Zur Unkenntnis der Finanzbehörde bei einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO
Leitsatz
1. Zur Beantwortung der Frage, ob die Finanzbehörde Kenntnis von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen hat, ist auf diejenigen Personen abzustellen, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisationsmäßig für die Bearbeitung des Steuerfalls berufen sind beziehungsweise die den (zu ändernden) Steuerbescheid erlassen haben.
2. Elektronische Daten, die nicht automatisch zur Papierakte/elektronischen Akte gelangen, sondern lediglich auf Datenspeichern der Finanzbehörde zum Abruf bereitliegen, sind nicht schon deshalb bekannt im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung, weil sie mit der Steuernummer des Steuerpflichtigen verknüpft sind.
Gesetze: AO § 149 Abs. 1 Satz 1; AO § 152 a.F.; AO § 169 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2; AO § 170 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1; AO § 370 Abs. 1 Nr. 2; AO § 378 Abs. 1; EStG § 25 Abs. 3; EStG § 26; EStG § 26b; EStG § 46 Abs. 2 Nr. 3a; EStDV § 56 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b; StGB § 1; GG Art. 103 Abs. 2
Instanzenzug:
Tatbestand
I.
1 Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute und wurden für die Streitjahre (2009 und 2010) zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 2008 erzielte lediglich der Kläger Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, wobei sein Lohnsteuerabzug nach der Steuerklasse III erfolgte. Die Kläger reichten bis zum Veranlagungszeitraum 2008 regelmäßig Einkommensteuererklärungen ein. Der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) speicherte den Steuerfall als Antragsveranlagung.
2 In den Streitjahren erzielte auch die Klägerin Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Weitere Einkünfte erzielten die Kläger nicht. Der Lohnsteuerabzug des Klägers erfolgte weiterhin nach der Steuerklasse III, derjenige der Klägerin nach der Steuerklasse V. Ihr Steuerfall blieb beim FA als Antragsveranlagung gespeichert.
3 Die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen wurden dem FA von den jeweiligen Arbeitgebern übermittelt und im Datenverarbeitungsprogramm unter der Steuernummer der Kläger in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar erfasst. Außerdem händigten die Arbeitgeber den Klägern Ausdrucke der jeweiligen elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen aus, auf denen vermerkt war, dass die Daten maschinell an die Finanzverwaltung übertragen worden seien.
4 Steuererklärungen reichten die Kläger für die Streitjahre nicht mehr ein. Aufforderungen zur Abgabe der Einkommensteuererklärungen erließ das FA nicht. Die wesentlichen Veranlagungsarbeiten (zu 95 %) schloss es für das Streitjahr 2009 am und für das Streitjahr 2010 am ab.
5 Anfang des Jahres 2018 fiel bei Bearbeitung einer von der Oberfinanzdirektion (OFD) . übersandten eDaten-Prüfliste auf, dass mit Aufnahme der nichtselbständigen Arbeit durch die Klägerin im Jahr 2009 ein Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung erfolgt war und die Kläger daher entsprechend verpflichtet gewesen wären, Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre abzugeben.
6 Am erließ das FA daraufhin für die Streitjahre Schätzungsbescheide und setzte die Einkommensteuer auf . € (2009) und . € (2010) sowie Verspätungszuschläge in Höhe von . € (2009) sowie . € (2010) fest.
7 Der hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) statt. Es war im Wesentlichen der Ansicht, dass der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung —AO—) nicht erfüllt sei, weil dem zuständigen Bearbeiter die für eine Veranlagung der Kläger erforderlichen Informationen abrufbar zur Verfügung gestanden hätten. Das FA habe deshalb zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen Kenntnis gehabt.
8 Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
9 Es beantragt sinngemäß,
das aufzuheben und die Klage abzuweisen.
10 Die Kläger beantragen,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Gründe
II.
11 Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
12 1. Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist eine Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist.
13 a) Die Festsetzungsfrist beträgt für die Einkommensteuer gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO grundsätzlich vier Jahre. Sie beträgt nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO zehn Jahre, soweit eine Steuer hinterzogen, und fünf Jahre, soweit eine Steuer leichtfertig verkürzt worden ist.
14 b) Gemäß § 170 Abs. 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist. Ist eine Steuererklärung einzureichen, beginnt die Festsetzungsfrist abweichend mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).
15 c) Im Streitfall waren die zur Einkommensteuer zusammenveranlagten Kläger gemäß § 149 Abs. 1 Satz 1 AO und § 25 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 56 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung und § 46 Abs. 2 Nr. 3a EStG für die Streitjahre zur Abgabe von Steuererklärungen verpflichtet. Denn danach ist bei Ehegatten, die —wie vorliegend— nach den §§ 26, 26b EStG zusammen zur Einkommensteuer zu veranlagen sind, beide Arbeitslohn bezogen haben und einer von ihnen für den Veranlagungszeitraum oder einen Teil davon nach der Steuerklasse V besteuert worden ist, eine Veranlagung durchzuführen, wenn das Einkommen ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit besteht, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist.
16 Die Festsetzungsfrist begann daher für das Streitjahr 2009 mit Ablauf des und für das Streitjahr 2010 mit Ablauf des . Sie lief mithin grundsätzlich am beziehungsweise am ab.
17 Da dies zwischen den Beteiligten nicht streitig ist, sieht der Senat von einer weiteren Begründung ab.
18 2. Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass vorliegend eine Verlängerung der regulären Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. §§ 370, 378 Abs. 1 AO deshalb nicht in Betracht komme, weil das FA zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen Kenntnis gehabt habe und der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen beziehungsweise einer leichtfertigen Steuerverkürzung daher nicht erfüllt sei. Der Senat kann allerdings auf Grundlage der bisherigen Feststellungen der Vorinstanz nicht selbst beurteilen, ob die Kläger durch die pflichtwidrige Nichtabgabe von Steuererklärungen für die Streitjahre eine Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung begangen haben und das FA daher die streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheide einschließlich der Festsetzung von Verspätungszuschlägen für die Streitjahre oder das Streitjahr 2010 am noch erlassen durfte.
19 a) Ob eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt, bestimmt sich auch bei Prüfung der Festsetzungsverjährung gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nach §§ 370, 378 AO, da § 169 AO diesbezüglich keine Legaldefinition enthält (z.B. , BFHE 245, 295, BStBl II 2014, 698, Rz 51). Hinterzogen sind die Beträge, für die der objektive und subjektive Tatbestand des § 370 Abs. 1 AO, leichtfertig verkürzt die Beträge, für die der objektive und subjektive Tatbestand des § 378 Abs. 1 AO erfüllt ist. § 378 Abs. 1 AO setzt hinsichtlich der Tathandlung die Verwirklichung einer Tatbestandsvariante des § 370 Abs. 1 AO voraus. Die Tat muss vollendet sein. Der bloße Versuch einer Steuerhinterziehung oder einer leichtfertigen Steuerverkürzung führt nach dem klaren Wortlaut des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nicht zu einer Verlängerung der Festsetzungsfrist.
20 b) Nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO begeht eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen, wer vorsätzlich die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt.
21 aa) Ob ein tatbestandsmäßiges In-Unkenntnis-Lassen bereits dann vorliegt, wenn Steuererklärungen —wie vorliegend— pflichtwidrig nicht oder nicht rechtzeitig abgegeben werden (so insbesondere Landgericht Aurich, Urteil vom - 12 Ns 310 Js 8712/15 (158/15); Klein/Jäger, AO, 18. Aufl., § 370 Rz 60b; Roth, Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht —NZWiSt— 2017, 308; Deckers, NZWiSt 2019, 146; Madauß, NZWiSt 2022, 72; Rolletschke, NZWiSt 2022, 500; offengelassen: Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom - 4 St RR 8/2002, Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen 2002, 54) oder ob die Norm im Sinne eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals darüber hinaus erfordert, dass die Finanzbehörde im maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt (Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten) über den wahren Sachverhalt (die steuerlich erheblichen Tatsachen) (noch) keine Kenntnis hat (so z.B. Oberlandesgericht —OLG— Köln, Urteil vom - III-1 RVs 253/16; OLG Oldenburg, Beschluss vom - 1 Ss 51/18, NZWiSt 2019, 145; ; Stark-Lütke Schwienhorst/Hoyer in Gosch, AO § 370 Rz 79; Krumm in Tipke/Kruse, § 370 AO Rz 73; Grötsch/Stürzl, Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht 2019, 127), kann der erkennende Senat im Streitfall offenlassen.
22 bb) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz hatte das FA zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen jedenfalls noch keine Kenntnis.
23 Bei der Hinterziehung von Veranlagungssteuern durch Unterlassen tritt —sofern nicht vorher ein Schätzungsbescheid ergangen ist— der Taterfolg der Steuerverkürzung zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Veranlagung stattgefunden hätte, wenn die Steuererklärung pflichtgemäß eingereicht worden wäre; dies ist spätestens dann der Fall, wenn das zuständige FA die Veranlagungsarbeiten für die betreffende Steuerart und den betreffenden Zeitraum im Wesentlichen abgeschlossen hat (ständige Rechtsprechung, z.B. , Rz 13, m.w.N.).
24 (1) Zur Beantwortung der Frage, ob die Finanzbehörde Kenntnis von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen hat, ist auf diejenigen Personen abzustellen, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisationsmäßig für die Bearbeitung des Steuerfalls berufen sind beziehungsweise die den (zu ändernden) Steuerbescheid erlassen haben (vgl. auch , BStBl II 1999, 854, unter II.1. zu § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO).
25 Die Finanzbehörde muss sich danach den gesamten Inhalt der bei ihr geführten Papierakten, aber ebenso auch einer elektronisch geführten Akte als bekannt zurechnen lassen. Bekannt sind neben dem Inhalt dieser geführten Akten auch sämtliche Informationen, die dem Sachbearbeiter von anderen (Dienst-)Stellen über ein elektronisches Informationssystem zur Verfügung gestellt werden, ohne dass es insoweit auf die individuelle Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters ankommt.
26 Nicht bekannt sind dagegen elektronische Daten, die nicht automatisch zur Papierakte/elektronischen Akte gelangen und lediglich auf abrufbaren Datenspeichern der Finanzbehörde liegen; dies gilt auch dann, wenn die Daten —wie im Streitfall— mit der Steuernummer verknüpft sind. Dies ergibt sich letztlich aus dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes i.V.m. § 1 des Strafgesetzbuches.
27 (2) Bei Heranziehung dieser Grundsätze ist das FG zu Unrecht von einer den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ausschließenden Kenntnis des sachlich zuständigen Bearbeiters im maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt ausgegangen.
28 Nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) blieb der Steuerfall der Kläger auch in den Streitjahren als Antragsveranlagung gespeichert. Die mit den elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen an das FA übermittelten Daten waren zwar mit der gemeinsamen Steuernummer der Kläger verknüpft und dieser tatsächlich zugeordnet. Sie waren aber nur aus einem Datenspeicher in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar, ohne dass sie bereits automatisch zu einer Papierakte oder elektronischen Akte gelangt waren. Angesichts der Speicherung als Antragsveranlagung bestand für den Bearbeiter keine Veranlassung zur Einsicht in den Datenspeicher und zum Datenabruf. Kenntnis von dem steuerrelevanten Tatbestand (den Einkünften auch der Klägerin und der damit aufgrund der gewählten Steuerklassen III und V nach den Ausführungen unter II.1.c bestehenden Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen) hat der sachlich zuständige Bearbeiter vielmehr erstmals Anfang des Jahres 2018 durch die von der OFD . übersandte eDaten-Prüfliste erlangt.
29 (3) Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Es hat daher —von seinem Standpunkt aus zu Recht— insbesondere keine hinreichenden Feststellungen zum subjektiven Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO beziehungsweise für das Streitjahr 2010 gegebenenfalls einer leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) getroffen. Dies hat das FG im zweiten Rechtsgang nachzuholen. Die Sache wird daher mangels Spruchreife an die Vorinstanz zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
30 Sollte das FG im zweiten Rechtsgang zu der Ansicht gelangen, dass sich die reguläre Festsetzungsfrist auf zehn oder fünf Jahre verlängert hat, wird es für die Streitjahre oder zumindest das Streitjahr 2010 zudem die Rechtmäßigkeit der vom FA nach § 152 AO in der bis zum geltenden Fassung i.V.m. Art. 97 § 8 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom (BGBl I 1976, 3341) festgesetzten Verspätungszuschläge zu überprüfen haben.
31 3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2025:U.140525.VIR14.22.0
Fundstelle(n):
CAAAK-01268