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BFH Urteil v. - VI R 6/23

Entkräftung der Bekanntgabevermutung des § 122 Abs.  2 Nr. 1 AO bei einem strukturellen Zustellungsdefizit innerhalb der Drei-Tages-Frist

Leitsatz

Wird innerhalb der Drei-Tages-Frist an zwei Tagen planmäßig keine Post zugestellt und am dritten Tag lediglich die Post vom ersten zustellfreien Tag nachgeliefert, ist die Bekanntgabevermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung ohne Weiteres entkräftet.

Gesetze: AO i.d.F. bis zum 31.12.2024 § 122 Abs. 2 Nr. 1; AO § 366; FGO § 47 Abs. 1; FGO § 96 Abs. 1 Satz 1; PUDLV § 2 Nr. 3;

Instanzenzug:

Gründe

I.

1 Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielt Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Im Rahmen der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr (2020) machte er Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer sowie eine Minderung des Sachbezugs für die Privatnutzung eines ihm von seinem Arbeitgeber überlassenen Pkw geltend.

2 Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt —FA—) erkannte im Einkommensteuerbescheid die geltend gemachte Minderung des Sachbezugs aus der Nutzung des Firmenwagens nicht an und beschränkte zudem die abzugsfähigen Aufwendungen für das häusliche Arbeitszimmer auf 1.250 €.

3 Den hiergegen gerichteten Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom (einem Freitag) als unbegründet zurück. Die Einspruchsentscheidung war an den jetzigen Prozessbevollmächtigten des Klägers als Bekanntgabeadressaten adressiert, wurde mit einfachem Brief versandt und dem Postdienstleister des FA, der . (X Firma), am übergeben. Diese stellte im Gewerbegebiet, in dem das Büro des Prozessbevollmächtigten belegen ist, regelmäßig von Dienstag bis Freitag zu. Die Post für die Samstagszustellung wurde ausnahmsweise standardmäßig am darauffolgenden Montag zugestellt.

4 Im Büro des Prozessbevollmächtigten des Klägers erhielt die Einspruchsentscheidung den Eingangsstempel vom , einem Donnerstag. Ein Posteingangsbuch führte der Prozessbevollmächtigte nicht. Den Umschlag, mit dem die Einspruchsentscheidung versandt worden war, hob er nicht auf.

5 Mit seiner beim Finanzgericht (FG) am erhobenen Klage verfolgte der Kläger seine bereits außergerichtlich geltend gemachten Begehren weiter. Nachdem das FG die Beteiligten auf Zweifel an der Einhaltung der Klagefrist hingewiesen hatte, teilte der Kläger mit, die Einspruchsentscheidung sei seinem Prozessbevollmächtigten ausweislich des Eingangsstempels erst am zugegangen, so dass die Klagefrist gewahrt sei. Die X Firma sei kein zuverlässiger Postdienstleister. Mit ihr versandte Schreiben seien mit erheblicher Zeitdauer unterwegs. Im Übrigen trage das FA die Beweislast.

6 Das FG wies die Klage als unzulässig ab.

7 Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

8 Er beantragt sinngemäß,

das Urteil des FG sowie die Einspruchsentscheidung vom aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 2020 vom dahin zu ändern, dass Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 93.719 € berücksichtigt werden.

9 Da FA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II.

10 Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der nicht entscheidungsreifen Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Das FG hat die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen. Die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz reichen allerdings nicht aus, um abschließend zu beurteilen, ob die Klage auch begründet ist.

11 1. Nach § 47 Abs. 1 FGO beträgt die Frist für die Erhebung der Klage einen Monat; sie beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf. Die Entscheidung kann auch durch die Post übermittelt werden (§ 366 der AbgabenordnungAO— i.V.m. § 122 Abs. 2 AO).

12 Post im Sinne der Vorschrift des § 122 Abs. 2 AO ist nicht nur die Deutsche Post AG, sondern auch ein (sonstiger) privater Postdienstleiter (, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 14, und , Rz 17, m.w.N.). Der Verwaltungsakt gilt in diesem Fall gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO in der für das Streitjahr geltenden Fassung bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen (Senatsurteil vom  - VI R 18/22, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 10).

13 a) Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen nach der ständigen Rechtsprechung des BFH im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen (, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 9). Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische —Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post— ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles, sei es nach dem schlüssig oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen (, BFH/NV 2001, 1365). Das Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf allerdings nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird (, Rz 18, und vom  - III R 27/17, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 9, jeweils m.w.N.).

14 b) Hat der Steuerpflichtige seinen Vortrag im Rahmen des ihm Möglichen substantiiert, hat das FG die Frage, ob „Zweifel“ daran bestehen, dass ihm der Verwaltungsakt innerhalb der Dreitagesfrist zugegangen ist, nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu beantworten (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO).

15 c) Unter welchen näheren Voraussetzungen ein Gericht von der Bekanntgabe innerhalb der Dreitagesfrist nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO überzeugt ist oder ob noch Zweifel am Zugang bestehen, lässt sich nicht allgemeingültig bestimmen, sondern ist Inhalt der jeweiligen tatrichterlichen Überzeugungsbildung (vgl. , BFHE 193, 392, BStBl II 2001, 156, und vom  - III R 27/17, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 11). Diese ist grundsätzlich nach § 118 Abs. 2 FGO für die Rechtsmittelinstanz bindend. Sie kann im Revisionsverfahren nur darauf hin überprüft werden, ob das FG von einem unzureichend aufgeklärten Sachverhalt ausgegangen ist oder mit seiner Sachverhaltswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat (, BFH/NV 2003, 1031).

16 2. Die vom FG im Streitfall vorgenommene Würdigung zum Zugang der Einspruchsentscheidung innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO hält einer revisionsrechtlichen Prüfung auch unter Berücksichtigung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs nicht stand.

17 a) Die Vorinstanz ist allerdings zunächst in nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass die Einspruchsentscheidung vorliegend am zur Post gegeben wurde.

18 aa) § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO greift nur dann ein, wenn feststeht, wann der mit einfachem Brief übersandte Verwaltungsakt tatsächlich zur Post aufgegeben worden ist (BFH-Beschlüsse vom  - VIII B 56/19, Rz 8, und vom  - X B 108/20, Rz 9, jeweils m.w.N.; 6 C 3.22, BVerwGE 181, 83, Rz 22, zu § 41 Abs. 2 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes). Lässt sich das Datum der Aufgabe zur Post nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststellen, ist § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht anwendbar (, BFH/NV 2010, 824, unter II.2.b aa).

19 bb) Das FG hat vorliegend den Sachverhalt bezüglich der Aufgabe der Einspruchsentscheidung zur Post im Rahmen des Möglichen aufgeklärt und ist dabei zu der tatrichterlichen Überzeugung gelangt, dass die vom zuständigen Bearbeiter erstellte Einspruchsentscheidung dem Postdienstleister X Firma am (Freitag) von der amtsinternen Poststelle übergeben wurde. Diese Überzeugungsbildung der Vorinstanz ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden; sie wurde von den Beteiligten auch nicht angegriffen. Der Senat sieht insoweit von weiteren Ausführungen ab.

20 b) Vorliegend ergeben sich aus den besonderen Umständen des Falles aber erhebliche Zweifel an dem typischen Geschehensablauf, dass die Einspruchsentscheidung den Empfänger, den Prozessbevollmächtigten des Klägers, innerhalb von drei Tagen nach Aufgabe zur Post erreicht hat. Denn der Kläger hat am Zugang der Einspruchsentscheidung innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO berechtigte Zweifel dargelegt.

21 aa) Nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) wurde im Gewerbegebiet, in dem das Büro des Prozessbevollmächtigten belegen ist, durch die X Firma Post regelmäßig nur von Dienstag bis Freitag zugestellt. Allein die Post für die „Samstagszustellung“ wurde ausnahmsweise standardmäßig am darauffolgenden Montag zugestellt.

22 Insoweit war im Streitjahr nicht sichergestellt, dass ein von der X Firma zur Versendung an einem Freitag beim FA abgeholtes Schreiben einem Empfänger mit der Adresse [Straße] in [Ort] zuverlässig innerhalb von drei Tagen seit Abholung der Post zuging.

23 (1) Nach § 2 Nr. 3 der Post-Universaldienstleistungsverordnung vom (BGBl I 1999, 2418) —PUDLV— in der bis zum geltenden Fassung (aufgehoben durch Art. 43 des Postrechtsmodernisierungsgesetzes vom , BGBl. 2024 I Nr. 236, und ersetzt durch Art. 1 des Postrechtsmodernisierungsgesetzes vom , BGBl. 2024 I Nr. 236, dort § 18 Abs. 1 des Postgesetzes) müssen für den Universaldienst im Bereich der Briefdienstleistungen von den an einem Werktag eingelieferten inländischen Briefsendungen —mit Ausnahme der Sendungen, die eine Mindesteinlieferungsmenge von 50 Stück je Einlieferungsvorgang voraussetzen— im Jahresdurchschnitt mindestens 80 % an dem ersten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag und 95 % bis zum zweiten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag ausgeliefert werden. Die im Streitjahr geltende Bekanntgabevermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO geht auf der Grundlage dieser Auslieferungsquoten davon aus, dass bei einer Übermittlung im Inland mit dem Zugang des per Post ausgelieferten Verwaltungsakts typischerweise am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post zu rechnen ist.

24 (2) Dies war im Streitfall —anders als in dem vom erkennenden Senat mit Urteil vom  - VI R 18/22 (zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt) entschiedenen Sachverhalt— jedoch offenkundig nicht der Fall.

25 Die X Firma konnte nach dem festgestellten Geschehensablauf nicht sicherstellen, dass in der im Gewerbegebiet belegenen Adresse [Straße] in [Ort] die am Freitag vom Kunden aufgegebene oder abgeholte Post mit einer 95%igen Wahrscheinlichkeit innerhalb von drei Tagen ausgeliefert wurde. Es lässt sich hier nicht ausschließen, dass die am Freitag vom FA zur Post gegebene Einspruchsentscheidung erst an einem späteren Tag als am darauffolgenden Montag dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zuging, da Samstag und Sonntag im Gewerbegebiet zustellfreie Tage waren und es sich auch bei dem Montag —dem letzten Tag der Frist (hierzu s. , Rz 11, und Senatsurteil vom  - VI R 18/22, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 18)— nicht um einen regulären Zustelltag handelte. Vielmehr wurde am Montag, hier dem letzten Tag der Dreitagesfrist, lediglich die „Samstagspost“ und damit die Post des ersten auf den Einlieferungstag (Freitag) folgenden Werktags, für den —selbst bei Einhaltung der Vorgaben des § 2 Nr. 3 PUDLV in der im Streitjahr geltenden Fassung— die Auslieferungswahrscheinlichkeit durch die X Firma lediglich bei 80 % lag, nachgeliefert. Angesichts eines solchen „strukturellen Zustellungsdefizits“ ist die Bekanntgabevermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ohne Weiteres entkräftet (vgl. , Rz 11).

26 bb) Vorliegend wird die Bekanntgabevermutung zusätzlich noch dadurch entkräftet, dass die Einspruchsentscheidung, die der Klage in Kopie beigefügt war, mit einem Posteingangsstempel des Prozessbevollmächtigten vom versehen war. Umstände, die Zweifel an der „Richtigkeit“ des Eingangsstempels begründen könnten, hat das FG weder festgestellt noch sind solche aus den Akten ersichtlich. Vielmehr weist der Kläger in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass die Kanzlei seines Prozessbevollmächtigten im Zeitpunkt des Eingangs der Einspruchsentscheidung keinerlei Anlass hatte, ein unzutreffendes Zugangsdatum auf der Entscheidung anzubringen. Das FA hat anderes auch nicht behauptet oder geltend gemacht, dass es in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten anderweitig Hinweise auf Pflichtversäumnisse gegeben hätte.

27 Bei dieser Sachlage gereicht es dem Kläger auch nicht zum Nachteil, dass sein Prozessbevollmächtigter im Streitjahr weder ein Posteingangsbuch geführt noch den Briefumschlag der Einspruchsentscheidung aufbewahrt hat. Denn der Briefumschlag konnte allenfalls ein Beweismittel für die Aufgabe der Einspruchsentscheidung zur Post liefern (s. , Rz 15). Für den hier streitigen Zeitpunkt des Zugangs der Einspruchsentscheidung war der Briefumschlag dagegen ohne Bedeutung. Einem Posteingangsbuch käme im Übrigen kein wesentlich höherer Beweiswert als dem Posteingangsstempel zu.

28 3. Greift nach alledem die Bekanntgabevermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht durch, ist die Klage im Streitfall am fristgerecht erhoben worden. Das FG hat —nach seiner Rechtsauffassung zu Recht— keine Feststellungen zur Begründetheit der Klage getroffen. Diese wird das FG im zweiten Rechtsgang nachzuholen haben.

29 4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2025:U.290725.VIR6.23.0

Fundstelle(n):
PAAAK-03893