Stattgebender Kammerbeschluss: Inhaftierung zwecks Sicherung einer Abschiebung unter Missachtung des Richtervorbehalts verletzt Art 2 Abs 2 S 2 GG iVm Art 104 Abs 2 S 1 GG iVm Art 19 Abs 4 S 1 GG - zudem Grundrechtsverletzung durch Behandlung einer eigenständigen Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inhaftierung als bloße (weitere) Beschwerde gegen Inhaftnahme - Gegenstandswertfestsetzung
Gesetze: Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 19 Abs 4 S 1 GG, Art 104 Abs 1 S 1 GG, Art 104 Abs 2 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 106 Abs 2 S 1 AufenthG 2004, §§ 415ff FamFG, § 428 FamFG, § 17a GVG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG
Instanzenzug: LG Ingolstadt Az: 22 T 3049/21 Beschlussvorgehend AG Ingolstadt Az: 1 XIV 225/20 Beschluss
Gründe
I.
11. Die slowakische Beschwerdeführerin hielt sich mit Unterbrechungen seit 1997 im Bundesgebiet auf. Nachdem sie mehrfach straffällig geworden war, wurde mit bestandskräftigem Bescheid vom in Bezug auf ihre Person der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt. Die Beschwerdeführerin wurde im Dezember 2019 erstmals in die Slowakei abgeschoben. Sie reiste im Januar 2020 erneut in das Bundesgebiet ein.
22. Unter dem teilte das Landesamt für Asyl und Rückführungen dem Landratsamt (Ausländerbehörde) mit, dass eine Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Slowakei unter Begleitung durch Beamte der Bundespolizei am möglich sei. Die Ausländerbehörde fragte am bei der zuständigen Justizvollzugsanstalt die Reservierung eines Haftplatzes für die Beschwerdeführerin ab 25. August bis an. Die Haftanstalt bestätigte am selben Tag die Reservierung des Haftplatzes.
33. Ausweislich eines undatierten Telefonvermerks in der Akte des Amtsgerichts Wunsiedel, der mit dem Titel "Abschiebehaft für Frau (…)" überschrieben ist, vereinbarte die zuständige Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde vor dem oder am mit dem Haftrichter am Amtsgericht einen "Termin" für den , 10:30 Uhr. Der Richter verfügte für diesen Termin sogleich die Ladung eines Dolmetschers für die Sprache Slowakisch, welche am erfolgte.
44. Am übermittelte die Ausländerbehörde ein Transport-Ersuchen in Bezug auf die Beschwerdeführerin an die Polizeiinspektion und teilte mit, ein "Hafttermin" sei für den um 11 Uhr bei dem Amtsgericht terminiert; eine Vorsprache der Beschwerdeführerin bei der Ausländerbehörde werde voraussichtlich am gleichen Tag um 9 Uhr erfolgen.
55. Unter dem , Zugang beim Amtsgericht am , beantragte die Ausländerbehörde bei dem Amtsgericht die Anordnung von Abschiebungshaft gegen die Beschwerdeführerin.
66. Die Beschwerdeführerin wurde zu unbekannter Uhrzeit am anlässlich einer Vorsprache bei der Ausländerbehörde festgenommen und dem Haftrichter am Amtsgericht vorgeführt. Ausweislich der Sitzungsniederschrift befand sich die Beschwerdeführerin, die von dem Haftrichter zwischen 11:05 Uhr und 11:17 Uhr persönlich angehört wurde, "zurzeit im Polizeigewahrsam bei der Polizeiinspektion Wunsiedel".
77. Mit Beschluss vom , der um 11:15 Uhr an die Geschäftsstelle übergeben wurde, ordnete das Amtsgericht gegen die Beschwerdeführerin Haft zur Sicherung der Abschiebung bis an. Die Beschwerdeführerin wurde in die Haftanstalt verbracht.
88. Die Beschwerdeführerin, deren Beschwerde gegen den erfolglos blieb, wurde am in die Slowakei abgeschoben.
99. Unter dem beantragte die Beschwerdeführerin bei dem Amtsgericht festzustellen, dass die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin am bis zum Erlass des die Haft anordnenden Beschlusses des Amtsgerichts vom selben Tage rechtswidrig gewesen sei. Denn die Festnahme sei geplant erfolgt, ohne dass zuvor die erforderliche richterliche Entscheidung herbeigeführt worden sei.
1010. Mit Beschluss vom erließ das nunmehr zuständige Amtsgericht Ingolstadt in Bezug auf den Feststellungsantrag der Beschwerdeführerin einen "Nichtabhilfebeschluss". Zur Begründung verwies es auf die Gründe des Beschlusses vom . Es sei nicht ersichtlich, dass die Festnahme der Beschwerdeführerin geplant gewesen sei. Zudem sei im Falle einer Festnahme, die keine Inhaftierung darstelle, keine vorherige, richterliche Anordnung nötig.
1111. Mit Beschluss vom stellte das Landgericht Ingolstadt fest, dass der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme unzulässig sei. Zur Begründung führte es aus, das Gesetz kenne keinen Feststellungsantrag gegen freiheitsbeschränkende Maßnahmen. Die Festnahme der Beschwerdeführerin sei als kurzfristiger, von vornherein im Rahmen der Anwendung unmittelbaren Zwangs als vorübergehend gedachter Eingriff nicht als Freiheitsentziehung, sondern lediglich als freiheitsbeschränkende Maßnahme zu qualifizieren. Grundsätzlich habe die Ausländerbehörde die Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung vor der Festnahme des betroffenen Ausländers zu beantragen. Entsprechend habe im vorliegenden Fall die Behörde unter dem einen Haftantrag gestellt. Die Beschwerdeführerin sei nach ihrer Festnahme noch am selben Tag dem Haftrichter vorgeführt worden, sodass Defizite im Verfahrensgang nicht zu erkennen seien. Zudem lasse Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG eine behördliche Ingewahrsamnahme bei unverzüglicher Nachholung einer richterlichen Entscheidung zu.
II.
12Die Beschwerdeführerin hat am Verfassungsbeschwerde erhoben.
131. Sie wendet sich gegen den Nichtabhilfebeschluss des und gegen den .
142. Zur Begründung führt sie aus, Amts- und Landgericht hätten sie in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt.
15a) Das Amtsgericht habe, indem es ihren Feststellungsantrag als Beschwerde gegen den Haft anordnenden Beschluss vom angesehen und insofern eine Nichtabhilfeentscheidung getroffen habe, ihren tatsächlichen Antrag nicht geprüft und damit gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoßen. Auch das Landgericht habe die Gewährleistung des Gebots effektiven Rechtsschutzes verkannt und ihr mangels Anwendung der Vorschrift des § 428 Abs. 2 FamFG eine inhaltliche Entscheidung über ihr Feststellungsbegehren verwehrt.
16b) Amts- und Landgericht hätten sie zudem in ihrem Recht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG verletzt. Denn die Gerichte hätten missachtet, dass es sich bei ihrer Festnahme am um eine im Voraus geplante Maßnahme gehandelt habe. Dies werde durch den Umstand, dass der Antrag auf Anordnung der Haft mehrere Tage vor dem geplanten Zugriff gestellt worden sei, verdeutlicht. Demnach habe es noch vor dem Zugriff eines richterlichen Beschlusses bedurft.
III.
17Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und das Landratsamt Wunsiedel im Fichtelgebirge hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Ausländerakte der Beschwerdeführerin und die die Abschiebungshaft betreffenden Verwaltungsvorgänge haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
IV.
18Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Entscheidung liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts der Beschwerdeführerin - namentlich ihres Grundrechts auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG - angezeigt.
19Amts- und Landgericht haben das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 (dazu unter 1.) in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 (dazu unter 2.) in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (dazu unter 3.) verletzt, indem sie ihr eine Sachentscheidung über ihren Antrag auf Feststellung, dass die behördliche Ingewahrsamnahme bis zum Haft anordnenden Beschluss des Amtsgerichts rechtswidrig war, verwehrt haben (dazu unter 4.) und indem sie davon ausgingen, die behördliche Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin habe ohne vorherige richterliche Entscheidung ergehen können (dazu unter 5.).
201. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bezeichnet die Freiheit der Person als "unverletzlich". Diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung kennzeichnet das Freiheitsrecht als ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 29, 312 <316>; 65, 317 <322>). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene, tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen (vgl. BVerfGE 94, 166 <198>; 96, 10 <21>), also vor Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (vgl. BVerfGE 22, 21 <26>; 105, 239 <247>).
21Freiheitsbeschränkung (Art. 104 Abs. 1 GG) und Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 GG) grenzt das Bundesverfassungsgericht nach der Intensität des Eingriffs ab. Freiheitsentziehung ist die schwerste Form der Freiheitsbeschränkung (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>). Eine Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist. Der Tatbestand der Freiheitsentziehung kommt nur in Betracht, wenn die - tatsächlich und rechtlich an sich gegebene - körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird (vgl. BVerfGE 94, 166 <198>; 105, 239 <248>).
222. Für den schwersten Eingriff in das Recht der Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>). Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Alle staatlichen Organe sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (vgl. BVerfGE 105, 239 <248>; vgl. zu Art. 13 Abs. 2 GG: BVerfGE 103, 142 <151 ff.>).
23Die Freiheitsentziehung erfordert nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung, sodass die - zunächst - allein durch die Exekutive veranlasste Freiheitsentziehung eine rechtfertigungsbedürftige Ausnahme darstellt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2247/19 -, Rn. 25). Eine nachträgliche richterliche Entscheidung, deren Zulässigkeit in Ausnahmefällen durch Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG vorausgesetzt ist, genügt nur, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte, verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste (vgl. BVerfGE 22, 311 <317>). Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG gebietet in einem solchen Fall, die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen (vgl. BVerfGE 10, 302 <321>). "Unverzüglich" ist dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss (vgl. BVerfGE 105, 239 <249>). Nicht vermeidbar sind zum Beispiel Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein widerständiges Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare Umstände bedingt sind (vgl. BVerfGE 105, 239 <249>).
243. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet einen möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231>). Danach besteht nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern der Bürger hat einen Anspruch auf tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 37, 150 <153>; stRspr).
25Dem Richter ist es verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Schranken den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl. BVerfGE 37, 132 <141 ff.>; 49, 244 <248 ff.>; 53, 352 <356>; 79, 80 <84 f.>; 84, 366 <369 f.>). Daraus folgt auch, dass er bei der Auslegung einschränkender Normen und allgemeiner Zulässigkeitsanforderungen den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren darf (vgl. BVerfGE 74, 228 <234>; 77, 275 <284>; 112, 185 <208>).
26Mit der Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung, die schwerwiegend in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG eingreift, ist - wie sich aus den in § 62 Abs. 3 bis 3b AufenthG angeführten Haftgründen ergibt - notwendig die an das zurechenbare Verhalten des Ausländers anknüpfende Feststellung verbunden, der Betroffene werde ohne die Inhaftierung seine Abschiebung wesentlich erschweren oder vereiteln oder er werde versuchen unterzutauchen. Die Haftanordnung ist damit auch geeignet, das Ansehen des Betroffenen in der Öffentlichkeit herabzusetzen. Besteht hiernach bei Freiheitsentziehungen durch Haft zur Sicherung der Abschiebung ein schutzwürdiges Interesse an der (nachträglichen) Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit auch dann, wenn sie erledigt sind, so müssen die Fachgerichte dies bei Beantwortung der Frage nach der Statthaftigkeit eines Feststellungsantrags beziehungsweise nach dem Vorliegen eines ausreichenden Rechtsschutzinteresses gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG beachten. Nach der Funktionenteilung zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit obliegt es nämlich zunächst den Fachgerichten, die Grundrechte zu wahren und durchzusetzen (vgl. BVerfGE 47, 182 <191>; 49, 252 <258>; 63, 77 <79>; 73, 322 <327>; 96, 27 <40>; stRspr). Ein Beschwerdeführer, der von einer Haftanordnung schwerwiegend im Schutzbereich seines Freiheitsgrundrechts betroffen ist, darf nicht darauf verwiesen werden, erst und nur im Wege der Verfassungsbeschwerde effektiven Grundrechtsschutz einzufordern.
274. Gemessen an den vorstehenden Maßstäben haben Amts- und Landgericht den Rechtsschutz der Beschwerdeführerin unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verkürzt, indem sie den Feststellungsantrag der Beschwerdeführerin vom so ausgelegt haben, dass die gebotene Sachprüfung unterblieb.
28a) Gemäß § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG richtet sich das Verfahren in aufenthaltsrechtlichen Freiheitsentziehungssachen nach §§ 415 ff. FamFG. Der Rechtsschutz nach dem FamFG gilt nicht nur für richterliche Anordnungen einer Freiheitsentziehung. Die Regelung des § 428 Abs. 2 FamFG sieht vor, dass auch über die Anfechtung behördlicher Maßnahmen der Freiheitsentziehung im gerichtlichen Verfahren nach den Vorschriften des FamFG - mithin gemäß §§ 58 ff. FamFG - zu entscheiden ist. Der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der behördlichen Freiheitsentziehung stellt einen selbständigen Verfahrensgegenstand dar, über den neben der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der richterlich angeordneten Freiheitsentziehung gesondert zu entscheiden ist (vgl. -, juris, Rn. 13; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2470/17 -, Rn. 29).
29Dem Gebot effektiven Rechtsschutzes tragen § 428 Abs. 2 in Verbindung mit § 62 FamFG Rechnung, indem die Beschwerde auch dann für statthaft erklärt wird, wenn sich die freiheitsentziehende (behördliche) Maßnahme vor einer gerichtlichen Entscheidung erledigt hat. Von § 62 FamFG erfasst werden zudem Fälle, in denen die Erledigung der behördlichen Ingewahrsamnahme bereits vor Antragstellung eingetreten ist (vgl. -, juris, Rn. 7; Beschluss vom - I ZB 48/12 -, juris, Rn. 13).
30b) Das Amtsgericht hat die dargestellten fachrechtlichen Normen nicht auf eine mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes vereinbare Weise angewandt.
31Mit der Gewährleistung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbar ist zunächst, dass das Amtsgericht in Bezug auf den Feststellungsantrag einen bloßen "Nichtabhilfebeschluss" erließ und zur Begründung "auf den angefochtenen Beschluss" - also den Haft anordnenden verwies. Es sah damit den Feststellungsantrag der Beschwerdeführerin aus bei verständiger Würdigung nicht nachvollziehbaren, sachfremden Gründen und damit auf willkürliche Weise wohl als (weitere) gegen den Haft anordnenden gerichtete Beschwerde an. Damit offenbarte es, dass es den Verfahrensgegenstand - trotz des eindeutig formulierten Feststellungsantrags der Beschwerdeführerin - nicht richtig einzuordnen vermochte, und verkürzte, weil die Prüfung des tatsächlich gestellten Antrags unterblieb, auf diese Weise den Rechtsschutz der Beschwerdeführerin.
32c) Auch das Landgericht hat die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt, indem es ihren Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der behördlichen Ingewahrsamnahme als unzulässig erachtet hat.
33aa) Das Landgericht kam ohne hinreichende tatsächliche Prüfung und damit unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu der Annahme, die behördliche Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin habe eine bloße Freiheitsbeschränkung dargestellt. Jedoch fehlte es an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen dazu, wann genau und unter welchen Umständen die Beschwerdeführerin festgenommen wurde, sodass dem Gericht eine Einordnung ihrer Ingewahrsamnahme als bloße Freiheitsbeschränkung mangels ausreichender Tatsachengrundlage nicht möglich war. Dies lag auch darin begründet, dass es die Ausländerbehörde unterlassen hatte, in der Ausländerakte zu dokumentieren, wann genau und unter welchen Umständen die Beschwerdeführerin festgenommen wurde. Dadurch hatte die Behörde ihrerseits der allen staatlichen Stellen obliegenden, sich aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergebenden Dokumentationspflicht, deren Erfüllung einen effektiven Rechtsschutz erst ermöglicht (vgl. BVerfGE 118, 168 <208>), nicht genügt.
34bb) Im Übrigen wäre es, selbst wenn man die Perspektive des Landgerichts, wonach die Ingewahrsamnahme lediglich eine Freiheitsbeschränkung darstellte, einnähme, geboten gewesen, über den Antrag der Beschwerdeführerin eine inhaltliche Entscheidung herbeizuführen. Unabhängig davon, als welche Art des Eingriffs in das Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) die Ingewahrsamnahme zu werten war, hatte die Beschwerdeführerin jedenfalls die Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit beantragt.
35Das Landgericht war der Ansicht, einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer behördlichen Freiheitsbeschränkung kenne das FamFG nicht. Tatsächlich sieht das Fachrecht mit § 428 Abs. 2 FamFG lediglich die Möglichkeit vor, die behördliche Freiheitsentziehung nach FamFG überprüfen zu lassen. Die Vorschrift des § 428 Abs. 2 FamFG stellt eine abdrängende Sonderzuweisung im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1 a.E. VwGO zur ordentlichen Gerichtsbarkeit dar (Heidebach, in: Haußleiter, FamFG, 2. Aufl. 2017, § 428 Rn. 1; Günter, in: Hahne/Schlögel/Schlünder, BeckOK FamFG, § 428 Rn. 4 <Juni 2025>; Göbel, in: Sternal, FamFG, 21. Aufl. 2023, § 428 Rn. 7). Weil in Bezug auf behördliche Freiheitsbeschränkungen keine abdrängende Sonderzuweisung besteht, sind zur Entscheidung über derartige Anträge die Verwaltungsgerichte berufen. Das Landgericht hätte daher ausgehend von seiner Tatsachenannahme, dass (nur) eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, konsequenterweise den Antrag nach § 17a Abs. 2 GVG - von Amts wegen - an die Verwaltungsgerichtsbarkeit verweisen müssen.
36Denn es läuft dem Gebot einer Gewährleistung wirkungsvollen Rechtsschutzes, wie Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und das Rechtsstaatsprinzip sie enthalten, zuwider, Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von unterschiedlichen Rechtswegen auf dem Rücken des Rechtsuchenden auszutragen (vgl. BVerfGE 57, 9 <21 f.>). Diesen Schwierigkeiten ist von Verfassungs wegen dadurch Rechnung zu tragen, dass der Rechtsweg durch verbindliche Verweisung an das zuständige Gericht einer Klärung zugeführt wird (vgl. § 17a GVG). Die Fachgerichte müssen die Gewährung von Rechtsschutz bei unklarer Rechtsweglage durch Verweisung sicherstellen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 2271/14 -, Rn. 5; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1705/15 -, Rn. 18). Stattdessen führte das Landgericht schlicht aus, dass kein "Anlass für eine richterliche Entscheidung" bestehe. Den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ist damit nicht genügt worden.
375. Die Annahme von Amts- und Landgericht, das Verfahren "lasse keine Defizite erkennen" und die Beschwerdeführerin habe am ohne vorherige richterliche Entscheidung festgenommen werden dürfen, weil sie jedenfalls im Nachgang zeitnah dem Haftrichter vorgeführt worden sei, widerspricht den Gewährleistungen von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.
38a) Ob der Zweck der Freiheitsentziehung bei Abwarten einer richterlichen Entscheidung nicht erreicht werden kann und daher die Freiheitsentziehung im Einklang mit Art. 104 Abs. 2 GG ausnahmsweise ohne vorherige gerichtliche Anordnung erfolgen darf, bestimmt sich danach, ab wann die Ausländerbehörde eine Haftanordnung frühestmöglich hätte erwirken können. Maßgeblich ist, ob bezogen auf diesen Zeitpunkt der Zweck der Freiheitsentziehung gefährdet worden wäre, wenn die Ausländerbehörde sogleich eine richterliche Entscheidung beantragt hätte und diese zeitnah ergangen wäre (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 475/09 -, Rn. 18; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2367/07 -, Rn. 19). Umgekehrt wird der Richtervorbehalt nicht ausgelöst, wenn und solange unklar ist, ob die Abschiebungs- und Abschiebungshaftvoraussetzungen vorliegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 475/09 -, Rn. 19; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2247/19 -, Rn. 26).
39b) Für die Frage, ob der Zweck der Freiheitsentziehung bei Abwarten einer richterlichen Entscheidung nicht erreicht werden kann und daher die Freiheitsentziehung ausnahmsweise ohne vorherige gerichtliche Anordnung erfolgen darf, ist auf den Zeitpunkt, in dem erstmals alle für eine Entscheidung über die Freiheitsentziehung erforderlichen Informationen vorliegen, abzustellen. Daraus folgt, dass von der Ausländerbehörde konkret geplante Freiheitsentziehungen regelmäßig einer vorherigen richterlichen Anordnung bedürfen und Vollzugsbeamte der Polizei, die von der Ausländerbehörde darum ersucht worden sind, einen Ausländer im Wege der Amtshilfe in Gewahrsam zu nehmen, sich regelmäßig nicht mit Erfolg darauf berufen können, dass eine richterliche Anordnung nicht mehr rechtzeitig eingeholt werden habe können.
40Anders liegt der Fall, wenn ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer untertaucht und infolgedessen für die zu diesem Zeitpunkt zuständige Ausländerbehörde nicht mehr greifbar ist. Dann dürfte unklar sein, ob später die Abschiebungshaftvoraussetzungen vorliegen und welche Behörde gegebenenfalls für eine Ingewahrsamnahme zuständig sein wird; eine Festnahme im Falle des Aufgreifens des betroffenen Ausländers könnte lediglich ab-strakt geplant werden, wenn weder Aufgriffsort noch -zeitpunkt abgeschätzt werden können. Ein untergetauchter, vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer kann daher zum Zwecke des Verbringens vor den Haftrichter ohne Verstoß gegen Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG durch die Exekutive in Gewahrsam genommen werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 475/09 -, Rn. 18 f.).
41c) Gemessen hieran haben Amts- und Landgericht verkannt, dass die behördliche Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin ohne vorherigen richterlichen Beschluss gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG verstieß.
42aa) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob eine richterliche Entscheidung noch vor der Festnahme der Beschwerdeführerin herbeigeführt werden konnte, war hier spätestens der . Spätestens an diesem Tag lagen der Ausländerbehörde alle eine mögliche Freiheitsentziehung der Beschwerdeführerin betreffenden Informationen vor. Denn nachdem der Ausländerbehörde von dem Landesamt für Asyl und Rückführungen am mitgeteilt worden war, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin für den geplant sei, begann die Ausländerbehörde mit den Vorbereitungen der Maßnahme, reservierte für die Beschwerdeführerin einen Haftplatz in der Haftanstalt, informierte vor dem oder am das Amtsgericht über die geplante Beantragung von Sicherungshaft und vereinbarte zu diesem Zweck auch einen "Termin" am Amtsgericht für den . Schließlich stellte die Ausländerbehörde unter dem einen Haftantrag beim Amtsgericht.
43bb) Warum das Amtsgericht, bei dem der Antrag der Ausländerbehörde am einging, vor der geplanten Festnahme der Beschwerdeführerin am keinen Beschluss erließ, ist von den Fachgerichten weder aufgeklärt worden noch sonst erkennbar. Eine richterliche Entscheidung über den Haftantrag wäre vor der Festnahme der Beschwerdeführerin möglich gewesen, ohne dass dadurch der Zweck der Haft gefährdet worden wäre. Das Amtsgericht hätte die vorläufige Freiheitsentziehung nach § 427 Abs. 3 FamFG im Wege der einstweiligen Anordnung anordnen und bei Bestehen der Gefahr, dass durch die Kenntnis der Beschwerdeführerin von ihrer geplanten Inhaftierung eine Festnahme verunmöglicht werden könnte, von der vorherigen Anhörung der Beschwerdeführerin absehen können. Auch eine Mitteilung der Entscheidung an die Beschwerdeführerin hätte nach § 431 Satz 1 in Verbindung mit § 308 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 FamFG zunächst unterbleiben können, sodass die Beschwerdeführerin von der geplanten Festnahme keine Kenntnis erlangt hätte.
44Nachdem bis zum Morgen des kein haftrichterlicher Beschluss vorlag, durfte die Ausländerbehörde die Polizeibediensteten nicht darum ersuchen, die Beschwerdeführerin im Wege der Amtshilfe festzunehmen. Es lag, nachdem die Ausländerbehörde bereits etwa zehn Tage vor der Festnahme der Beschwerdeführerin mit konkreten Vorbereitungen für die Inhaftierung der Beschwerdeführerin begonnen hatte, im maßgeblichen Zeitpunkt kein Fall von Gefahr im Verzug vor, der eine behördliche Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin ohne vorherigen richterlichen Beschluss gestattet hätte.
45cc) Die behördliche Festnahme der Beschwerdeführerin verletzte diese auch dann in ihrem Recht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG, wenn sie, wie von Ausländerbehörde und Gerichten behauptet, zeitnah vor den Haftrichter verbracht worden sein sollte. Der Richtervorbehalt in Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG, der einem Machtmissbrauch durch die Exekutive vorbeugen soll (vgl. Leibholz/von Mangoldt, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Band 1, 1951, S. 747 f.), ist streng auszulegen. Eine behördliche Fest- oder Ingewahrsamnahme ohne vorherigen richterlichen Beschluss darf ausschließlich bei Vorliegen von Gefahr im Verzug, wenn also die vorherige Einholung einer richterlichen Entscheidung den Zweck der Haft vereiteln würde, erfolgen.
V.
461. Der und der sind aufzuheben und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG).
472. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts findet ihre Grundlage in § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20250804.2bvr032922
Fundstelle(n):
TAAAK-02927