an die Öffentlichkeit gerichtet werden kann.
5. a) Bei einer Zusammenkunft ist der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG jedenfalls dann eröffnet, wenn sie – über die bloße Negation der gestörten Meinungskundgabe hinaus – ein eigenständiges Element der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung aufweist, ohne dass es auf dessen Gewichtung gegenüber einem Störungselement ankäme. Sofern eine Zusammenkunft hingegen ausschließlich auf die Störung einer anderen Versammlung gerichtet ist und sie nicht zugleich auf einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung abzielt, fällt sie mangels Versammlungseigenschaft nicht in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG.
b) Es ist für ein demokratisches Gemeinwesen von zentraler Bedeutung, dass das Recht, seine Meinung gemeinschaftlich mit anderen öffentlich kundzutun, nicht zum Mittel wird, um Menschen mit anderen Überzeugungen an der Wahrnehmung desselben Rechts zu hindern.
Gesetze: Art 8 Abs 1 GG, Art 8 Abs 2 GG, Art 19 Abs 1 S 2 GG, Art 103 Abs 2 GG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 20 VersammlG, § 21 Alt 3 VersammlG
Instanzenzug: Az: 2 Rv 35 Ss 981/19 Beschlussvorgehend AG Freiburg (Breisgau) Az: 24 Cs 281 Js 40842/17 Urteil
Gründe
A.
1Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine strafgerichtliche Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen § 21 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz; im Folgenden: VersG). Im Mittelpunkt steht die Frage, ob eine strafgerichtliche Verurteilung nach § 21 VersG das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verletzt, wenn es sich bei dem der Verurteilung zugrundeliegenden Sachverhalt um die Teilnahme an einer von Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Gegendemonstration handelt.
2Der Straftatbestand des § 21 VersG lautet wie folgt:
§ 21 VersG
Wer in der Absicht, nichtverbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
I.
31. Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen fand am in der Freiburger Innenstadt eine ordnungsgemäß angemeldete Versammlung der Vereinigung (...) e.V. (im Folgenden: Vereinigung (...)) zum Thema "Schutz des ungeborenen Lebens" statt. Die Versammlung sollte etwa ab 17 Uhr mit einer Kundgebung in der Humboldtstraße vor der ehemaligen Geschäftsstelle des Vereins "(...)" beginnen. Von dort aus war ein Aufzug durch das weniger als 100 Meter von der Humboldtstraße entfernt gelegene Martinstor über die Kaiser-Joseph-Straße durch die Freiburger Innenstadt bis zum Kartoffelmarkt vorgesehen. Dort sollte gegen 18:30 Uhr eine Abschlusskundgebung stattfinden.
4Gegen diese Versammlung hatten im Internet vorab verschiedene Gruppierungen zu (nicht angemeldeten) Gegendemonstrationen aufgerufen. Ein Aufruf des "(...)" unter dem Titel "(...) aufmischen, blockieren, abschaffen!" enthielt unter anderem den Satz: "Trotz der überzogenen Repression und einem großen Polizeiaufgebot werden wir den Aufmarsch der Erzreaktionäre stören und uns nicht von unserem legitimen Protest abbringen lassen!".
5Nach Abschluss der etwa hundert Personen umfassenden Auftaktkundgebung der Vereinigung (...) gegen 17:52 Uhr wollten sich die Demonstrantinnen und Demonstranten plangemäß in Richtung Kaiser-Joseph-Straße in Bewegung setzen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich rund siebzig Gegendemonstrantinnen und -demonstranten mehrreihig, teilweise untergehakt, über die gesamte Fahrbahnbreite hinter das Martinstor gesetzt, sodass ein Passieren unter den beiden Torbögen nicht mehr möglich war. Einzelne Gegendemonstranten hielten Plakate und Transparente, zum Beispiel mit den Aufschriften "Gegen reaktionäre Knetköpfe", "Mein Bauch gehört mir" oder "(...) entgegentreten". Die Gegendemonstranten störten zudem die Gesänge, Gebete und Durchsagen der Demonstranten durch Sprechchöre (zum Beispiel "Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat", "Mittelalter, Mittelalter, hey, hey", "Eure Priester sind so schwul wie wir" und "Wir sind homo, was seid ihr?") und durch den Einsatz von Trillerpfeifen sowie einer laut heulenden Sirene. Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten sah sich die Polizei nicht in der Lage, den Aufzug der Demonstranten über die beiden grundsätzlich passierbaren Gehwege rechts und links des Martinstores an den Gegendemonstranten vorbeizuleiten.
6Der Beschwerdeführer, der sich ab spätestens 18:05 Uhr auf der westlichen Seite des Martinstores in vorderster Reihe unter den sitzenden Gegendemonstranten befand, hielt gemeinsam mit weiteren Personen ein großformatiges Transparent mit der Aufschrift "Gegen reaktionäre Hetze - (...)" hoch. Er verfolgte das Ziel, den Aufzug der Demonstranten in Höhe des Martinstores anzuhalten und den Aufzugsweg in Richtung Innenstadt zu blockieren. Dadurch wollte er gegen die Standpunkte der Vereinigung (...) protestieren und die planmäßige Durchführung der Versammlung vereiteln.
7Trotz mehrmaliger Aufforderung der Polizei, unter anderem über Lautsprecher und durch ein im Einsatz befindliches "Anti-Konflikt-Team", den Aufzugsweg freizugeben, blieben mindestens 44 Gegendemonstranten, darunter der Beschwerdeführer, hinter den Torbögen sitzen. Daraufhin verfügte die Polizei um 18:20 Uhr die versammlungsrechtliche Auflösung der Sitzblockade der Gegendemonstranten. Die entgegen der polizeilichen Anweisung auf der Fahrbahn sitzen gebliebenen Gegendemonstranten wurden von Polizeibeamten weggetragen. Der östliche Torbogen war ab 18:27 Uhr wieder passierbar. Die jedenfalls bis 18:31 Uhr hinter dem westlichen Torbogen sitzenden Gegendemonstranten, darunter der Beschwerdeführer, wurden schließlich von Polizeikräften umschlossen, erhoben sich daraufhin und wurden um 18:34 Uhr an den Fahrbahnrand gedrängt.
8Die Versammlung der Demonstranten, die das Martinstor bei ungehindertem Verlauf bereits wenige Minuten nach ihrer um 17:52 Uhr beendeten Auftaktkundgebung erreicht hätte und die - trotz des durch die Blockade verzögerten Vorrückens - seit spätestens 18:17 Uhr vor dem Martinstor gestanden und gewartet hatte, konnte daraufhin ihren Aufzug fortsetzen und zog etwa ab 18:34 Uhr durch den östlichen Torbogen.
92. Die Staatsanwaltschaft leitete im Nachgang ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Verstoßes gegen § 21 VersG ein. Einer beabsichtigten Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Zahlung einer Geldauflage gemäß § 153a StPO stimmte der Beschwerdeführer nicht zu.
10Nachdem der Beschwerdeführer gegen einen durch das Amtsgericht erlassenen Strafbefehl Einspruch eingelegt hatte, verurteilte ihn das Amtsgericht mit angegriffenem Urteil vom wegen Störung von Versammlungen und Aufzügen gemäß § 21 VersG zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je 20 Euro. Gegen dieses Urteil legte der Beschwerdeführer Revision ein, die er mit der Sachrüge begründete.
11Die Revision wurde durch das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom als unbegründet verworfen. Die vom Amtsgericht aufgrund rechtsfehlerfreier, von der Revision nicht beanstandeter Beweiswürdigung getroffenen Feststellungen trügen die Verurteilung des Beschwerdeführers. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers sei die Strafvorschrift des § 21 VersG nicht auf solche Störer begrenzt, die nicht ihrerseits Teilnehmer einer Versammlung seien. Das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG werde durch § 21 VersG nicht verletzt. Mit der Strafnorm des § 21 VersG ziele der Gesetzgeber nicht darauf ab, das Grundrecht der Versammlungsfreiheit über die in ihm selbst angelegten Schranken hinaus einzuschränken. § 21 VersG diene vielmehr dem Schutz der Versammlungsfreiheit und der Konkretisierung immanenter Schranken. Das Amtsgericht habe auch zu Recht und mit zutreffender Begründung eine Verletzung des Bestimmtheitsgebots durch § 21 VersG verneint. Der unbestimmte Rechtsbegriff der "groben Störung" sei - gerade vor dem Hintergrund der anderen Tatbestandsvarianten (Verursachen oder Androhen von Gewalttätigkeiten) und in Abgrenzung zum Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 4 VersG - einer am Schutzzweck der Norm orientierten verfassungskonformen Auslegung ohne Weiteres zugänglich.
12Die dagegen gerichtete Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wurde mit als unbegründet verworfen.
II.
13Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen das und den . Im Rahmen seines Beschwerdevorbringens, das er durch weitere Schriftsätze vertieft und ergänzt hat, rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 2 GG.
14Die Fachgerichte seien zwar zu Recht davon ausgegangen, dass die Gegendemonstration, an der der Beschwerdeführer teilgenommen habe, ihrerseits von der Versammlungsfreiheit geschützt gewesen sei. Hieraus hätten die Fachgerichte jedoch unzureichende Konsequenzen gezogen. Die von ihnen vorgenommene Gesetzesauslegung beruhe auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Grundrechte. § 21 VersG habe verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden müssen, dass von der Versammlungsfreiheit geschütztes Verhalten von diesem Straftatbestand nicht erfasst werde. Dies folge aus den für Eingriffe in Art. 8 Abs. 1 GG geltenden Schranken-Schranken, insbesondere dem Zitiergebot und dem Bestimmtheitsgebot (1). Die Entscheidungen verletzten darüber hinaus Art. 103 Abs. 2 GG als eigenständiges Grundrecht (2). Die Grundrechtsverletzungen seien auch entscheidungserheblich; bei einer verfassungskonformen Auslegung des § 21 VersG wäre ein Freispruch des Beschwerdeführers zumindest möglich gewesen (3).
151. Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, dass seine strafrechtliche Verurteilung auf der Grundlage von § 21 VersG einen nicht gerechtfertigten Eingriff in seine Versammlungsfreiheit darstelle.
16a) Die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers greife in dessen Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG ein, auf die er sich berufen könne. Die Sitzblockade, an der er teilgenommen habe, falle unter den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Versammlungsbegriff, demzufolge eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung sei. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts sei es dem Beschwerdeführer und den anderen Gegendemonstranten darum gegangen, ihrer Kritik an der Vereinigung (...), an deren Position zu Schwangerschaftsabbrüchen, an deren Haltung gegenüber Homosexualität und an deren veraltetem Gesellschaftsbild Ausdruck zu verleihen. Dieses Anliegen sei sowohl im Vorfeld der Gegendemonstration durch entsprechende Aufrufe als auch während der Aktion durch Sprechchöre, Plakate und Transparente nach außen kundgetan worden. Bei der Aktion habe es sich auch nicht um eine reine "Verhinderungsblockade" gehandelt.
17Die Sitzblockade sei darüber hinaus friedlich im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG gewesen. Wie sich aus den Feststellungen des Amtsgerichts ergebe, habe sich das Verhalten des Beschwerdeführers und der anderen Gegendemonstranten darauf beschränkt, durch ihre physische Präsenz die Torbögen des Freiburger Martinstores unpassierbar zu machen. Es seien keinerlei körperliche Einwirkungen auf Personen oder Sachen erfolgt.
18b) Der Eingriff in die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers sei nicht gerechtfertigt. § 21 VersG erfülle nicht die verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein die Versammlungsfreiheit einschränkendes Gesetz. Bei einer Anwendung des § 21 VersG auf von Art. 8 Abs. 1 GG geschütztes Verhalten werde sowohl das in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG normierte Zitiergebot (aa) als auch das sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebende Bestimmtheitsgebot (bb) verletzt.
19aa) Eine Anwendung des § 21 VersG auf versammlungsspezifisches Verhalten verstoße zunächst gegen das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Zitiergebot werde durch den Eingriff in die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG ausgelöst. Gleichwohl werde die Versammlungsfreiheit weder in § 20 VersG noch in einer anderen Norm als ein durch § 21 VersG potenziell einschränkbares Grundrecht genannt.
20(1) Die Annahme der Fachgerichte, § 21 VersG verstoße nicht gegen das Zitiergebot, weil dieser Straftatbestand nicht darauf abziele, die Versammlungsfreiheit einzuschränken, sondern gerade deren Schutz diene, sei zwar insoweit nachvollziehbar, als es tatsächlich eines einschränkenden Kriteriums für die Auslösung des Zitiergebots bedürfe. Das von den Fachgerichten gewählte Finalitätskriterium sei jedoch ungeeignet, sofern man es subjektiv und bezogen auf die primäre Zielsetzung einer Maßnahme verstehe. Insbesondere gerate es in Friktionen mit der Warn- und Besinnungsfunktion des Zitiergebots und führe dazu, dass das Zitiergebot faktisch überflüssig werde. Für ein weites Verständnis des Finalitätskriteriums spreche auch die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
21Für die Auslösung des Zitiergebots sei daher von einem alternativen Ansatz auszugehen: Erstens sei für die Beurteilung der Finalität nicht auf das mit dem Grundrechtseingriff verfolgte Endziel abzustellen; vielmehr sei die Finalität auch gegeben, wenn es sich um eine bloße "Durchgangsbeschränkung" handele, der Eingriff damit lediglich notwendiges Zwischenziel oder Nebenfolge sei. Zweitens könne es für die Auslösung des Zitiergebots nicht allein auf die subjektive Intention des Gesetzgebers ankommen. Drittens sei zwischen der Normebene und der Ebene des konkreten Grundrechtseingriffs zu differenzieren. Gemessen daran lösten sowohl § 21 VersG als auch die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers das Zitiergebot aus.
22(2) Die Fachgerichte seien darüber hinaus zu Unrecht davon ausgegangen, dass das Zitiergebot deshalb nicht greife, weil die Strafbarkeit nach § 21 VersG im Falle des Zusammentreffens zweier Versammlungen lediglich Ausdruck der "immanenten Schranken" sei, denen die Versammlungsfreiheit der Gegendemonstranten im Falle der Grundrechtskollision unterliege. Bei der Versammlungsfreiheit handele es sich - im Unterschied etwa zur Eigentums- und Berufsfreiheit - nicht um ein ausgestaltungsbedürftiges Grundrecht. Eine Ausnahme vom Zitiergebot folge auch nicht allein daraus, dass § 21 VersG ein Rechtsgut von Verfassungsrang schütze. Ferner diene § 21 VersG, zumindest in der Tatbestandsalternative der "groben Störung", nicht der Sicherung der Friedlichkeit als Schutzbereichsgrenze.
23(3) Es sei auch sonst keine der anerkannten Ausnahmen vom Zitiergebot einschlägig. § 21 VersG sei weder eine von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ausgenommene vorkonstitutionelle Norm, noch handele es sich um ein nachkonstitutionelles Gesetz, das im vorkonstitutionellen Recht enthaltene Grundrechtseinschränkungen unverändert oder mit geringen Abweichungen wiederhole; zwar habe der im Jahr 1953 in Kraft getretene § 21 VersG die zuvor geltende Strafvorschrift des § 107a StGB a.F. ersetzt, der Straftatbestand habe aber mit der Tatbestandsalternative der "groben Störung" eine erhebliche Ausweitung erfahren. Eine Ausnahme vom Zitiergebot bestehe auch nicht deshalb, weil ein Grundrechtseingriff offensichtlich sei oder weil es an der Gewährung spezifisch hoheitlicher Befugnisse fehle.
24(4) Der Straftatbestand des § 21 VersG sei daher im Wege der verfassungskonformen Auslegung auf versammlungsfremdes Verhalten zu reduzieren. Anstatt Gesetze, die auch sonstiges, nicht grundrechtlich geschütztes Verhalten erfassten, gänzlich vom Zitiergebot zu befreien, sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber nicht zu (finalen) Eingriffen in die nicht zitierten Grundrechte habe ermächtigen wollen.
25bb) § 21 VersG sei auch zu unbestimmt, um als Rechtsgrundlage für einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit herangezogen zu werden.
26Das in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Bestimmtheitsgebot verlange vom Gesetzgeber, Tatbestandsmerkmale so konkret zu umreißen und so genau zu bestimmen, dass Tragweite und Anwendungsbereich des Straftatbestands zu erkennen seien und sich durch Auslegung ermitteln ließen. Gemessen daran verstoße die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der "groben Störung" durch das Amtsgericht und das Oberlandesgericht gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Für Versammlungsteilnehmer, die sich selbst in einer grundrechtlich geschützten Versammlung befänden, sei nicht zu erkennen, welches Verhalten im Einzelfall verboten und strafbar sein solle. Aufgrund der tatbestandlichen Gleichstellung von grober Störung und Gewalttätigkeit sei für die Normunterworfenen nur schwer verständlich, dass auch ein rein passives Verhalten wie das Sitzenbleiben strafbar sein solle. Daneben ergebe sich der Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot gerade bei Anwendung des § 21 VersG auf versammlungsspezifisches Verhalten; soweit das eigene Verhalten dem Grundrechtsschutz unterfalle und obendrein rein passiv bleibe, sei für die Normunterworfenen nicht mehr erkennbar, ob ihre Versammlungsteilnahme als "unentbehrliches Funktionselement eines demokratischen Gemeinwesens" angesehen und hingenommen werde oder strafbewehrt sei.
27Vor diesem Hintergrund sei ein entsprechender Straftatbestand de lege ferenda etwa so auszugestalten, dass die Strafbarkeit an eine der Versammlungsstörung vorausgehende konkretisierende Einzelverfügung der Versammlungsbehörde anknüpfe.
28Das Bestimmtheitsgebot gebiete daher im Ergebnis eine verfassungskonforme Auslegung des Tatbestandsmerkmals der "groben Störung" dahingehend, dass von Art. 8 Abs. 1 GG geschütztes Verhalten nicht erfasst werde.
292. Aus den vorstehenden Ausführungen folge überdies, dass die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer auch in seinem eigenständigen grundrechtsgleichen Recht auf strafgesetzliche Bestimmtheit aus Art. 103 Abs. 2 GG verletzten.
303. Die Verletzung der Versammlungsfreiheit und des Bestimmtheitsgebots seien für die angegriffenen Entscheidungen auch entscheidungserheblich gewesen. Bei einer hinreichenden Berücksichtigung der Grundrechte des Beschwerdeführers hätten die Fachgerichte jedenfalls das vor der Versammlungsauflösung liegende Verhalten nicht als "grobe Störung" im Sinne des § 21 VersG qualifizieren dürfen. Hinsichtlich des nach der Versammlungsauflösung liegenden Verhaltens hätten sich die Fachgerichte mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die nach den Feststellungen des Amtsgerichts erfolgte Auflösung der Versammlung rechtmäßig gewesen sei. Denn allein eine rechtmäßige Versammlungsauflösung vermöge den Schutz durch Art. 8 Abs. 1 GG aufzuheben. Aber selbst wenn die Fachgerichte die Versammlungsauflösung als rechtmäßig eingestuft hätten, stelle sich die Verletzung von Art. 8 Abs. 1 GG als entscheidungserheblich dar. Da sich in diesem Fall das der strafrechtlichen Würdigung unterliegende Verhalten auf wenige Minuten beschränke, sei nicht auszuschließen, dass die Fachgerichte bei einer Würdigung lediglich dieses Verhaltens zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich der Strafbarkeit gekommen wären.
III.
311. Von der im Verfassungsbeschwerdeverfahren eingeräumten Möglichkeit zur Stellungnahme hat ausschließlich die Bundesregierung Gebrauch gemacht.
32Sie vertritt den Standpunkt, dass § 21 VersG mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Auch der Beschwerdeführer mache nicht die Verfassungswidrigkeit dieser Norm geltend, sondern fordere eine enge Auslegung, die er für verfassungsrechtlich geboten halte. Im Ergebnis verlange allerdings keine der von dem Beschwerdeführer nur teilweise angesprochenen Schranken-Schranken eine verfassungskonforme Auslegung des § 21 VersG in dem vom Beschwerdeführer geltend gemachten Sinne.
33a) Das Zitiergebot sei nicht verletzt, wenn das Tatbestandsmerkmal der "groben Störung" in § 21 VersG auch auf durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Teilnehmer von Versammlungen angewandt werde.
34aa) § 20 VersG trage dem Zitiergebot auch im Hinblick auf § 21 VersG Rechnung. Die Straf- und Bußgeldvorschriften des vierten Abschnitts des Versammlungsgesetzes seien regelmäßig akzessorisch zu den zuvor genannten Normen und knüpften an die Eingriffe (auch) des dritten Abschnitts an. Diese Akzessorietät lasse sich gerade auch für den Fall der "groben Störungen" nachweisen. Zunächst sehe § 2 Abs. 2 VersG für jedermann die allgemeine Pflicht vor, bei öffentlichen Versammlungen und Aufzügen Störungen zu unterlassen, die bezweckten, die ordnungsgemäße Durchführung zu verhindern. Sodann ermächtigten im dritten Abschnitt des Versammlungsgesetzes § 18 Abs. 3 und § 19 Abs. 4 VersG die Polizei bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen, Teilnehmer einer Versammlung, welche die Ordnung gröblich störten, von dieser Versammlung oder dem Aufzug auszuschließen. § 20 VersG zitiere hieran anknüpfend Art. 8 GG als eingeschränktes Grundrecht, bevor § 21 VersG akzessorisch die Verursachung der groben Störungen von Versammlungen und Aufzügen pönalisiere. Die Akzessorietät zwischen verwaltungsrechtlichen Pflichten und Strafnormen sei hierbei auch nicht eng zu verstehen; es genüge vielmehr ein weitergehender Bezug zwischen Verhaltenspflicht und Strafnorm, damit das Grundrechtszitat hinsichtlich ersterer auch für zweitere gelte.
35bb) Doch selbst wenn man dieser Argumentation nicht folge, sei das Zitiergebot für die hier maßgebliche Konstellation nicht einschlägig und damit nicht verletzt. Das Bundesverfassungsgericht fordere eine Zitierung des eingeschränkten Grundrechts nicht für jede Art des Eingriffs, sondern im Grundsatz nur für finale Eingriffe. Soweit § 21 VersG auch auf Störer Anwendung finden könne, die Teilnehmer einer (anderen) von Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Versammlung seien, fehle es allerdings an einem - nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht ausschließlich subjektiv, sondern auch objektiv zu verstehenden - "finalen" Eingriff.
36Nehme man mit Teilen der Literatur eine strengere Handhabung des Zitiergebots an, sei das Zitiergebot vorliegend dennoch nicht anwendbar, weil es jedenfalls an einer - ex ante und aus Sicht eines objektiven Betrachters in der Situation des Gesetzgebers zu beurteilenden - hinreichenden Vorhersehbarkeit des Eingriffs in Art. 8 GG fehle.
37Unabhängig davon spreche gegen die Anwendung des Zitiergebots, dass die dritte Variante des § 21 VersG die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG lediglich mit kollidierenden Verfassungsrechtsgütern in Ausgleich bringe. Ferner sei darauf hinzuweisen, dass die Regelungstechnik insoweit allgemeinen Gesetzen im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG und Generalklauseln im präventiven Ordnungsrecht verwandt sei.
38b) Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG sei ebenfalls nicht festzustellen. Die dritte Variante des § 21 VersG genüge den verfassungsgerichtlichen Maßstäben in jeglicher Hinsicht. Der Begriff der "groben Störung" sei zwar als unbestimmter Rechtsbegriff auslegungsbedürftig. Allerdings sei § 21 VersG seit 1953 in Kraft. In diesen über siebzig Jahren habe die Bedeutung der Norm in ihrer Anwendung durch die Staatsanwaltschaften und Gerichte sowie in verschiedenen wissenschaftlichen Kommentierungen gefestigt werden können. Der Begriff habe sich als der Auslegung zugänglich erwiesen und konturiert werden können. Zudem verwende das Versammlungsgesetz des Bundes auch an anderer Stelle, namentlich in den § 11 Abs. 1, § 18 Abs. 3, § 19 Abs. 4 VersG, den Begriff der "gröblichen Störungen", der nach allgemeiner Ansicht demjenigen der "groben Störung" entspreche. Nicht zuletzt erlaube der Begriff der "groben Störung" auch eine Auslegung gerade im Lichte gegebenenfalls kollidierender Grundrechtspositionen. Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers bedürfe es für die Verfassungskonformität des § 21 VersG auch keiner Ergänzung des Tatbestands um eine vorherige Konkretisierung durch behördlichen Verwaltungsakt.
39c) Die dritte Variante des § 21 VersG sei auch verhältnismäßig, ermögliche der Begriff der "groben Störung" doch gerade, die widerstreitenden Grundrechtspositionen im Einzelfall zu einem verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen.
402. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
B.
41Die Verfassungsbeschwerde ist nur teilweise zulässig. Sie richtet sich zwar mit den unmittelbar angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen und mit dem mittelbar angegriffenen § 21 VersG gegen taugliche Beschwerdegegenstände im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG (I). Eine mögliche Verletzung in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten hat der Beschwerdeführer allerdings lediglich hinsichtlich der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG hinreichend substantiiert dargelegt (II). Insoweit wird die Verfassungsbeschwerde auch den weiteren Zulässigkeitsanforderungen der Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität gerecht (III).
I.
421. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich unmittelbar gegen das mit dem der Beschwerdeführer wegen Verstoßes gegen § 21 VersG zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt worden ist, sowie gegen den mit dem die Revision gegen das Urteil des Amtsgerichts als unbegründet verworfen worden ist.
432. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich zugleich aber auch mittelbar gegen den Straftatbestand des § 21 VersG. Dem steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer den Straftatbestand des § 21 VersG in seiner Verfassungsbeschwerdeschrift vom nicht explizit als mittelbaren Beschwerdegegenstand bezeichnet hat. Zum einen hat der Beschwerdeführer in seinem ergänzenden Schriftsatz vom einen möglichen mittelbaren Angriff auf den Straftatbestand des § 21 VersG selbst impliziert; zum anderen ist sein Beschwerdevorbringen jedenfalls entsprechend auszulegen.
44Der Beschwerdeführer hat im Rahmen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zwar ausdrücklich betont, dass sich seine verfassungsrechtlichen Bedenken nicht gegen den Straftatbestand des § 21 VersG als solchen, sondern vielmehr gegen die Auslegung und Anwendung dieses Straftatbestands in den angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen richteten. Der Beschwerdeführer fordert nur eine - seiner Ansicht nach mögliche und gebotene - verfassungskonforme Auslegung des § 21 VersG durch die Fachgerichte. Das Gebot der verfassungskonformen Gesetzesauslegung kommt aber nur dann zur Anwendung, wenn mehrere mögliche Normdeutungen teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen (vgl. BVerfGE 134, 33 <63 Rn. 77>; 160, 1 <25 Rn. 70> - Umschlagsverbot für Kernbrennstoffe in Bremer Häfen; 168, 1 <68 Rn. 193> m.w.N. - Beteiligungsidentische Schwesterpersonengesellschaften). Die vom Beschwerdeführer geforderte verfassungskonforme Auslegung des § 21 VersG setzt damit im Ausgangspunkt verfassungsrechtliche Bedenken gerade auch gegen die in Frage stehende Norm voraus.
45Vor allem stützt sich der Beschwerdeführer hier im Kern auf zwei Einwendungen - einen Verstoß gegen das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG und einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot nach Art. 103 Abs. 2 GG -, die konkrete, an den Gesetzgeber gerichtete verfassungsrechtliche Anforderungen betreffen und typischerweise die Verfassungswidrigkeit einer Norm zur Folge haben. Speziell im Falle von Bestimmtheitsmängeln sind einer (einengenden) verfassungskonformen Auslegung durch die Strafgerichte von vornherein klare Grenzen gesetzt (vgl. zum strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot BVerfGE 105, 135 <153>; vgl. auch zum allgemeinen Bestimmtheitsgebot BVerfGE 120, 378 <423 f.>). Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer selbst davon ausgeht, dass sich die von ihm vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 21 VersG im Wege einer verfassungskonformen Auslegung überwinden ließen, ändert an der grundsätzlichen Stoßrichtung seines Vorbringens nichts.
II.
46Eine mögliche Verletzung in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten hat der Beschwerdeführer nur teilweise hinreichend dargelegt. Nicht gerecht wird die Verfassungsbeschwerde den diesbezüglichen Begründungsanforderungen nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG (1), soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG geltend macht (2). Eine mögliche Verletzung in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG hat der Beschwerdeführer demgegenüber in zulässiger Weise gerügt (3).
471. Nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG muss sich die Verfassungsbeschwerde mit dem zugrundeliegenden Fachrecht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten möglich erscheint (vgl. BVerfGE 140, 229 <232 Rn. 9>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom - 1 BvR 548/22 -, Rn. 37 - Polizeikosten Hochrisikospiele). Liegt zu den mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Verfassungsfragen bereits Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor, so ist die behauptete Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten in Auseinandersetzung mit den darin entwickelten Maßstäben zu begründen (vgl. BVerfGE 140, 229 <232 Rn. 9>; 153, 74 <137 Rn. 104> - Einheitliches Patentgericht; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom - 1 BvR 548/22 -, Rn. 37). Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung, ist darzulegen, dass sie auf der Anwendung einer verfassungswidrigen Norm beruht oder dass bei der Anwendung von Fachrecht spezifisches Verfassungsrecht oder das Willkürverbot verletzt wurde (vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom - 1 BvR 548/22 -, Rn. 37 m.w.N.).
482. Gemessen an diesen Maßstäben hat der Beschwerdeführer eine mögliche Verletzung in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 2 GG nicht hinreichend dargelegt. Dies gilt nicht nur, soweit er eine eigenständige Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG rügt, sondern auch, soweit er sich - im Rahmen der ebenfalls gerügten Verletzung des Art. 8 Abs. 1 GG - auf Art. 103 Abs. 2 GG als Schranken-Schranke beruft.
49a) Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Seine Bedeutung erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält darüber hinaus für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie (vgl. BVerfGE 143, 38 <52 f. Rn. 34 f.>; 153, 310 <339 Rn. 70 f.> - Knorpelfleisch; 159, 223 <292 Rn. 154> - Bundesnotbremse I <Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen>; 160, 284 <317 Rn. 88> - Verbotene Kraftfahrzeugrennen <§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB>; stRspr).
50b) Der hiernach erforderlichen Differenzierung zwischen dem auf der Grundlage des Bestimmtheitsgebots zu prüfenden Straftatbestand des § 21 VersG (aa) und der auf der Grundlage des Analogieverbots zu prüfenden fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung des § 21 VersG im Einzelfall (bb) trägt der Beschwerdeführer nicht hinreichend Rechnung.
51aa) Hinsichtlich des an den Gesetzgeber gerichteten Bestimmtheitsgebots legt der Beschwerdeführer zwar die zentralen vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäbe dar. Ausgehend von diesen Maßstäben arbeitet er allerdings nicht hinreichend deutlich heraus, dass tatsächlich ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot in Betracht kommen könnte.
52Es fehlt insbesondere an einer näheren Auseinandersetzung mit der sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellenden Frage, ob hinsichtlich des konkretisierungsbedürftigen Tatbestandsmerkmals der "groben Störung" mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden und unter Berücksichtigung gefestigter Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewonnen werden kann (vgl. auch BVerfGE 143, 38 <55 Rn. 41>; 153, 310 <341 Rn. 77>; 159, 223 <293 Rn. 156>; 160, 284 <319 f. Rn. 95>; 161, 299 <408 f. Rn. 272> - Impfnachweis <COVID-19>). Auf Darlegungen dazu, wie das Tatbestandsmerkmal der "groben Störung" in der fachgerichtlichen Rechtsprechung ausgelegt und angewendet wird und inwieweit sich diesbezüglich bereits eine gefestigte Rechtsprechung herausgebildet hat, hat der Beschwerdeführer vollständig verzichtet.
53bb) Hinsichtlich einer möglicherweise in Betracht kommenden Verletzung des Analogieverbots durch die angegriffenen Entscheidungen sind die Begründungsanforderungen nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ebenfalls nicht erfüllt. In diesem Zusammenhang mangelt es jedenfalls an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit den hierzu vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben.
54Die Ausführungen des Beschwerdeführers zu den Art. 103 Abs. 2 GG betreffenden Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts beschränken sich im Wesentlichen auf das an den Gesetzgeber gerichtete Bestimmtheitsgebot. Demgegenüber geht der Beschwerdeführer nicht näher darauf ein, welche Vorgaben nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem mit dem Bestimmtheitsgebot korrespondierenden Analogieverbot für die Strafgerichte bestehen. Dies betrifft insbesondere die hier relevante Fragestellung, unter welchen Voraussetzungen das für die Strafgerichte geltende Analogieverbot nicht nur eine über den Wortlaut hinausgehende, tatbestandserweiternde Auslegung durch die Fachgerichte verbietet, sondern sogar eine hinter dem Wortlaut zurückbleibende, tatbestandseinschränkende Auslegung gebieten kann (vgl. BVerfGE 126, 170 <197 f.>; 160, 284 <320 f. Rn. 97>). Dies gilt in gleicher Weise für die Anforderungen eines sich aus Art. 103 Abs. 2 GG für die Strafgerichte ergebenden Präzisierungsgebots (vgl. BVerfGE 126, 170 <198 f.>; 160, 284 <321 f. Rn. 98>). Daher zeigt der Beschwerdeführer nicht hinreichend auf, dass die zuständigen Fachgerichte den für sie aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Anforderungen nicht gerecht geworden wären.
553. Hinsichtlich der gerügten Verletzung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG sind die Begründungsanforderungen nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG demgegenüber erfüllt.
III.
56Der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG und der Grundsatz der Subsidiarität sind gewahrt. Zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde führt insbesondere nicht, dass der Beschwerdeführer gegen das anstelle des auch statthaften Rechtsmittels der Berufung - sogleich das Rechtsmittel der (Sprung-)Revision eingelegt hat. Die vorherige Einlegung einer Berufung war in dem hier zu entscheidenden Fall weder zur Erschöpfung des Rechtswegs (1) noch aus Gründen der Subsidiarität (2) geboten.
571. Der nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erforderlichen Rechtswegerschöpfung steht das von dem Beschwerdeführer gewählte Rechtsmittel der Sprungrevision nach § 335 StPO nicht entgegen.
58a) Nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist eine Verfassungsbeschwerde grundsätzlich erst nach Erschöpfung des Rechtswegs zulässig. Der Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG umfasst jede gesetzlich normierte Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts (vgl. BVerfGE 67, 157 <170>; 122, 190 <203>). Vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde muss ein Beschwerdeführer insbesondere den ihm nach der jeweiligen Verfahrensordnung eröffneten Instanzenzug durchlaufen (vgl. BVerfGE 68, 376 <380> m.w.N.).
59Dem hiernach gebotenen Durchlaufen des nach der jeweiligen Verfahrensordnung eröffneten Instanzenzugs steht die Einlegung des Rechtsmittels der Sprungrevision anstelle des Rechtsmittels der Berufung nicht von vornherein entgegen. Soweit eine Verfahrensordnung - etwa aus Gründen der Verfahrensvereinfachung und Verfahrensbeschleunigung - ausdrücklich die Möglichkeit einer Rechtswegabkürzung eröffnet, ist auch dieser abgekürzte Rechtsweg als gesetzlich zulässiger und damit als für die Rechtswegerschöpfung maßgeblicher Rechtsweg anzusehen (vgl. hierzu auch BayVerfGHE 36, 197; Niesler, in: Walter, BeckOK BVerfGG, § 90 Abs. 2 Rn. 118 <Juni 2025>; Henke, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2. Aufl. 2022, § 90 Rn. 160; Jahn, in: Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge, Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, 3. Aufl. 2025, Rn. 235).
60b) Gemessen an diesen Maßstäben begegnet es unter dem Gesichtspunkt der Rechtswegerschöpfung keinen Bedenken, dass der Beschwerdeführer mit der Einlegung des Rechtsmittels der Sprungrevision nach § 335 StPO das gesetzlich vorgesehene Rechtsmittel der Berufung übersprungen und damit bewusst auf eine weitere Tatsacheninstanz verzichtet hat. Der Beschwerdeführer hat gleichwohl den in der Strafprozessordnung vorgesehenen Instanzenzug ordnungsgemäß durchlaufen.
612. Zu einem anderen Ergebnis führt in dem vorliegenden Fall auch nicht der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde.
62a) Nach dem - auch in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden - Grundsatz der Subsidiarität sind Beschwerdeführer über die Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus gehalten, vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 140, 229 <232 Rn. 10>; 170, 79 <113 Rn. 92> - BND - Cybergefahren; BVerfG, Beschlüsse des Ersten Senats vom - 1 BvR 2466/19 -, Rn. 78 - Trojaner I und vom - 1 BvR 368/22 -, Rn. 17 - Berliner Hochschulgesetz; stRspr). Der Subsidiaritätsgrundsatz soll vor allem sichern, dass durch die umfassende fachgerichtliche Vorprüfung der Beschwerdepunkte dem Bundesverfassungsgericht ein regelmäßig in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet wird und ihm die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Gerichte vermittelt werden; zugleich wird damit der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung entsprochen, nach der vorrangig die Fachgerichte Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen gewähren (vgl. BVerfGE 68, 376 <380>; 72, 39 <43>; 77, 381 <401>; 86, 15 <27>; 140, 229 <233 Rn. 10>).
63Dennoch ist das bewusste Überspringen einer zur Verfügung stehenden weiteren (Tatsachen-)Instanz im Wege der Sprungrevision unter Subsidiaritätsgesichtspunkten nicht als generelles Zulässigkeitshindernis zu bewerten. Zwar lässt ein Beschwerdeführer im Fall einer Sprungrevision bewusst eine Instanz aus, in der eine Beseitigung der geltend gemachten Grundrechtsverletzung jedenfalls möglich gewesen wäre. Auch kann eine Abkürzung des Rechtswegs über das Rechtsmittel der Sprungrevision einen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht für die verfassungsgerichtliche Prüfung weniger umfassend aufbereiteten Sachverhalt nach sich ziehen.
64Der Annahme eines generellen Zulässigkeitshindernisses im Falle der Sprungrevision steht jedoch entgegen, dass die vom Gesetzgeber letztlich in verschiedenen Prozessordnungen mit der Sprungrevision verfolgten Ziele der Verfahrensbeschleunigung und Prozessökonomie (vgl. exemplarisch zur Zivilprozessordnung BTDrucks 14/4722, S. 108 f.) maßgeblich konterkariert würden. Diese Ziele würden vereitelt, wenn sich Beschwerdeführer mit ihrer Entscheidung für eine Sprungrevision jede Möglichkeit einer späteren Verfassungsbeschwerde von vornherein abschnitten, weil hierdurch ein Anreiz gesetzt würde, von der Einlegung einer Sprungrevision abzusehen.
65Die Entscheidung eines Beschwerdeführers für das Beschreiten eines abgekürzten Rechtswegs steht der späteren Erhebung einer Verfassungsbeschwerde - mit Rücksicht auf die von Seiten des Gesetzgebers mit der Sprungrevision verfolgte Intention - unter Subsidiaritätsgesichtspunkten daher nicht grundsätzlich entgegen. Die Verfassungsbeschwerde kann in diesem Fall allerdings nicht auf solche Einwände gestützt werden, die fachrechtlich nur vor der übersprungenen Instanz hätten geltend gemacht werden können (ausdrücklich offenlassend BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2103/20 -, Rn. 40; ähnlich auch BayVerfGHE 36, 197; Jahn, in: Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge, Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, 3. Aufl. 2025, Rn. 235).
66b) Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Verfassungsbeschwerde auch unter Subsidiaritätsgesichtspunkten nicht als unzulässig anzusehen, weil der Beschwerdeführer gegen das Urteil des Amtsgerichts die Sprungrevision eingelegt hat. Der Beschwerdeführer erhebt im Rahmen seiner Verfassungsbeschwerde insbesondere keine Einwände, die fachrechtlich nur in der Berufungsinstanz hätten geltend gemacht werden können.
C.
67Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist sie im Ergebnis unbegründet. Der Beschwerdeführer wird durch die angegriffenen Entscheidungen nicht in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG verletzt. Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG ist vorliegend zwar eröffnet (I). Mit der strafrechtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers liegt auch ein Eingriff in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit vor (II). Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers ist dieser Eingriff allerdings auf der Grundlage des Straftatbestands des § 21 VersG verfassungsrechtlich gerechtfertigt (III).
I.
68Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG, der allen Deutschen das Recht gewährt, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln, ist eröffnet. Der Beschwerdeführer als deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG kann sich nicht nur in persönlicher Hinsicht auf den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG berufen. Auch in sachlicher Hinsicht unterfällt seine Teilnahme an der am in der Freiburger Innenstadt durchgeführten Gegendemonstration dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG.
691. Der sachliche Schutzbereich der Versammlungsfreiheit, bei dessen Bestimmung die grundlegende Bedeutung der Versammlungsfreiheit für das demokratische Gemeinwesen zu berücksichtigen ist (a), wird maßgeblich durch den Begriff der Versammlung sowie durch die Reichweite versammlungsspezifischen Verhaltens definiert (b). Speziell mit Blick auf Zusammenkünfte - insbesondere in Form von Blockadeaktionen -, die auf die Störung, Verhinderung oder Sprengung einer anderen Versammlung gerichtet sind, bedarf es insoweit allerdings einer weitergehenden Konkretisierung und Präzisierung der bisherigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe (c). Ausgenommen vom sachlichen Schutzbereich der Versammlungsfreiheit sind jedenfalls Versammlungen, die die Schutzbereichsgrenzen der Friedlichkeit und Waffenlosigkeit überschreiten (d) oder die rechtmäßig aufgelöst worden sind (e).
70a) Die Versammlungsfreiheit zählt zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens und ist für die freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend (vgl. BVerfGE 69, 315 <344 f., 347>; 128, 226 <250>). In einem demokratischen Gemeinwesen, das grundsätzlich auf der politischen Willensbildung von unten nach oben - vom Volk zu den Staatsorganen - aufbaut, kommt der freien, offenen, unreglementierten und grundsätzlich "staatsfreien" Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungsbildung eine essenzielle Bedeutung zu. Der einer Demokratie immanente kontinuierliche Meinungskampf mit seinen wiederkehrenden, auf der Grundlage des Mehrheitsprinzips zu treffenden Entscheidungen erfordert fortwährend einen freien, offenen und pluralistischen Diskurs, in dem auch andersdenkende Minderheiten zu Wort kommen und Gehör finden. Vor diesem Hintergrund stellen Versammlungen als besondere Form der kollektiven Meinungskundgabe ein wesentliches Element dar, um auf die politische Meinungsbildung hinreichenden Einfluss ausüben zu können (vgl. hierzu bereits BVerfGE 69, 315 <343 ff.>, insbesondere auch unter Verweis auf BVerfGE 20, 56 <98 f.>).
71Diese fundamentale Bedeutung der Freiheit zur Versammlung in physischer Präsenz für die freiheitliche demokratische Staatsordnung wird durch die fortschreitende Digitalisierung und wachsende Bedeutung sozialer Medien nicht in Frage gestellt. Zwar werden in einer zunehmend digitalisierten Welt für die Einzelnen beständig neue Wege und Plattformen eröffnet, sich aktiv in den Prozess der politischen Meinungsbildung einzubringen. Heute lässt sich daher nicht mehr ohne Weiteres davon sprechen, dass dem Einzelnen nur beschränkte Möglichkeiten zur Verfügung stünden, seine Meinung zu äußern und damit auf den politischen Meinungsbildungsprozess Einfluss zu nehmen (so aber noch BVerfGE 69, 315 <346>). Trotz oder gerade wegen seiner Offenheit für grundsätzlich jeden Meinungsbeitrag unterliegt der über soziale Medien stattfindende Prozess der öffentlichen Meinungsbildung allerdings selektierenden Steuerungsmechanismen, insbesondere in Form von Algorithmen, die maßgeblichen Einfluss auf Adressatenkreis und Reichweite einer Meinungskundgabe entfalten (vgl. BVerfGE 149, 222 <261 f. Rn. 79>; 158, 389 <419 Rn. 80> - Staatsvertrag Rundfunkfinanzierung). Eine Versammlung in physischer Präsenz im öffentlichen Raum stellt daher auch in einer zunehmend digitalisierten Welt ein unverzichtbares Instrument der kollektiven Meinungskundgabe dar, durch das ein gemeinsames kommunikatives Anliegen unmittelbar erlebbar wird und unabhängig von den Steuerungsmechanismen entsprechender Online-Plattformen direkt an einen konkreten Adressatenkreis oder allgemein an die Öffentlichkeit gerichtet werden kann.
72Vor diesem Hintergrund nimmt der öffentliche Straßenraum - mit seinem historisch leitbildprägenden Vorläufer des öffentlichen Forums - auch in einer zunehmend digitalisierten Welt weiterhin die Funktion einer zentralen gesellschaftlichen Plattform ein, über die Bürgerinnen und Bürger ihre Anliegen besonders wirksam in die Öffentlichkeit tragen und einen meinungsbildenden Diskurs anstoßen können. Dieser Raum bietet allen in gleicher Weise den erforderlichen physischen Ort, um ihre Meinungen und Forderungen einerseits sowie ihren Protest und Unmut andererseits sinnbildlich "auf die Straße zu tragen" (vgl. hierzu bereits BVerfGE 128, 226 <251 ff.>). Damit eröffnen öffentliche Straßen und Plätze einen pluralistischen Raum, der sich durch die Existenz, das Aufeinandertreffen und die Konkurrenz verschiedenster Meinungen und Ideen auszeichnet und der in der digitalen Welt, in der die präsentierten Inhalte gegebenenfalls gezielt durch Algorithmen auf die Interessen und Neigungen der Nutzerinnen und Nutzer zugeschnitten werden (vgl. hierzu bereits BVerfGE 149, 222 <261 f. Rn. 79>; 158, 389 <419 Rn. 80>), keine vollständig funktionsgleiche Entsprechung findet.
73Doch die Funktion von öffentlichen Straßen und Plätzen beschränkt sich nicht allein darauf, einen physischen Ort für die Durchführung von Versammlungen zur Verfügung zu stellen. Öffentliche Straßen und Plätze können auch wesentlicher Bestandteil einer kollektiven Meinungsäußerung sein. Die volle Aussagekraft einer Versammlung entfaltet sich in bestimmten Fällen erst durch ihren räumlichen Bezugspunkt - beispielsweise eine Straße, einen Platz oder die Nähe zu einem Bauwerk -, gegebenenfalls verbunden mit einem spezifischen Zeitpunkt (vgl. BVerfGE 69, 315 <323, 345, 365>; 128, 226 <251>). Menschen versammeln sich mitunter an bestimmten Orten, um - etwa auch in Anknüpfung an die Bedeutung dieser Orte im kollektiven Gedächtnis - ihrem jeweiligen kommunikativen Anliegen ein besonderes Gewicht zu verleihen. Dadurch kann es zu einer sich gegenseitig verstärkenden Wechselwirkung zwischen dem kommunikativen Anliegen einer Versammlung einerseits und der Bedeutung eines physischen Versammlungsortes andererseits kommen.
74b) Ausgehend hiervon schützt Art. 8 Abs. 1 GG die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen (vgl. BVerfGE 104, 92 <104>; 111, 147 <154 f.>; 128, 226 <250>; 143, 161 <210 Rn. 110>). Der Schutz der Versammlungsfreiheit ist nicht auf Zusammenkünfte beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu non-verbalen Ausdrucksformen (vgl. BVerfGE 69, 315 <343>; 87, 399 <406>; 104, 92 <103 f.>; 143, 161 <210 Rn. 110>). Es gehören auch solche mit Demonstrationscharakter dazu, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird (BVerfGE 69, 315 <343>); dies kann grundsätzlich auch in Form einer sogenannten Gegendemonstration geschehen. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, bei der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einerseits in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (vgl. BVerfGE 69, 315 <345>; 128, 226 <250>). Als Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG kommen grundsätzlich auch Sitzblockaden in Betracht (vgl. BVerfGE 73, 206 <248>; 87, 399 <406>; 104, 92 <103 f.>).
75Die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet den Grundrechtsträgern nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben, sondern zugleich das Recht, über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung selbst zu bestimmen. Die Bürgerinnen und Bürger sollen selbst entscheiden können, wo sie ihr Anliegen - gegebenenfalls auch im Blick auf Bezüge zu bestimmten Orten oder Einrichtungen - am wirksamsten zur Geltung bringen können (vgl. BVerfGE 69, 315 <343>; 128, 226 <250 f.>).
76c) Speziell mit Blick auf Zusammenkünfte - insbesondere in Form von Blockadeaktionen -, die auf die Störung, Verhinderung oder Sprengung einer anderen Versammlung gerichtet sind, bedarf es einer näheren Differenzierung. Die allgemein zu Blockadeaktionen entwickelten Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts, nach denen im Wesentlichen zwischen Blockadeaktionen mit dem Ziel der Einwirkung auf die öffentliche Meinungsbildung einerseits und Blockadeaktionen mit dem Ziel der zwangsweisen oder sonst wie selbsthilfeähnlichen Durchsetzung eigener Forderungen andererseits zu differenzieren ist (vgl. BVerfGE 104, 92 <104 f.>), sind auf die hier relevante Konstellation nicht ohne Weiteres übertragbar. Denn bei einer Blockadeaktion, die sich spezifisch gegen eine andere Versammlung mit deren konkreten kommunikativen Anliegen richtet, besteht zwischen der selbsthilfeähnlichen Durchsetzung der eigenen Forderung - etwa der Erzwingung des Abbruchs dieser Versammlung - und der Einwirkung auf die öffentliche Meinungsbildung ein sehr enger Zusammenhang.
77aa) Eine Zusammenkunft, die ausschließlich auf die Störung einer anderen Versammlung gerichtet ist und die nicht zugleich auf einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung abzielt, wird mangels Versammlungseigenschaft von vornherein nicht vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG umfasst.
78Da eine Zusammenkunft für die Eröffnung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit gerade auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sein muss (vgl. hierzu Rn. 74), reicht es mit Blick auf Art. 8 Abs. 1 GG nicht aus, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei ihrer gemeinschaftlichen kommunikativen Entfaltung durch einen beliebigen Zweck verbunden sind (vgl. BVerfGE 104, 92 <104>; 143, 161 <210 Rn. 110>; stRspr). Eine alleinige Störungsabsicht als "aliud zur öffentlichen Meinungsbildung" (vgl. Rusteberg, NJW 2011, S. 2999 <3000 f.>) steht damit der Einordnung als Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG entgegen.
79Keiner Entscheidung bedarf an dieser Stelle, wie es kommunikativ zu gewichten und verfassungsrechtlich zu bewerten ist, wenn eine Blockadeaktion zwar auch ein Element der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung aufweist, sich dieses aber allein in dem mit jeder Störung regelmäßig verbundenen Element der Negation der gestörten oder unterdrückten Meinungskundgabe erschöpft.
80bb) In - typischerweise auftretenden - Gemengelagen, in denen Elemente der Störung einer anderen Versammlung einerseits und Elemente der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung andererseits zusammentreffen, ist der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG jedenfalls dann eröffnet, wenn eine Zusammenkunft - über die bloße Negation der gestörten Meinungskundgabe hinaus (vgl. dazu Rn. 79) - ein eigenständiges Element der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung aufweist, ohne dass es auf dessen Gewichtung gegenüber dem Störungselement ankäme.
81Die im Grundgesetz verankerte Versammlungsfreiheit wird zwar im Wesentlichen als Mittel zur geistigen Auseinandersetzung geschützt (vgl. BVerfGE 69, 315 <359 f.>). Die Schutzwürdigkeit einer Blockadeaktion entfällt aber nicht allein dadurch, dass neben das von einer Blockadeaktion angestrebte eigenständige Element der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung noch ein weiteres Element hinzutritt, das seinerseits den Bereich der geistigen Auseinandersetzung verlässt (anders wohl Depenheuer, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 8 Rn. 63 ff. <Oktober 2020>, nach dem insbesondere eine zweckgerichtete und absichtliche Behinderung Dritter nicht mehr vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG umfasst wird). Für eine so weitgehende Ausschlusswirkung - über die Art. 8 Abs. 1 GG immanenten Schutzbereichsgrenzen der Friedlichkeit und Waffenlosigkeit hinaus - bietet der verfassungsrechtliche Versammlungsbegriff keine Grundlage (vgl. auch Rusteberg, NJW 2011, S. 2999 <3001>).
82Eine Schwerpunktbetrachtung nach dem Gesamtgepräge der jeweiligen Blockadeaktion - ähnlich dem Ansatz bei sogenannten "gemischten" Veranstaltungen (vgl. BVerfGE 143, 161 <210 ff. Rn. 110 ff.>) - vermag ebenfalls nicht zu überzeugen. Anders als bei derartigen "gemischten" Veranstaltungen ist bei Blockadeaktionen eine klare Trennung und Zuordnung der tatsächlichen Umstände zu der Dimension der öffentlichen Meinungsbildung einerseits und zu der Dimension der Störung einer anderen Versammlung andererseits praktisch kaum möglich. Darüber hinaus steht der für eine Schwerpunktbetrachtung erforderlichen Relationsbildung entgegen, dass sich die bei Blockadeaktionen zusammentreffenden Elemente der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung einerseits und der Störung andererseits hinsichtlich ihrer Art, Wirkungsweise und Zweckrichtung zu sehr unterscheiden, um einen gewichtenden Vergleich zuzulassen.
83Für eine darüberhinausgehende Grenzziehung bietet der vorliegende Ausgangsfall keinen Anlass. Dies betrifft insbesondere die Frage, ob in Ausnahmefällen eine andere Bewertung angezeigt sein kann, wenn das jeweilige kommunikative Element von gänzlich untergeordneter Bedeutung ist.
84cc) Etwas anderes gilt auch nicht für Zusammenkünfte, die - über eine bloße Störung hinaus - auf die Verhinderung oder Sprengung einer anderen Versammlung gerichtet sind (vgl. hierzu auch Rusteberg, NJW 2011, S. 2999 <3002>; Schneider, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 8 Rn. 19 <Juni 2025>). Eine Ausnahme aus dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG für derartige Zusammenkünfte kann insbesondere nicht auf die Entscheidung des (BVerfGE 84, 203) gestützt werden (noch ausdrücklich offenlassend BVerfGK 11, 102 <108>).
85Gegenstand dieser Entscheidung war die Fragestellung, ob ein staatlicher Akt, durch den jemandem der Zutritt zu einer Versammlung verweigert wird, weil er nicht an ihr teilnehmen, sondern sie sprengen will, in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG eingreift. In diesem spezifischen Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Schutz des Art. 8 GG dort ende, wo es nicht um die - wenn auch kritische - Teilnahme an einer Versammlung, sondern um deren Verhinderung gehe. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit verlange die Bereitschaft, die Versammlung in ihrem Bestand hinzunehmen und abweichende Ziele allein mit kommunikativen Mitteln zu verfolgen. Wer dagegen eine Versammlung in der Absicht aufsuche, sie durch seine Einwirkung zu verhindern, könne sich nicht auf das Grundrecht aus Art. 8 GG berufen. Das gelte auch, wenn er dabei seinerseits im Verein mit anderen auftrete. Der Umstand, dass mehrere Personen zusammenwirkten, bringe diese nicht in den Genuss der Versammlungsfreiheit, wenn der Zweck ihres Zusammenwirkens nur in der Unterbindung einer Versammlung bestehe (vgl. BVerfGE 84, 203 <209 f.>).
86Die in dieser Entscheidung aufgestellten Maßstäbe betreffen damit allein die Reichweite des von Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Verhaltens innerhalb einer konkreten Versammlung. Wie oben dargelegt (Rn. 75), gewährleistet Art. 8 Abs. 1 GG die Freiheit, an einer konkreten Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben. Ein auf die Verhinderung oder Sprengung eben dieser Versammlung gerichtetes Verhalten wird demgegenüber von dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG nicht umfasst, und zwar unabhängig davon, ob dieses Verhalten allein oder im Zusammenwirken mit anderen Personen ausgeübt wird. Denn die Absicht, sich im Interesse einer gemeinschaftlichen Meinungsbildung und Meinungskundgabe an einer Versammlung zu beteiligen, ist unvereinbar mit der Absicht, eben diese Versammlung zu verhindern.
87Auf eine eigenständige Gegendemonstration, die ihrerseits auf die Verhinderung einer anderen Ausgangsversammlung gerichtet ist, sind diese Erwägungen nicht ohne Weiteres übertragbar. Der Zweck einer solchen Gegendemonstration erschöpft sich regelmäßig nicht in der Verhinderung oder Sprengung einer anderen Versammlung und damit in der Unterdrückung einer anderen Meinung, sondern besteht typischerweise in der Verfolgung eines eigenen kommunikativen Anliegens (vgl. auch Rusteberg, NJW 2011, S. 2999 <3002>). Darüber hinaus schließen sich bei einer eigenständigen Demonstration die gleichzeitige Verfolgung einer Beteiligungsabsicht - bezogen auf die eigene Gegendemonstration - und einer Verhinderungsabsicht - bezogen auf die andere Ausgangsversammlung - nicht gegenseitig aus.
88d) Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG ist darüber hinaus beschränkt auf Versammlungen, die "friedlich und ohne Waffen" durchgeführt werden.
89Unfriedlich ist eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon dann, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen (vgl. BVerfGE 73, 206 <248>; 87, 399 <406>; 104, 92 <106>). Maßgebend ist insoweit allein der verfassungsrechtliche Begriff der Unfriedlichkeit, nicht fachrechtliche Begriffe wie etwa der umfassendere Gewaltbegriff des Strafrechts (vgl. BVerfGE 73, 206 <248>; 104, 92 <106>).
90Für eine abschließende Definition des in Art. 8 Abs. 1 GG verwendeten Begriffs der "Waffe" bietet der vorliegende Fall keinen Anlass. In negativer Hinsicht sind von dem Begriff der "Waffe" im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG jedenfalls solche Gegenstände auszunehmen, die - ohne Waffe im technischen Sinne zu sein - allein zur Umsetzung oder Unterstützung des jeweils zulässigen Versammlungszwecks mitgeführt werden (vgl. Gusy, in: Huber/Voßkuhle, GG, Bd. 1, 8. Aufl. 2024, Art. 8 Rn. 27; Ernst, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 8. Aufl. 2025, Art. 8 Rn. 64; Depenheuer, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 8 Rn. 96 <Oktober 2020>).
91e) Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG erst mit ihrer rechtmäßigen Auflösung (vgl. BVerfGE 73, 206 <250, 253>; 104, 92 <106 f.>).
922. Im vorliegenden Fall war die Teilnahme des Beschwerdeführers an der am veranstalteten Gegendemonstration jedenfalls für den Zeitraum von 18:05 bis 18:20 Uhr von der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG geschützt.
93a) Gemessen an den oben dargestellten Maßstäben (Rn. 74 ff.) und auf der Grundlage der fachgerichtlichen Feststellungen ist die hier maßgebliche Gegendemonstration in Form einer Sitzblockade als Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG einzuordnen.
94Nach den Feststellungen des Amtsgerichts kamen am Nachmittag des etwa siebzig Personen einschließlich des Beschwerdeführers unter den beiden Torbögen des Freiburger Martinstores zu einer Sitzblockade örtlich zusammen. Hinsichtlich des Zwecks dieser Zusammenkunft ist den fachgerichtlichen Feststellungen auch hinreichend deutlich zu entnehmen, dass es den Gegendemonstranten nicht ausschließlich um die Störung, Verhinderung oder Sprengung der Ausgangsversammlung, sondern auch um die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung ging.
95Hierbei kann dahinstehen, ob sich Anhaltspunkte für ein eigenständiges kommunikatives Element der Gegendemonstration bereits dem vorangegangenen Aufruf des "(...)" entnehmen lassen, der unter anderem folgenden Satz enthielt: "Trotz der überzogenen Repression und einem großen Polizeiaufgebot werden wir den Aufmarsch der Erzreaktionäre stören und uns nicht von unserem legitimen Protest abbringen lassen!". Neben der klar formulierten Störungsabsicht geht aus diesem Aufruf zwar die intendierte Äußerung "legitimen Protest[s]" hervor; fraglich ist allerdings, ob allein die Äußerung "legitimen Protest[s]" ein hinreichend eigenständiges kommunikatives Element beinhaltet oder ob sich das kommunikative Anliegen insoweit allein in der Negation der betroffenen Meinungskundgabe der Vereinigung (...) erschöpft. Jedenfalls aber liegt ein eigenständiges kommunikatives Element in den konkreten inhaltlichen Äußerungen während der Gegendemonstration, insbesondere in Form von Sprechchören und Plakaten mit verschiedenen Aussagen (vgl. hierzu Rn. 5).
96Einer Gewichtung dahingehend, ob man den Schwerpunkt des Geschehens in der Störung der Versammlung der Demonstranten oder in einer eigenständigen Kommunikation durch die Gegendemonstranten erblickt, bedarf es in diesem Zusammenhang nicht. Dem kommunikativen Element der Gegendemonstration kommt jedenfalls keine gänzlich untergeordnete Bedeutung zu, sodass der Versammlungsbegriff unter Zugrundelegung des oben dargelegten Maßstabes erfüllt ist.
97Damit unterfällt auch die konkrete Teilnahme des Beschwerdeführers an der von Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Gegendemonstration dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit.
98b) Die hier durchgeführte Sitzblockade hat auch die Schutzbereichsgrenzen der Friedlichkeit und Waffenlosigkeit nach Art. 8 Abs. 1 GG gewahrt.
99Die Gegendemonstration ist als "friedlich" im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG einzustufen (vgl. hierzu Rn. 89). Ausgehend von den fachgerichtlichen Feststellungen liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass von den das Martinstor blockierenden Gegendemonstranten einschließlich des Beschwerdeführers zur Unfriedlichkeit der Gegendemonstration führende Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten ausgegangen wären. Das Verhalten der Gegendemonstranten beschränkte sich im Wesentlichen darauf, durch mehrreihiges, teilweise auch untergehaktes Sitzen auf der Fahrbahn unter den beiden Torbögen des Martinstores den geplanten Aufzugsweg für die Versammlung der Demonstranten unpassierbar zu machen. Den fachgerichtlichen Feststellungen ist in diesem Zusammenhang auch nicht zu entnehmen, dass die von den Gegendemonstranten ausgehenden Geräuschemissionen eine mit aggressiven Ausschreitungen oder Gewalttätigkeiten vergleichbare Gefährlichkeit erreicht haben könnten. Allein die durch die Sitzblockade verursachten Behinderungen des Aufzugs der Demonstranten sind - auch wenn sie absichtlich und zielgerichtet herbeigeführt wurden - nicht geeignet, die Unfriedlichkeit der Gegendemonstration zu begründen.
100Darüber hinaus ist die Gegendemonstration auch "ohne Waffen" im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG durchgeführt worden. Nach den fachgerichtlichen Feststellungen haben die Gegendemonstranten lediglich Plakate, Transparente, Trillerpfeifen und eine Sirene mit sich geführt und zum Einsatz gebracht. Unabhängig von der exakten Reichweite des Waffenbegriffs in Art. 8 Abs. 1 GG (Rn. 90) sind diese Gegenstände nicht geeignet, der hier maßgeblichen Gegendemonstration den Charakter einer "ohne Waffen" durchgeführten Versammlung zu nehmen.
101c) Der Eröffnung des Schutzbereichs steht vorliegend auch nicht entgegen, dass die Gegendemonstration schließlich durch die Polizei aufgelöst worden ist (vgl. hierzu Rn. 91). Nach den fachgerichtlichen Feststellungen hat die Polizei die Auflösung der Gegendemonstration erst um 18:20 Uhr erklärt. Unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der Versammlungsauflösung ist der strafrechtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers damit jedenfalls ein Zeitraum von 15 Minuten - von 18:05 bis 18:20 Uhr - zugrunde gelegt worden, in dem sein Verhalten vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG umfasst gewesen ist (vgl. hierzu auch BVerfGE 104, 92 <106>).
II.
102Durch die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers aufgrund eines vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG erfassten Verhaltens wird auch in die Versammlungsfreiheit eingegriffen.
III.
103Dieser Eingriff ist allerdings verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
1041. Die Zuordnung eines Verhaltens zum Schutzbereich eines Grundrechts bewirkt für sich allein noch nicht seine Beurteilung als rechtmäßig und schließt auch eine etwaige Strafbarkeit nicht aus. Nach der allgemeinen Grundrechtsdogmatik kann sich vielmehr aus den jeweiligen Grundrechtsschranken eine Rechtswidrigkeit und gegebenenfalls sogar eine Strafbarkeit grundrechtlich geschützten Verhaltens ergeben (vgl. hierzu BVerfGE 104, 92 <107>).
105Auch die Versammlungsfreiheit ist nicht unbeschränkt gewährleistet. Bei Versammlungen unter freiem Himmel sind insbesondere zur Wahrung kollidierender Interessen Dritter Eingriffe in das Grundrecht gemäß Art. 8 Abs. 2 GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig (vgl. BVerfGE 87, 399 <406>). Zu diesen Gesetzen zählen auch die (allgemeinen) Strafgesetze. Der Einordnung eines (allgemeinen) Strafgesetzes als Schranke der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 2 GG steht nicht entgegen, dass Art. 8 Abs. 2 GG grundsätzlich eine bewusste und ausdrücklich auf die Versammlungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger bezogene Regelung durch den Gesetzgeber verlangt (vgl. BVerfGE 128, 226 <257>). Das den Grundrechtsträgern durch Art. 8 GG eingeräumte Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt sowie Art und Inhalt der Veranstaltung ist durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit begrenzt. Es umfasst nicht auch die Entscheidung, welche Beeinträchtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben (vgl. BVerfGE 104, 92 <108>). Die Einhaltung dieser Grenze wird nicht nur durch das Versammlungsgesetz, sondern auch durch die allgemeine Rechtsordnung gesichert. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich klargestellt, dass ein allgemein verbotenes Verhalten nicht allein dadurch rechtmäßig wird, dass es gemeinsam mit anderen in Form einer Versammlung erfolgt (vgl. BVerfGE 104, 92 <107 f.>). Die Strafbarkeit eines dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit zuzuordnenden Verhaltens auf der Grundlage eines (allgemeinen) Straftatbestands setzt damit nicht zwingend eine vorherige (rechtmäßige) Auflösung der jeweiligen Versammlung voraus, die den Schutz der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG entfallen lassen würde (vgl. BVerfGE 104, 92 <106 f.>); ob und unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall - insbesondere unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestands - Abweichungen verfassungsrechtlich geboten sind, bedarf aus Anlass dieses Falles keiner Entscheidung (vgl. in diesem Zusammenhang zu dem Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG BVerfGE 87, 399 <408 ff.>).
106Die im vorliegenden Fall maßgebliche Schranke der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 2 GG ergibt sich aus dem Straftatbestand des § 21 VersG. Bei diesem Straftatbestand handelt es sich - trotz seiner Verortung im Versammlungsgesetz - um einen allgemeinen und nicht um einen spezifisch die Versammlungsfreiheit begrenzenden Straftatbestand. Aufgrund seines Schutzobjekts - nicht verbotene Versammlungen und Aufzüge - weist er zwar einen engen Bezug zum Versammlungsrecht auf. Unter Strafe gestellt wird allerdings nicht ein konkretes versammlungsspezifisches Verhalten, sondern allgemein jedes Verhalten, das als Vornahme oder Androhung von Gewalttätigkeiten oder als Verursachung "grober Störungen" zu werten ist. Dass § 21 VersG im Einzelfall auch der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG zur Wahrung kollidierender Interessen Dritter im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung Grenzen setzt, macht den Tatbestand nicht zu einer Sanktionsnorm bezogen auf versammlungsspezifisches Verhalten.
107Als Grundlage für den Eingriff in die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers muss der Straftatbestand des § 21 VersG aber seinerseits verfassungsmäßig sein (2) und auch in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angewandt werden (3).
1082. Der Straftatbestand des § 21 VersG in der hier einschlägigen Tatbestandsvariante der "groben Störung" wahrt die verfassungsrechtlichen Anforderungen; er ist sowohl formell (a) als auch materiell (b) verfassungsmäßig.
109a) § 21 VersG ist zunächst formell verfassungsmäßig. Nicht nur ist die Gesetzgebungskompetenz gewahrt (aa). Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers ist auch kein Verstoß gegen das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG gegeben (bb).
110aa) Der Straftatbestand des § 21 VersG ist von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes gedeckt. Hierbei bedarf es keiner abschließenden Entscheidung, ob § 21 VersG dem Bereich des Strafrechts oder dem Bereich des Versammlungsrechts zuzurechnen ist. Für den Fall, dass § 21 VersG dem Bereich des Strafrechts zuzuordnen ist, folgt die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes unmittelbar aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. Ordnet man § 21 VersG dem Bereich des Versammlungsrechts zu, ist die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes zwar durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74a, 75, 84, 85, 87c, 91a, 91b, 93, 98, 104a, 104b, 105, 107, 109, 125a, 125b, 125c, 143c) vom (BGBl I S. 2034) entfallen; § 21 VersG gilt aber nach Art. 125a Abs. 1 GG - jedenfalls bis zu einer Ersetzung durch Landesrecht - als Bundesrecht fort.
111bb) Ein Verstoß gegen das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG infolge eines fehlenden Verweises auf die mit dem Straftatbestand des § 21 VersG verbundene Einschränkung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG ist zu verneinen.
112(1) Nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG muss ein Gesetz, durch das ein Grundrecht eingeschränkt wird oder aufgrund dessen ein Grundrecht eingeschränkt werden kann, das betreffende Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.
113(a) Das Zitiergebot erfüllt eine Warn- und Besinnungsfunktion (vgl. BVerfGE 64, 72 <79 f.>; 113, 348 <366>; 120, 274 <343>; 129, 208 <236>; 130, 1 <39>; 156, 63 <130 Rn. 230> - Elektronische Aufenthaltsüberwachung; 170, 293 <335 Rn. 97> - Krankenhausvorbehalt). Durch die Benennung des Eingriffs im Gesetzeswortlaut soll sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber nur Eingriffe vornimmt, die ihm als solche bewusst sind und über deren Auswirkungen auf die betroffenen Grundrechte er sich Rechenschaft ablegt (vgl. BVerfGE 113, 348 <366>; 129, 208 <236 f.>; 130, 1 <39>; 170, 293 <335 Rn. 97>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom - 1 BvR 180/23 -, Rn. 246 - Trojaner II; jeweils m.w.N.). Die ausdrückliche Benennung erleichtert es auch, die Notwendigkeit und das Ausmaß des beabsichtigten Grundrechtseingriffs in öffentlicher Debatte zu klären (BVerfGE 113, 348 <366>; 120, 274 <343>; 129, 208 <237>).
114(b) Bei dem Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG handelt es sich um eine Formvorschrift, die enger Auslegung bedarf, damit sie nicht zu einer die Gesetzgebung unnötig behindernden leeren Förmlichkeit erstarrt (vgl. BVerfGE 28, 36 <46>; 35, 185 <188>; 64, 72 <80>).
115Aus dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1 GG - "ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt" - ergibt sich, dass das Zitiergebot der Sicherung derjenigen Grundrechte dient, die aufgrund eines spezifischen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden können (vgl. BVerfGE 24, 367 <396>; 64, 72 <79>; 156, 63 <130 Rn. 230>; 162, 378 <417 Rn. 92> - Impfnachweis <Masern>; 170, 293 <335 Rn. 97>). Von solchen Grundrechtseinschränkungen grenzt es andersartige grundrechtsrelevante Regelungen ab, die der Gesetzgeber in Ausführung ihm obliegender, im Grundrecht vorgesehener Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfGE 64, 72 <80>; 156, 63 <130 Rn. 231>; 162, 378 <417 Rn. 92>; 170, 293 <335 Rn. 97>). Hier erscheint die Warn- und Besinnungsfunktion des Zitiergebots von geringerem Gewicht, weil dem Gesetzgeber in der Regel ohnehin bewusst ist, dass er sich im grundrechtsrelevanten Bereich bewegt (vgl. BVerfGE 64, 72 <80>).
116Es führt zu keinem anderen Ergebnis, dass gegebenenfalls auch verfassungsimmanente Schranken konkretisiert und kollidierende Verfassungspositionen miteinander in Ausgleich gebracht werden. Der Anwendungsbereich des Zitiergebots richtet sich allein danach, ob es sich um die Einschränkung eines von der Verfassung selbst festgelegten Grundrechtsinhalts aufgrund eines Gesetzesvorbehalts handelt oder um andere grundrechtsrelevante Maßnahmen wie Inhaltsbestimmungen und Regelungsaufträge, die die Verfassung dem Gesetzgeber zur Konkretisierung des Grundrechtsschutzes zugewiesen hat (vgl. BVerfGE 64, 72 <81>). Soweit eine grundrechtseinschränkende Regelung auf einem grundrechtsspezifischen Gesetzesvorbehalt beruht oder auf diesen gestützt werden kann, ist es für die Anwendbarkeit des Zitiergebots ohne Bedeutung, ob und inwieweit die betreffende Regelung auch dem Schutz kollidierender Verfassungsgüter dient (vgl. auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 18. Aufl. 2024, Art. 19 Rn. 6, der insoweit auf eine Umgehungsgefahr verweist). Die Konstellation unterscheidet sich insoweit auch von vorbehaltlos gewährten Grundrechten, auf die Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG keine Anwendung findet (vgl. etwa BVerfGE 83, 130 <154>; 162, 378 <416 f. Rn. 92>). Speziell im Falle von Eingriffen in vorbehaltlos gewährte Grundrechte dürfte beim Gesetzgeber ein ausgeprägteres Bewusstsein zu unterstellen sein, sich im grundrechtsrelevanten Bereich zu bewegen, weil er sich für derartige Eingriffe stets auf eine kollidierende Verfassungsposition, insbesondere auf kollidierende Grundrechte, stützen können muss. Eine vergleichbare Notwendigkeit, sich über den Ausgleich kollidierenden Verfassungsrechts Rechenschaft abzulegen, besteht bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt nicht.
117In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind darüber hinaus verschiedene Ausnahmen vom Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG anerkannt: Das Zitiergebot findet insbesondere keine Anwendung auf vorkonstitutionelle Gesetze (vgl. BVerfGE 2, 121 <122 f.>; 5, 13 <16>; 28, 36 <46>; 28, 282 <289>; 124, 43 <66>) sowie auf nachkonstitutionelle Gesetze, die lediglich bereits geltende Grundrechtsbeschränkungen unverändert oder mit geringen Abweichungen wiederholen (vgl. BVerfGE 5, 13 <16>; 15, 288 <293>; 35, 185 <188 f.>; 61, 82 <113>; 129, 208 <237>; 154, 152 <236 f. Rn. 134> - BND - Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung; 155, 119 <176 Rn. 121> - Bestandsdatenauskunft II). Das Zitiergebot gilt überdies nicht, wenn durch die betreffende Regelung keine spezifischen hoheitlichen Entscheidungsbefugnisse geschaffen werden (vgl. BVerfGE 128, 226 <258>). Darüber hinaus kann sich ein Hinweis auf den grundrechtsbeschränkenden Charakter einer Regelung im Falle eines offenkundigen Grundrechtseingriffs erübrigen (vgl. BVerfGE 35, 185 <189>; 156, 63 <130 Rn. 230>).
118(c) Der Anwendungsbereich des Zitiergebots nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ist darüber hinaus auf die durch den Gesetzgeber erfüllbaren Anforderungen begrenzt.
119(aa) Durch das Zitiergebot soll zwar sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber nur Eingriffe vornimmt, die ihm als solche bewusst sind und über deren Auswirkungen auf die betroffenen Grundrechte er sich Rechenschaft ablegt (Warn- und Besinnungsfunktion, Rn. 113). Die hieraus folgenden Anforderungen müssen allerdings auf das für den Gesetzgeber realistisch Erkennbare und Leistbare begrenzt werden, um der Funktion des Zitiergebots Rechnung zu tragen. Denn im Falle überhöhter Anforderungen bliebe dem Gesetzgeber keine andere Möglichkeit, als in seinen Augen nicht betroffene Grundrechte sicherheitshalber "auf Vorrat" zu zitieren, was eine weitgehende Entwertung des Zitiergebots zur Folge hätte (vgl. dazu auch BVerfGE 170, 293 <335 Rn. 97>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom - 1 BvR 180/23 -, Rn. 246; vgl. zur Notwendigkeit einer sachgerechten Begrenzung des Anwendungsbereichs des Zitiergebots auch Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, 1970, S. 120; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 19 Abs. 1 Rn. 57 <Mai 2008>; v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 190 f.).
120(bb) Vor diesem Hintergrund kann das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls nur auf solche Grundrechtseinschränkungen Anwendung finden, die der Gesetzgeber vorhergesehen hat oder die für ihn hinreichend vorhersehbar waren (vgl. zum Kriterium der Vorhersehbarkeit oder Erkennbarkeit für den Gesetzgeber auch Axer, in: Merten/Papier, HGRe, Bd. III, 2009, § 67 Rn. 20; de Wall, in: Berliner Kommentar, Art. 19 Abs. 1, 2 Rn. 60 <Juli 2012>; Engel, Das Zitiergebot, Rekonstruktion einer verkannten Norm, 2022, S. 181 ff., der insoweit allerdings zwischen unmittelbaren und mittelbaren Grundrechtseingriffen differenziert; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, 1970, S. 120, der eine Erkennbarkeit allerdings von vornherein nur bei imperativen Beeinträchtigungen für möglich erachtet; Guckelberger, in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, Bd. 3, 2. Aufl. 2022, § 85 Rn. 81; Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof, HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 201 Rn. 46).
121Für die Annahme, dass der Gesetzgeber die mit einer gesetzlichen Regelung verbundene Grundrechtseinschränkung konkret erkannt und vorhergesehen hat, müssen hinreichend deutliche Anhaltspunkte vorliegen. Solche können sich insbesondere aus der Gesetzentwurfsbegründung, gegebenenfalls aber auch aus entsprechenden klarstellenden oder erläuternden Ausführungen im Rahmen des weiteren Gesetzgebungsverfahrens ergeben.
122Zur Beurteilung der hinreichenden Vorhersehbarkeit für den Gesetzgeber ist maßgeblich darauf abzustellen, was von einem sorgfältig handelnden Gesetzgeber realistischerweise erwartet werden kann. Vor diesem Hintergrund ist bei der Prüfung einer hinreichenden Vorhersehbarkeit zunächst von einer strikten ex-ante-Perspektive auszugehen (vgl. zur ex-ante-Perspektive auch Engel, Das Zitiergebot, Rekonstruktion einer verkannten Norm, 2022, S. 183 f.; Guckelberger, in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, Bd. 3, 2. Aufl. 2022, § 85 Rn. 81; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 19 Abs. 1 Rn. 58 <Mai 2008>; v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 193). Der Gesetzgeber ist grundsätzlich nur in der Lage, seiner Prüfung der Grundrechtsrelevanz diejenigen Umstände zugrunde zu legen, die für ihn im Zeitpunkt seiner gesetzgeberischen Entscheidung erkennbar waren. Ausgehend von dieser ex-ante-Perspektive bedarf es sowohl einer angemessenen Begrenzung der vom Gesetzgeber in tatsächlicher Hinsicht zu berücksichtigenden Anwendungsfälle einer Norm (α) als auch einer adäquaten Beschränkung der vom Gesetzgeber in den Blick zu nehmenden Rechtsauffassungen (β). Eine Aktualisierungspflicht des Gesetzgebers für den Fall, dass sich seine ex-ante-Bewertung zu einem späteren Zeitpunkt unter tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten als unzutreffend herausstellen sollte, besteht nicht (γ).
123(α) In tatsächlicher Hinsicht muss der Gesetzgeber nur diejenigen Anwendungsfälle einer Norm in den Blick nehmen, die er bei Erlass der in Rede stehenden Regelung vor Augen hatte oder die sich ihm jedenfalls hätten aufdrängen müssen. Er muss bei Erlass einer Regelung gerade nicht sämtliche möglichen Anwendungsfälle einer Norm bis ins letzte Detail erfassen und gegebenenfalls auch noch unbekannte, neuartige Anwendungsfälle einer Norm antizipieren. Dies gilt in besonderer Weise für generalklauselartige Ermächtigungsgrundlagen und für allgemeine Straftatbestände.
124(β) In rechtlicher Hinsicht ist der Gesetzgeber jedenfalls gehalten, seiner Prüfung möglicher Grundrechtseinschränkungen die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde zu legen. Hinsichtlich solcher Grundrechtsfragen, die noch nicht abschließend geklärt worden sind, müssen allerdings reduzierte Anforderungen an die Vorhersehbarkeit gelten.
125(γ) Das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG beinhaltet allein eine auf den konkreten Gesetzgebungsprozess bezogene Vorgabe, die der Gesetzgeber im Zeitpunkt seiner jeweiligen gesetzgeberischen Entscheidung über eine grundrechtseinschränkende Norm zu berücksichtigen hat. Wie sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Anwendbarkeit des Zitiergebots bei vorkonstitutionellem und wiederholendem nachkonstitutionellem Recht ergibt (vgl. hierzu Rn. 117), umfasst das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG für den Gesetzgeber keine Pflicht zur fortlaufenden Aktualisierung vorhandener oder fehlender Zitiervorschriften. Nichts anderes gilt, wenn eine für den Gesetzgeber in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht zunächst nicht hinreichend vorhersehbare Grundrechtseinschränkung zu einem späteren Zeitpunkt offen zu Tage tritt (anders wohl Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, 1969, S. 275; Engel, Das Zitiergebot, Rekonstruktion einer verkannten Norm, 2022, S. 183).
126(cc) Bei der vorstehend näher konkretisierten Voraussetzung, nach der es für die Anwendbarkeit des Zitiergebots maßgeblich darauf ankommt, ob der Gesetzgeber eine Grundrechtseinschränkung vorhergesehen hat oder hinreichend deutlich hätte vorhersehen können, handelt es sich allerdings nur um ein notwendiges, nicht zwingend auch um ein hinreichendes Kriterium für die Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG. Aufgrund der Vielgestaltigkeit von Grundrechtseingriffen - insbesondere seit der Erweiterung des klassischen Eingriffsbegriffs auf auch mittelbare und faktische Grundrechtseingriffe (vgl. nur BVerfGE 116, 202 <222>) - kann eine darüber hinausgehende Begrenzung des Anwendungsbereichs des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG - allgemein oder zumindest für bestimmte Rechtsgebiete beziehungsweise für bestimmte Formen von Grundrechtseingriffen - angezeigt sein. Der vorliegende Fall bietet insoweit jedoch keinen Anlass für eine abschließende Klärung oder weitergehende Differenzierung. Es kann daher dahinstehen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Anwendungsbereich des Zitiergebots nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG - anknüpfend an die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - einer engeren Begrenzung, beispielsweise in Form eines Finalitätskriteriums, bedarf.
127(2) Gemessen daran ist vorliegend kein Verstoß gegen das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG festzustellen. Zwar existiert keine Vorschrift, die hinsichtlich des Straftatbestands des § 21 VersG auf eine Einschränkung des Art. 8 Abs. 1 GG hinweist (a). Auch ist der Straftatbestand des § 21 VersG mit einem Eingriff in die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG verbunden (b), der als Einschränkung "durch oder auf Grund eines Gesetzes" zu qualifizieren ist (c). Ferner greift keine der allgemein anerkannten Ausnahmen vom Zitiergebot ein (d). Gleichwohl scheidet im Ergebnis ein Verstoß gegen das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG aus, weil der Gesetzgeber die mit dem Straftatbestand des § 21 VersG verbundene Einschränkung des Art. 8 Abs. 1 GG nicht vorhergesehen hat und diese Grundrechtseinschränkung für den Gesetzgeber aus einer ex-ante-Perspektive auch nicht hinreichend vorhersehbar war (e).
128(a) Eine Zitiervorschrift, die die durch den Straftatbestand des § 21 VersG eingeschränkten Grundrechte - insbesondere den hier allein interessierenden Art. 8 Abs. 1 GG - benennt, existiert nicht.
129Entgegen der Stellungnahme der Bundesregierung kann nicht davon ausgegangen werden, dass die im Versammlungsgesetz enthaltene Zitiervorschrift des § 20 VersG dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG auch im Hinblick auf den Straftatbestand des § 21 VersG Rechnung trägt. Die seit Inkrafttreten des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) vom (BGBl I S. 684) unveränderte Zitiervorschrift des § 20 VersG weist allein auf eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG durch die Bestimmungen des Abschnitts III des Versammlungsgesetzes hin; der in Abschnitt IV des Versammlungsgesetzes normierte § 21 VersG ist nicht mitumfasst.
130Auch die weiteren Ausführungen der Bundesregierung, die Straf- und Bußgeldvorschriften des Abschnitts IV des Versammlungsgesetzes seien regelmäßig akzessorisch zu den vorstehenden Normen und knüpften an die Eingriffe (auch) des Abschnitts III des Versammlungsgesetzes an, vermögen jedenfalls im Hinblick auf den Straftatbestand des § 21 VersG nicht zu überzeugen. Denn eine Akzessorietät des Straftatbestands des § 21 VersG zu den Regelungen des Abschnitts III des Versammlungsgesetzes ist gerade nicht erkennbar. Zunächst bleiben die in Abschnitt III des Versammlungsgesetzes normierten Pflichten - worauf auch die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu Recht hinweist - deutlich hinter den durch § 21 VersG sanktionierten störenden Verhaltensweisen zurück. Die als Anknüpfungspunkt für eine Akzessorietät allein in Betracht kommenden Regelungen in § 18 Abs. 3 und § 19 Abs. 4 VersG betreffen letztlich nur den Ausschluss von Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmern aufgrund interner Versammlungsstörungen; nicht geregelt werden demgegenüber externe Störungen etwa durch Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer eigenständigen Gegenversammlung. Vor allem aber geht der Straftatbestand des § 21 VersG auch hinsichtlich seines grundsätzlichen Anwendungsbereichs über die Regelungen des Abschnitts III des Versammlungsgesetzes hinaus. Die Regelungen und Verhaltenspflichten in Abschnitt III des Versammlungsgesetzes gelten ausdrücklich nur für öffentliche Versammlungen, während § 21 VersG gerade auch den Schutz nicht öffentlicher Versammlungen mitumfasst.
131(b) Der Straftatbestand des § 21 VersG in der hier allein interessierenden Tatbestandsvariante der Verursachung "grober Störungen" ist auch mit einer unmittelbaren Einschränkung der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Versammlungsfreiheit verbunden. Die unmittelbare Einschränkung der Versammlungsfreiheit ergibt sich daraus, dass der Straftatbestand des § 21 VersG unter anderem auch vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit umfasstes Verhalten im Rahmen einer durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten eigenständigen Gegenversammlung untersagt.
132Die in § 21 VersG enthaltene strafrechtliche Verhaltensnorm verbietet, in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vorzunehmen oder anzudrohen oder grobe Störungen zu verursachen.
133Soweit der Straftatbestand die Vornahme oder Androhung von Gewalttätigkeiten in Verhinderungs-, Sprengungs- oder Vereitelungsabsicht untersagt, dürfte damit zwar keine Verkürzung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG verbunden sein. Eine eigenständige Gegenversammlung, aus der solche durch § 21 VersG verbotenen Tathandlungen begangen werden, dürfte bereits wegen Unfriedlichkeit regelmäßig nicht mehr vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG gedeckt sein (vgl. näher Rn. 88 f.).
134Anders stellt sich die Sachlage demgegenüber im Hinblick auf die hier entscheidungserhebliche Tatbestandsvariante der Verursachung "grober Störungen" in Verhinderungs-, Sprengungs- oder Vereitelungsabsicht dar. Wie sich aus den oben dargelegten Maßstäben ergibt (Rn. 76 ff.), steht eine Verhinderungs-, Sprengungs- oder Vereitelungsabsicht im Sinne des § 21 VersG der Einordnung selbst gezielter Blockadeaktionen als Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG nicht zwingend entgegen; dies gilt jedenfalls dann, wenn die betreffende Blockadeaktion zugleich auch ein hinreichend eigenständiges Element der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung aufweist (näher Rn. 80). Darüber hinaus werden mit der Tathandlung der Verursachung "grober Störungen" gerade auch Verhaltensweisen erfasst, die mangels Gewalttätigkeiten und aggressiver Ausschreitungen noch nicht die Schwelle der verfassungsrechtlichen Unfriedlichkeit erreichen und sich damit noch innerhalb des Bereichs des von Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Verhaltens bewegen.
135(c) Diese Einschränkung der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Versammlungsfreiheit erfolgt entsprechend Art. 19 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1 GG auch "durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes". Soweit der Straftatbestand des § 21 VersG Versammlungen unter freiem Himmel betrifft und bestimmte von Art. 8 Abs. 1 GG umfasste Verhaltensweisen untersagt, beruht diese Grundrechtseinschränkung auf dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG.
136Der Straftatbestand des § 21 VersG stellt keine Regelung dar, die der Gesetzgeber allein in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrechtsartikel vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vorgenommen hat (vgl. hierzu Rn. 115). Art. 8 Abs. 1 GG ist ein konkreter, an den Gesetzgeber gerichteter Regelungsauftrag zur Bestimmung des Inhalts und der Grenzen der Versammlungsfreiheit nicht zu entnehmen. Der Straftatbestand des § 21 VersG dient insbesondere auch nicht einer näheren Bestimmung der Schutzbereichsgrenzen der Friedlichkeit und Waffenlosigkeit, weil er - jedenfalls hinsichtlich der Tatbestandsvariante der Verursachung "grober Störungen" - deutlich über diese in dem Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinausgeht.
137Entsprechend den oben dargelegten Maßstäben führt es vorliegend auch zu keinem anderen Ergebnis, dass mit dem Straftatbestand des § 21 VersG gegebenenfalls auch verfassungsimmanente Schranken konkretisiert und kollidierende Verfassungspositionen miteinander in Ausgleich gebracht werden (vgl. Rn. 116).
138(d) Die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Ausnahmen vom Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG (Rn. 117) sind hinsichtlich des Straftatbestands des § 21 VersG nicht einschlägig.
139(aa) Bei dem Straftatbestand des § 21 VersG handelt es sich insbesondere nicht um vorkonstitutionelles Recht. Die Gesetzesbestimmung wurde erst im Zuge einer Neufassung des Versammlungsrechts nach Inkrafttreten des Grundgesetzes als Bestandteil des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) vom (BGBl I S. 684) eingeführt.
140(bb) Der Straftatbestand des § 21 VersG ist auch nicht als nachkonstitutionelle Norm einzuordnen, die lediglich bereits geltende Grundrechtsbeschränkungen unverändert oder mit geringen Abweichungen wiederholt.
141Der heute geltende § 21 VersG findet zwar eine Vorläuferregelung in § 107a StGB, der durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom (RGBl I S. 296) eingeführt worden war. § 107a StGB in der damaligen Fassung lautete:
Wer nichtverbotene Versammlungen, Aufzüge oder Kundgebungen mit Gewalt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen verhindert oder sprengt, wird mit Gefängnis, neben dem auf Geldstrafe erkannt werden kann, bestraft.
Wer in nichtverbotenen Versammlungen oder bei nichtverbotenen Aufzügen oder Kundgebungen Gewalttätigkeiten in der Absicht begeht, die Versammlung, den Aufzug oder die Kundgebung zu sprengen, wird mit Gefängnis und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen bestraft.
142Der Straftatbestand des § 21 VersG ist gegenüber der vorkonstitutionellen Regelung des § 107a StGB a.F. allerdings in mehrfacher Hinsicht deutlich erweitert worden:
143Dies gilt zunächst im Hinblick auf den Vollendungstatbestand des § 107a Abs. 1 StGB a.F. Während es sich bei dem Straftatbestand des § 107a Abs. 1 StGB a.F. noch um ein echtes Erfolgsdelikt handelte, ist § 21 VersG lediglich als "kupiertes" Erfolgsdelikt ausgestaltet worden, bei dem der Erfolg der Versammlungsverhinderung, -sprengung oder -vereitelung gerade nicht mehr zum objektiven Tatbestand gehört. Darüber hinaus knüpfte § 107a Abs. 1 StGB a.F. noch ausschließlich an die Tatmittel der Gewalt und Bedrohung mit einem Verbrechen an; für den Straftatbestand des § 21 VersG reicht demgegenüber bereits die Verursachung "grober Störungen" aus (vgl. Brinsa, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2020, § 21 VersG Rn. 2, 13).
144Zu einem anderen Ergebnis gelangt man auch nicht hinsichtlich des Versuchstatbestands des § 107a Abs. 2 StGB a.F., der - deutlich enger gefasst als der heutige § 21 VersG - eine ausdrückliche Beschränkung auf in Sprengungsabsicht begangene Gewalttätigkeiten vorsah (vgl. Brinsa, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2020, § 21 VersG Rn. 2).
145(cc) Die weiteren in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Ausnahmen vom Zitiergebot (Rn. 117) greifen ebenfalls nicht ein. Zum einen beinhaltet der Straftatbestand des § 21 VersG eine spezifisch hoheitliche Befugnisnorm. Zum anderen ist der mit § 21 VersG verbundene Eingriff in die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG jedenfalls nicht als offenkundig zu bewerten, weil der Straftatbestand des § 21 VersG gerade nicht nur versammlungsspezifische Verhaltensweisen unter Strafe stellt.
146(e) Gleichwohl ist das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG im Ergebnis nicht ausgelöst worden. Bezogen auf den hier maßgeblichen Zeitpunkt (aa) ist nicht festzustellen, dass der Gesetzgeber bei Einführung des Straftatbestands des § 21 VersG die damit verbundene Einschränkung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG tatsächlich vorhergesehen hat (bb) oder hinreichend deutlich hätte vorhersehen können (cc).
147(aa) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Vorhersehbarkeit ist die Verabschiedung des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) vom (BGBl I S. 684), durch das der - jedenfalls auf Tatbestandsseite bis heute unverändert geltende - Straftatbestand des § 21 VersG erstmals geschaffen wurde. Die spätere Bekanntmachung der Neufassung des Versammlungsgesetzes vom (BGBl I S. 1789) durch den Bundesminister des Innern ist demgegenüber - anders als der Beschwerdeführer nahelegt - für die hier interessierende Fragestellung ohne Bedeutung. Eine solche Bekanntmachung durch einen Bundesminister, gestützt auf eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung, ist gerade kein konstitutiver gesetzgeberischer Akt, sondern dient lediglich der deklaratorischen Klarstellung des Gesetzestextes (vgl. BVerfGE 64, 217 <221> m.w.N.).
148(bb) Gemessen an den oben dargelegten Maßstäben (Rn. 121) kann nicht unterstellt werden, dass der im Jahr 1953 tätige Gesetzgeber die mit dem Straftatbestand des § 21 VersG verbundene Einschränkung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG konkret erkannt und vorhergesehen hätte. Hinreichend deutliche Anhaltspunkte für ein entsprechendes Bewusstsein des Gesetzgebers sind weder der Gesetzentwurfsbegründung noch den sonstigen Gesetzgebungsmaterialien zu dem Gesetz über öffentliche Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) vom (BGBl I S. 684) zu entnehmen. Soweit der Bundesrat im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens eine Ergänzung und Verschiebung der Zitiervorschrift an den Beginn des Abschnitts V beantragt hatte, betrafen die zugrundeliegenden Überlegungen ausschließlich das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG und gerade nicht das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG (vgl. BTDrucks 1/1102, S. 19 f.). Allein die in den Bundestagsdebatten geäußerte pauschale Kritik, § 21 VersG führe insbesondere zu einer "zu starke[n] Einengung der politischen Freiheiten" (so etwa der Abgeordnete Dr. Menzel <SPD>, BT-PlProt 1/264, S. 12865), reicht insoweit nicht aus.
149(cc) Die mit dem Straftatbestand des § 21 VersG verbundene Einschränkung der Versammlungsfreiheit war für den historischen Gesetzgeber im Jahr 1953 auch nicht hinreichend vorhersehbar, und zwar weder unter tatsächlichen (α) noch unter rechtlichen Gesichtspunkten (β).
150(α) Vorliegend ist bereits eine hinreichende Vorhersehbarkeit unter tatsächlichen Gesichtspunkten zu verneinen (vgl. hierzu Rn. 123). Die Anwendungsfälle des § 21 VersG, die der Gesetzgeber bei Verabschiedung dieses Straftatbestands im Jahr 1953 vor Augen hatte, sind - selbst aus heutiger Sicht - nicht dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG zuzuordnen. Weitere Anwendungsfälle des § 21 VersG mussten sich dem historischen Gesetzgeber nicht aufdrängen.
151Anhaltspunkte dafür, welche tatsächlichen Anwendungsfälle der historische Gesetzgeber bei erstmaliger Schaffung des Straftatbestands des § 21 VersG vor Augen hatte, lassen sich vor allem dem Plenarprotokoll über die zweite und dritte Lesung des Gesetzentwurfs am entnehmen. Im Rahmen der intensiv geführten Debatten zu § 21 VersG und speziell zu der Tatbestandsvariante der Verursachung "grober Störungen" wurde etwa konkret auf "organisierte[…] Trupps, die nur [kämen], um Versammlungen zu schmeißen" (so der Abgeordnete Euler <FDP>, BT-PlProt 1/264, S. 12864), sowie auf spezifische "Sprengkommandos" (so der Abgeordnete Ewers <DP>, BT-PlProt 1/264, S. 12889) verwiesen. Als weitere Beispiele wurden etwa "das planmäßige, in der Absicht der Sprengung vorgenommene Absingen von Liedern oder das Anstimmen von Löwengebrüll" genannt (so der Abgeordnete Ewers <DP>, BT-PlProt 1/264, S. 12869; ähnlich der Abgeordnete Euler <FDP>, BT-PlProt 1/264, S. 12865). Es finden sich auch Hinweise auf grobe Störungen durch "massierte[…] Zwischenrufe[…]" oder das "Absingen bestimmter politischer oppositioneller Lieder" (so der Abgeordnete Dr. Menzel <SPD>, BT-PlProt 1/264, S. 12865). Kritisch beleuchtet wurde überdies der Fall grober Störungen einer Versammlung durch einen Betrunkenen (so der Abgeordnete Meitmann <SPD>, BT-PlProt 1/264, S. 12864). Die Beispiele verdeutlichen, dass die Zeit der hier in Rede stehenden Gesetzgebung vor allem von Störmaßnahmen einzelner, jedenfalls nicht bewusst zur gemeinsamen Meinungsäußerung zusammengeschlossener Personen geprägt war. In derartigen Konstellationen dürfte - auch nach heutigen Maßstäben - eine Zuordnung zum Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG nicht ohne Weiteres in Betracht kommen.
152Es ist auch nicht davon auszugehen, dass sich dem Gesetzgeber weitere tatsächliche Anwendungsfälle des § 21 VersG bei sorgfältiger Prüfung hätten aufdrängen müssen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber im Jahr 1953 die Erfahrungen der Weimarer Zeit nicht ausblendete, von ihnen aber deutlich weniger als von denen der frühen Bundesrepublik geleitet wurde (vgl. etwa die Ausführungen des Abgeordneten Euler <FDP>, BT-PlProt 1/83, S. 3127). Auch die Bundesregierung weist in ihrer Stellungnahme vom zu Recht darauf hin, dass insbesondere das Phänomen (friedlicher) Sitzblockaden in Deutschland erst Ende der 1950er Jahre aufkam.
153Gegen ein Sich-Aufdrängen weiterer tatsächlicher Anwendungsfälle des § 21 VersG spricht aber vor allem das vom Gesetzgeber - hier nachvollziehbar - gewählte Regelungsmodell. Um des Zieles willen, die Durchführbarkeit von Versammlungen möglichst wirksam zu schützen, hat sich der Gesetzgeber in § 21 VersG gegen eine enumerative Aufzählung von im Einzelnen näher konturierten Verhaltensweisen entschieden. Zur Vermeidung einer Lückenhaftigkeit der Norm hat er vielmehr die allgemeine, generalklauselartig formulierte Tatbestandsvariante der Verursachung "grober Störungen" gewählt. Dies führt dazu, dass die Norm eine Vielzahl unterschiedlicher Konstellationen mit jeweils verschiedensten Grundrechtsbetroffenheiten abdeckt. Vor diesem Hintergrund war es für den historischen Gesetzgeber zwar vielleicht nicht schlechterdings unmöglich, auch solche tatsächlichen Konstellationen zu antizipieren, die - jedenfalls aus heutiger Sicht - vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit umfasst würden. Gerade unter Berücksichtigung der vielen, letztlich unüberschaubaren Konstellationen war eine weitergehende, umfassende Ermittlung potenziell grundrechtsrelevanter Anwendungsfälle des § 21 VersG aber nicht zu verlangen.
154(β) Unabhängig davon war die mit § 21 VersG verbundene Einschränkung des Art. 8 Abs. 1 GG auch in rechtlicher Hinsicht für den historischen Gesetzgeber nicht hinreichend vorhersehbar (vgl. hierzu Rn. 124). Der Gesetzgeber konnte im Jahr 1953 vertretbar davon ausgehen, dass nach § 21 VersG strafbares Verhalten nicht vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG umfasst wird.
155Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass sich im Jahr 1953 zum Grundrecht der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG noch keine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herausgebildet hatte (vgl. auch Leibholz/Rinck, GG, 2. Aufl. 1966, Art. 8). Dementsprechend fehlte es zu diesem Zeitpunkt in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung noch an jeglicher Definition des grundgesetzlichen Versammlungsbegriffs und an jeglichen Präzisierungen hinsichtlich der Schutzbereichsgrenzen der Friedlichkeit und Waffenlosigkeit.
156Für den damaligen Gesetzgeber war damit nicht ohne Weiteres zu erkennen, dass auch eine Zusammenkunft mehrerer Personen in Verhinderungs-, Sprengungs- oder Vereitelungsabsicht als eine dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG unterfallende Versammlung einzustufen sein könnte. Vor allem aber durfte der Gesetzgeber bei Einführung des Straftatbestands des § 21 VersG noch davon ausgehen, dass eine auf die Verwirklichung dieses Straftatbestands gerichtete Gegenversammlung jedenfalls wegen Unfriedlichkeit nicht mehr vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG umfasst würde.
157In Rechtsprechung und Literatur wurde der Begriff der Unfriedlichkeit gerade Anfang der 1950er Jahre noch sehr weit verstanden. Der Bundesgerichtshof ging etwa im Jahr 1951 davon aus, dass eine Versammlung bereits dann unfriedlich sei, wenn sie auf eine Störung "des staatsbürgerlichen Friedens in der Bevölkerung" gerichtet sei (vgl. -, Wolters Kluwer Online, Rn. 6). Anknüpfend hieran entschied das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 1954, dass unfriedlich vor allem eine Versammlung sei, deren Zweck den Strafgesetzen zuwiderlaufe. Der Begriff der Unfriedlichkeit sei aber noch weitergehend. Unfriedlich sei eine Versammlung jedenfalls dann, wenn ihr Zweck im Widerspruch zum Rechtsfrieden stehe, wenn bei der Einberufung die Absicht auf eine Störung des Friedens, und zwar nicht nur des Friedens unter den Teilnehmern selbst, sondern auch des Friedens in der Bevölkerung selbst gerichtet sei (vgl. I C 52.53 -, Wolters Kluwer Online, Rn. 11 f.). Ähnlich weitgehende Ansichten, die den Begriff der Unfriedlichkeit etwa mit einer Störung des Rechtsfriedens gleichsetzten, wurden vielfach auch in der Literatur vertreten (vgl. etwa v. Mangoldt, Bonner GG, 1953, Art. 8 Ziffer 2; Giese, GG, 3. Aufl. 1953, Art. 8 Ziffer II 2; Hamann, GG, 1956, Art. 8 Ziffer C 3).
158Zwar könnten die Formulierungen in § 5 Nr. 3 und § 13 Abs. 1 Nr. 2 VersG darauf hindeuten, dass der Gesetzgeber selbst bei Verabschiedung des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) vom (BGBl I S. 684) von einem engeren Unfriedlichkeitsbegriff ausging und Versammlungen erst bei einem "gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf" als unfriedlich ansehen wollte. Auch diese Begrifflichkeiten waren damals aber noch nicht abschließend konturiert und wurden zum Teil durchaus weit ausgelegt (vgl. hierzu etwa Füßlein, Versammlungsgesetz, 1954, § 5 Ziffer 10).
159(dd) Im Ergebnis steht damit einer Anwendbarkeit des Zitiergebots nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG hinsichtlich der mit § 21 VersG verbundenen Einschränkung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG entgegen, dass der historische Gesetzgeber im Jahr 1953 diese Grundrechtseinschränkung weder vorhergesehen hat noch hinreichend deutlich vorhersehen konnte.
160b) Der Straftatbestand des § 21 VersG in der hier allein gegenständlichen Tatbestandsvariante der Verursachung "grober Störungen" begegnet auch unter materiellen Gesichtspunkten keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Der insoweit mit § 21 VersG verbundene Eingriff in die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG ist insbesondere mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar.
161aa) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet - bei Androhung von Freiheitsstrafe auch im Hinblick auf die Gewährleistung der Freiheit der Person durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG -, dass eine Strafnorm dem Schutz anderer oder der Allgemeinheit dient (vgl. BVerfGE 90, 145 <172>; 120, 224 <239>; 160, 284 <333 Rn. 125>). Das Strafrecht wird als "ultima ratio" des Rechtsgüterschutzes eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist (vgl. BVerfGE 88, 203 <258>; 96, 10 <25>; 120, 224 <239 f.>). Wegen des in der Androhung, Verhängung und Vollziehung von Strafe zum Ausdruck kommenden sozialethischen Unwerturteils hat das Übermaßverbot für die Überprüfung einer Strafnorm besondere Bedeutung (vgl. BVerfGE 90, 145 <172>; 96, 10 <25>; 120, 224 <240>; 160, 284 <333 Rn. 125>). Es ist aber grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns verbindlich festzulegen. Er ist bei der Entscheidung, ob er für ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich erscheint, gerade das Mittel des Strafrechts einsetzen und wie er dies gegebenenfalls tun will, grundsätzlich frei (vgl. BVerfGE 120, 224 <240>; 160, 284 <333 f. Rn. 125> m.w.N.); einer Befassung mit von ihm insoweit zu beachtenden verfassungsrechtlichen Grenzen bedarf es aus Anlass der Entscheidung dieses Falles nicht.
162Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass eine Strafnorm geeignet und erforderlich ist, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Ein Mittel ist bereits dann geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann; der Erfolg muss nicht in jedem Einzelfall auch tatsächlich erreicht werden oder jedenfalls erreichbar sein, die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt (vgl. BVerfGE 90, 145 <172>; 120, 224 <240>; 160, 284 <334 Rn. 126>). Ein Strafgesetz ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen können. Bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit des gewählten Mittels zur Erreichung der erstrebten Ziele sowie bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Einschätzung und Prognose der dem Einzelnen oder der Allgemeinheit drohenden Gefahren steht dem Gesetzgeber ein Spielraum zu. Dieser kann vom Bundesverfassungsgericht je nach Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, der betroffenen Rechtsgüter und den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, nur in begrenztem Umfang überprüft werden (vgl. BVerfGE 90, 145 <172 f.>; 120, 224 <240>; 160, 284 <334 Rn. 126>).
163Schließlich muss bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit für die Adressaten des Verbots gewahrt sein (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn). Die Maßnahme darf sie nicht übermäßig belasten (BVerfGE 120, 224 <241>; 160, 284 <334 Rn. 126>).
164Im Bereich staatlichen Strafens folgt aus dem Schuldprinzip, dass die Schwere einer Straftat und das Verschulden des Täters zu der Strafe in einem gerechten Verhältnis stehen müssen. Eine Strafandrohung darf nach Art und Maß dem unter Strafe gestellten Verhalten nicht schlechthin unangemessen sein. Tatbestand und Rechtsfolge müssen vielmehr sachgerecht aufeinander abgestimmt sein (vgl. BVerfGE 90, 145 <173>; 120, 224 <241>). Die Gemeinwohlbelange müssen umso gewichtiger sein, je empfindlicher der Einzelne in seiner Freiheit beeinträchtigt wird. Demgegenüber wird der Gemeinschaftsschutz umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können (vgl. BVerfGE 160, 284 <334 Rn. 126> m.w.N.). Innerhalb der verfassungsrechtlichen Bindungen kann der Gesetzgeber allerdings frei entscheiden, mit welcher Strafandrohung er schuldhaftes Handeln sanktionieren will (vgl. BVerfGE 123, 267 <409>).
165Da es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers ist, den Bereich strafbaren Handelns unter Berücksichtigung der jeweiligen Gegebenheiten festzulegen, kann das Bundesverfassungsgericht dessen Entscheidung nicht darauf prüfen, ob er die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich darüber zu wachen, dass die Strafvorschrift materiell in Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung steht und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen sowie Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspricht (vgl. BVerfGE 27, 18 <30>; 80, 244 <255>; 90, 145 <173>; 120, 224 <241> m.w.N.).
166bb) Gemessen an diesen Maßstäben wird der Straftatbestand des § 21 VersG den verfassungsrechtlichen Anforderungen jedenfalls in dem hier allein prüfungsrelevanten Umfang - dem damit verbundenen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 GG hinsichtlich Versammlungen unter freiem Himmel - gerecht. Insoweit dient der Straftatbestand des § 21 VersG nicht nur einem legitimen Zweck (1), er ist zur Erreichung dieses legitimen Zwecks auch im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet (2), erforderlich (3) und angemessen (4).
167(1) Der Straftatbestand des § 21 VersG dient im Wesentlichen zwei eng miteinander verbundenen, letztlich sogar aufeinander aufbauenden legitimen Zwecken (Rn. 161):
168Zum einen bezweckt der Straftatbestand den Schutz nicht verbotener - öffentlicher und nicht öffentlicher - Versammlungen und Aufzüge, insbesondere den Schutz ihrer grundsätzlichen Integrität und Durchführbarkeit (vgl. Brinsa, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2020, § 21 VersG Rn. 15; vgl. auch Wache, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 21 VersG Rn. 2 <Dezember 2019>; Enders, in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2022, § 21 Rn. 1; Gerhold, in: v. Heintschel-Heinegg/Kudlich, BeckOK StGB, § 21 VersG Rn. 10 <August 2025>). Dieser Schutzzweck findet bereits Ausdruck im Wortlaut des § 21 VersG, der als Tatobjekt und damit zugleich als Schutzobjekt explizit "nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge" benennt. Bestätigt wird dieser Schutzzweck durch die Gesetzgebungsmaterialien. Bereits der Begründung des Gesetzentwurfs ist zu entnehmen, dass die Funktion der verschiedenen versammlungsspezifischen Straftatbestände im Wesentlichen darin gesehen wurde, "eine demokratische Ordnung des öffentlichen Versammlungswesens zu gewährleisten" (BTDrucks 1/1102, S. 11). Auch im Rahmen der Bundestagsdebatten zu dem hier maßgeblichen Straftatbestand wurde ausdrücklich das Bestreben betont, einen ordnungsgemäßen Ablauf von Versammlungen und Aufzügen zu garantieren (vgl. die Ausführungen der Abgeordneten Euler <FPD> und Dr. Menzel <SPD>, BT-PlProt 1/264, S. 12864 f.).
169Zum anderen schützt der Straftatbestand des § 21 VersG auch die durch Art. 8 Abs. 1 GG garantierte Versammlungsfreiheit der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht verbotener - öffentlicher und nicht öffentlicher - Versammlungen und Aufzüge (vgl. Tölle, in: MüKo StGB, 4. Aufl. 2022, § 21 VersG Rn. 1; vgl. auch Gerhold, in: v. Heintschel-Heinegg/Kudlich, BeckOK StGB, § 21 VersG Rn. 10 <August 2025>; Enders, in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2022, § 21 Rn. 1 f.; Wache, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 21 VersG Rn. 1 <Dezember 2019>). Dieser Gesichtspunkt ist untrennbar mit dem vorstehend genannten Schutz nicht verbotener Versammlungen und Aufzüge verbunden. Die besondere Schutzwürdigkeit von Versammlungen und Aufzügen ergibt sich insbesondere auch daraus, dass Versammlungen und Aufzüge gerade Ausdruck und Folge der durch Art. 8 Abs. 1 GG garantierten Versammlungsfreiheit sind (vgl. auch Brinsa, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2020, § 21 VersG Rn. 15). Der Schutz von Versammlungen und Aufzügen ist damit letztlich ein notwendiges Zwischenziel, um dem subjektiven Recht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG zu seiner größtmöglichen Entfaltung zu verhelfen.
170Diese beiden aufeinander aufbauenden Zwecke des Straftatbestands des § 21 VersG sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Schutz nicht verbotener Versammlungen und Aufzüge in ihrer grundsätzlichen Integrität und Durchführbarkeit dürfte bereits für sich betrachtet einen überaus bedeutsamen Gemeinwohlbelang darstellen. Jedenfalls aber schützt § 21 VersG mit der Versammlungsfreiheit auch besonders wichtige, grundrechtlich geschützte Belange Dritter (Rn. 70).
171(2) § 21 VersG ist als Strafnorm grundsätzlich geeignet (Rn. 162), den Schutz von Versammlungen und Aufzügen sowie den Schutz der Versammlungsfreiheit durch das Aufstellen eines strafbewehrten Verbots grober Störungen zu fördern (vgl. BVerfGE 160, 284 <335 Rn. 127>).
172(3) Der Straftatbestand des § 21 VersG ist auch erforderlich, um die legitimen Schutzzwecke zu erreichen (Rn. 162). Ein weniger eingriffsintensives, aber gleich wirksames Mittel ist - auch vor dem Hintergrund des dem Gesetzgeber zukommenden Spielraums - nicht ersichtlich.
173(4) Die Norm ist in ihrer Tatbestandsvariante der Verursachung "grober Störungen" auch verhältnismäßig im engeren Sinne (Rn. 163 f.).
174(a) Der Straftatbestand des § 21 VersG kommt zunächst hinsichtlich der darin enthaltenen Verbotsnorm zu einem angemessenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen. Dieser Ausgleich betrifft die Versammlungsfreiheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer gestörten Ausgangsversammlung auf der einen Seite und die Versammlungsfreiheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer störenden Gegenversammlung auf der anderen Seite.
175Das Gewicht des mit § 21 VersG verbundenen Eingriffs in die von Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Versammlungsfreiheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der störenden Gegenversammlung ist im Ausgangspunkt als hoch zu bewerten. Das hohe Eingriffsgewicht folgt daraus, dass die durch Art. 8 Abs. 1 GG garantierte und von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der störenden Gegenversammlung ausgeübte Versammlungsfreiheit zu den grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens zählt und damit eine zentrale Bedeutung für den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung in der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung einnimmt (Rn. 70). Das mit dem Straftatbestand des § 21 VersG verbundene Verbot bestimmter von Art. 8 Abs. 1 GG geschützter Verhaltensweisen stellt sich im Grundsatz auch als durchaus gravierende Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit dar. Eingeschränkt wird konkret das von Art. 8 Abs. 1 GG umfasste zentrale Recht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der störenden Gegenversammlung, selbst über die Art und Umstände der Ausübung ihres Grundrechts zu bestimmen, also selbst zu entscheiden, wo und wie sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen können (vgl. hierzu Rn. 75).
176Allerdings mindert sich das hohe Eingriffsgewicht dadurch, dass die Versammlungsfreiheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der störenden Gegenversammlung letztlich nicht übermäßig weit eingeschränkt wird. Die hier maßgebliche Tatbestandsvariante des § 21 VersG verbietet lediglich die Verursachung "grober Störungen", und zwar konkret in der Absicht, die Ausgangsversammlung zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln. Damit wird die Versammlungsfreiheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der störenden Gegenversammlung lediglich punktuell hinsichtlich der Art und Weise der Versammlungsdurchführung begrenzt. Ihnen verbleibt eine Vielzahl weiterer verbaler und non-verbaler Ausdrucksformen, um (gegebenenfalls auch öffentlichkeitswirksam) gegen die von ihnen kritisierte Ausgangsversammlung Stellung zu beziehen. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass das den Grundrechtsträgern durch Art. 8 Abs. 1 GG eingeräumte Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeit sowie Art und Inhalt der Veranstaltung durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit begrenzt ist und insbesondere nicht die Entscheidung umfasst, welche Beeinträchtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben (vgl. BVerfGE 104, 92 <108, 111>).
177Dem steht das hohe Gewicht der vom Gesetzgeber mit dem Straftatbestand des § 21 VersG verfolgten Zwecke gegenüber. § 21 VersG schützt nicht nur allgemein die Integrität und Durchführbarkeit von Versammlungen und Aufzügen (Rn. 168), sondern vor allem auch die Versammlungsfreiheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der von den Störungen betroffenen Ausgangsversammlung (Rn. 169). Das hohe Gewicht dieser gesetzgeberisch verfolgten Zwecke folgt hierbei wiederum aus der besonderen Stellung, die dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit für die freiheitliche demokratische Staatsordnung und den Einzelnen zukommt (Rn. 70).
178Die Versammlungsfreiheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der gestörten Ausgangsversammlung wiegt in den von dem Straftatbestand erfassten Konstellationen sogar besonders schwer. Selbst wenn es im Rahmen des objektiven Tatbestands des § 21 VersG nicht auf den Erfolg der Versammlungsverhinderung, -sprengung oder -vereitelung ankommt, so werden über den Begriff der "groben Störung" nur solche "Elementarstörungen" (vgl. Brinsa, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl. 2020, § 21 VersG Rn. 23; Gerhold, in: v. Heintschel-Heinegg/Kudlich, BeckOK StGB, § 21 VersG Rn. 40 <August 2025>) erfasst, die die Durchführbarkeit der Ausgangsversammlung insgesamt in Frage stellen. Damit schützt der Straftatbestand des § 21 VersG die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ausgangsversammlung konkret vor einem Verhalten, das die Durchführbarkeit der von ihnen geplanten Versammlung grundlegend bedroht.
179Bei einer Gesamtabwägung mit dem Interesse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ausgangsversammlung, ihre Versammlung überhaupt durchführen zu können, muss daher das Interesse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gegenversammlung, ihre Versammlung gerade in einer grob störenden Art und Weise abhalten zu können, zurücktreten. Es ist für den Prozess der freien Meinungsbildung in einem demokratischen Gemeinwesen von zentraler Bedeutung, dass das Recht, seine Meinung gemeinschaftlich mit anderen öffentlich kundzutun, nicht zum Mittel wird, um Menschen mit anderen Überzeugungen an der Wahrnehmung desselben Rechts zu hindern.
180(b) Zu einem anderen Ergebnis gelangt man auch nicht unter Einbeziehung der in § 21 VersG enthaltenen strafrechtlichen Sanktionsnorm.
181Gemessen an den oben dargelegten Maßstäben ist zunächst die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers, das in § 21 VersG enthaltene Verbot der "groben Störungen" nicht verbotener Versammlungen und Aufzüge in Verhinderungs-, Sprengungs- oder Vereitelungsabsicht strafbewehrt auszugestalten, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Diese Störungen stellen nicht nur insgesamt ein geordnetes, funktionsfähiges Versammlungswesen in Frage, sie beeinträchtigen auch ganz konkret die von Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Grundrechtsausübung Dritter. Dementsprechend durfte es der Gesetzgeber für geboten erachten, das in § 21 VersG normierte Verhalten zu kriminalisieren und unter Strafandrohung zu stellen.
182Auch der konkret vorgesehene Strafrahmen begegnet entsprechend den oben dargelegten Maßstäben keinen durchgreifenden Bedenken. Der heute in § 21 VersG vorgesehene Strafrahmen - Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder Geldstrafe - ist gerade auch unter Berücksichtigung der großen Bandbreite des von § 21 VersG erfassten Verhaltens insgesamt als moderat einzustufen. Eine Mindeststrafe ist nicht (mehr) vorgesehen. Art und Maß der Strafe sind daher - speziell unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung der durch § 21 VersG geschützten Gemeinwohlbelange und der durch ein Absichtserfordernis besonders qualifizierten Schuld des Täters - nicht als schlechthin unangemessen zu bewerten. Darüber hinaus erlaubt es der vorgesehene Strafrahmen, besonderen Fallkonstellationen, in denen die geringe Schuld der Beschuldigten eine Bestrafung als unangemessen erscheinen lässt, etwa durch Einstellung des Verfahrens nach Opportunitätsgesichtspunkten oder besondere Strafzumessungserwägungen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 120, 224 <252> m.w.N.).
183cc) Aus dem hier ohnehin nicht als verletzt gerügten Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergäben sich für die Verfassungsmäßigkeit der in § 21 VersG enthaltenen Sanktionsnorm keine Anforderungen, die über die hier aus Art. 8 Abs. 1 GG folgenden hinausgingen.
1843. Der Straftatbestand des § 21 VersG ist vorliegend auch in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angewandt worden. Insbesondere lässt die fachgerichtliche Auslegung und Anwendung des Straftatbestands des § 21 VersG nach den hier zugrundezulegenden Feststellungen des Amtsgerichts - jedenfalls im Ergebnis - keine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts aufgrund einer unzureichenden Berücksichtigung des Zitiergebots nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG erkennen (a). Auch eine Verletzung sonstiger verfassungsrechtlicher Anforderungen ist nicht festzustellen (b).
185a) Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Versammlungsfreiheit infolge einer unzureichenden Berücksichtigung des Zitiergebots nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG im Rahmen der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung des Straftatbestands des § 21 VersG rügt, greifen die geäußerten Bedenken nicht durch.
186aa) Wie oben dargelegt, richtet sich das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG in erster Linie an den (förmlichen) Gesetzgeber. Durch das Zitiergebot soll sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber nur Eingriffe vornimmt, die ihm als solche bewusst sind und über deren Auswirkungen auf die betroffenen Grundrechte er sich Rechenschaft ablegt (Warn- und Besinnungsfunktion, Rn. 113). Für die dem Gesetzgebungsprozess nachgelagerte Gesetzesanwendung ergeben sich aus dem Zitiergebot demgegenüber allenfalls mittelbare Auswirkungen.
187(1) Ein vorhandenes Grundrechtszitat kann insbesondere das Bewusstsein des jeweiligen Gesetzesanwenders dafür stärken, dass er sich in einem grundrechtsrelevanten Bereich bewegt. Der Gesetzesanwender wird durch die ausdrückliche Bezeichnung betroffener Grundrechte konkret dafür sensibilisiert, in welche Grundrechtspositionen er im Rahmen seiner Gesetzesanwendung gegebenenfalls eingreift. Keiner Entscheidung bedarf es an dieser Stelle, ob sich hieraus zugleich eine eigenständige Funktion des Zitiergebots nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG in Form einer Hinweis-, Verdeutlichungs- oder Klarstellungsfunktion ableiten lässt (so Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 19 Abs. 1 Rn. 41 <Mai 2008> m.w.N.; vgl. hierzu auch unter Verwendung teils unterschiedlicher Bezeichnungen Axer, in: Merten/Papier, HGRe, Bd. III, 2009, § 67 Rn. 10; de Wall, in: Berliner Kommentar, Art. 19 Abs. 1, 2 Rn. 45 <Juli 2012>; Enders, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 19 Rn. 15 <Juni 2025>; Guckelberger, in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, Bd. 3, 2. Aufl. 2022, § 85 Rn. 54; Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof, HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 201 Rn. 43; Huber, in: Huber/Voßkuhle, GG, Bd. 1, 8. Aufl. 2024, Art. 19 Rn. 71).
188(2) Insbesondere im Fall eines erforderlichen, aber fehlenden Grundrechtszitats ist von dem jeweiligen Gesetzesanwender vor allem das Gebot der verfassungskonformen Auslegung zu berücksichtigen.
189Das Gebot der verfassungskonformen Gesetzesauslegung verlangt, von mehreren möglichen Normdeutungen, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, diejenige vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht (vgl. BVerfGE 32, 373 <383 f.>; 119, 247<274>; 134, 33 <63 Rn. 77>; 160, 1 <25 Rn. 70>; 168, 1 <68 Rn. 193>; 169, 67 <86 Rn. 36> - Politischer Beamter). Der Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt gebietet es, in den Grenzen der Verfassung das Maximum dessen aufrechtzuerhalten, was der Gesetzgeber gewollt hat (vgl. BVerfGE 86, 288 <320>; 119, 247 <274>; 134, 33 <63 Rn. 77>; 160, 1 <25 Rn. 70>). Eine verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen aber dort, wo sie dem Wortlaut der Norm und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers widerspricht (vgl. BVerfGE 101, 312 <329>; 110, 226 <267>; 134, 33 <63 Rn. 77>; 138, 64 <94 Rn. 86>; 160, 1 <25 Rn. 70>). Das gesetzgeberische Ziel darf nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht werden (vgl. BVerfGE 119, 247 <274>; 138, 64 <94 Rn. 86>; 168, 1 <68 Rn. 194> m.w.N.).
190Wird im Rahmen der Gesetzesanwendung ein Verstoß gegen das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG festgestellt, so ist gerade dann im Ausgangspunkt stets zu prüfen, ob eine verfassungskonforme Auslegung der betreffenden Norm dahingehend in Betracht kommt, dass das jeweilige Grundrecht nicht eingeschränkt wird (vgl. auch de Wall, in: Berliner Kommentar, Art. 19 Abs. 1, 2 Rn. 67 <Juli 2012>; Guckelberger, in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, Bd. 3, 2. Aufl. 2022, § 85 Rn. 86; Huber, in: Huber/Voßkuhle, GG, Bd. 1, 8. Aufl. 2024, Art. 19 Rn. 105; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 18. Aufl. 2024, Art. 19 Rn. 9; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 19 Abs. 1 Rn. 41, 47 <Mai 2008>). Ein fehlendes Grundrechtszitat kann in diesem Zusammenhang zwar gegebenenfalls als Indiz, nicht aber als Beleg für einen fehlenden gesetzgeberischen Willen bezüglich der nicht benannten Grundrechtseinschränkung herangezogen werden (anders wohl Axer, in: Merten/Papier, HGRe, Bd. III, 2009, § 67 Rn. 10).
191Scheidet eine verfassungskonforme Auslegung unter Berücksichtigung der dargelegten Grenzen aus, verbleibt es bei der Nichtigkeit oder Verfassungswidrigkeit der Norm mit den jeweils daraus folgenden Konsequenzen für die Gesetzesanwendung (vgl. auch BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom - 1 BvR 180/23 -, Rn. 251).
192(3) Eine über die vorstehend dargelegten Rechtsfolgen hinausgehende materielle Bindungswirkung des Zitiergebots im Rahmen der Gesetzesanwendung besteht demgegenüber nicht. Zwar finden sich in der Literatur - von der Bundesregierung und dem Beschwerdeführer in Bezug genommene - Stimmen, die von einer konkreten "Bindungsfunktion" des Zitiergebots ausgehen (vgl. Engel, Das Zitiergebot, Rekonstruktion einer verkannten Norm, 2022, S. 66 ff., 178 ff. m.w.N.; vgl. auch Huber, in: Huber/Voßkuhle, GG, Bd. 1, 8. Aufl. 2024, Art. 19 Rn. 72; Hufeld, in: Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 1 Rn. 195 f. <Februar 2012>). Soweit dieser Ansatz jedoch den Anwendungsbereich des an den Gesetzgeber gerichteten Zitiergebots und die damit verbundenen Rechtsfolgen für die Gesetzesanwendung voneinander trennt, vermag er infolge seiner Inkongruenz nicht zu überzeugen. Wenn der Gesetzgeber - ausgehend von einem sachgerecht begrenzten Anwendungsbereich des Zitiergebots nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG - ein durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränktes Grundrecht nicht benannt hat und auch nicht benennen musste, so ist aus einem fehlenden Grundrechtszitat durch den Gesetzgeber insoweit auch keine materielle Bindungswirkung für die Gesetzesanwendung ableitbar.
193bb) Gemessen an den vorstehenden Maßstäben liegt kein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG durch die angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen vor. Die fehlende Bezeichnung des Art. 8 Abs. 1 GG als eingeschränktes Grundrecht war für die Gesetzesanwendung im vorliegenden Fall ohne Bedeutung, weil es eines entsprechenden Grundrechtszitats hinsichtlich des Straftatbestands des § 21 VersG gerade nicht bedurfte (Rn. 111 ff.).
194Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, inwieweit die Argumente, mit denen das Amtsgericht und das Oberlandesgericht in den angegriffenen Entscheidungen einen Verstoß des Straftatbestands des § 21 VersG gegen das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG abgelehnt haben, im Einzelnen einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten. Die Fachgerichte sind jedenfalls im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass sich aus dem Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nicht die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung des Straftatbestands des § 21 VersG ergibt.
195b) Die konkrete Verurteilung des Beschwerdeführers auf der Grundlage des Straftatbestands des § 21 VersG zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen in Höhe von jeweils 20 Euro ist unter sonstigen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten von Seiten des Beschwerdeführers nicht gerügt worden; die Verurteilung begegnet insoweit auch keinen offensichtlich durchgreifenden Bedenken.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:rs20251001.1bvr242820
Fundstelle(n):
TAAAK-03977