Instanzenzug: Az: S 48 SO 454/20 Urteilvorgehend Bayerisches Landessozialgericht Az: L 8 SO 109/22 Urteil
Tatbestand
1Im Streit ist noch die Erstattung von Eingliederungshilfeleistungen iHv 16 872 Euro, die die Klägerin zugunsten der Leistungsberechtigten V J (J) im Jahr 2015 erbracht hat.
2Bei der 2008 geborenen J ist wegen einer Schwerhörigkeit mit Sprachstörung ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 unter Zuerkennung des Merkzeichens RF sowie seit April 2014 Sigmatismus und ein Entwicklungsrückstand festgestellt. Der beklagte überörtliche Träger der Sozialhilfe bewilligte ihr heilpädagogische Leistungen in einer Frühförderstelle von Mai 2014 bis September 2015. Einen von den Großeltern der Leistungsberechtigten beim Landratsamt an deren Wohnort gestellten "Antrag auf Hilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz - SGB VIII" (vom ) leitete das Landratsamt am an die Klägerin als örtliche Trägerin der Jugendhilfe am Wohnort der Mutter weiter. Die Klägerin leitete den Antrag im August 2014 unter Hinweis auf Eingliederungshilfebedarf und erforderliche Vollzeitpflege dem Beklagten zu. Dieser sandte den Antrag unter Hinweis auf die abgelaufene Weiterleitungsfrist zurück. Die Klägerin bewilligte daraufhin Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege mit Mehrbedarf Stufe 2 bei den Großeltern ab bis auf Weiteres sowie Pflegegeld ab (Bescheid vom ) und meldete Kostenerstattung beim Beklagten an. Der Beklagte lehnte in der Folge die Fallübernahme und eine Kostenerstattung mehrfach ab. Im Dezember 2019 wandte sich die Klägerin an den Beklagten und bat um einen generellen Verzicht auf die Einrede der Verjährung, weil eine umfassende Überprüfung aller Fälle nicht innerhalb weniger Tage durchgeführt werden könne; eine solche Erklärung lehnte der Beklagte ebenfalls ab.
3Am hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht (SG) München erhoben und in der Klageschrift folgende Anträge gestellt:"I. Es wird festgestellt, das in sämtlichen Fällen mit Kostenpositionen der Klägerin aus dem Jahr 2015, denen Sachverhalte zugrunde liegen, bei denen ein Vorrang-/Nachrang-Verhältnis i.S.d. § 10 Abs. 4 SGB VIll [Achtes Buch Sozialgesetzbuch] vorlag, ein Kostenerstattungsanspruch der Klägerin gemäß § 104 SGB X [Zehntes Buch Sozialgesetzbuch] gegenüber dem Beklagten besteht.Hilfsweise:II. Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin in sämtlichen Fällen mit Kostenpositionen der Klägerin aus dem Jahr 2015, denen Sachverhalte zugrunde liegen, bei denen ein Vorrang-/Nachrang-Verhältnis i.S.d. § 10 Abs. 4 SGB VIII vorlag, die von der Klägerin im Zeitraum mit jeweils aufgewandten Kosten zuzüglich Zinsen aus diesen Beträgen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten."
4Erst im März 2020 hat die Klägerin die geltend gemachten Forderungen dahingehend konkretisiert, dass ua für J Kostenerstattung iHv 20 314,80 Euro begehrt werde (Schriftsatz vom ). Das SG hat die Klage betreffend die Kostenerstattung für J abgetrennt und hat nach Klageerweiterung um die Erstattungsforderungen ab 2016 und Abgabe eines Teilanerkenntnisses für diese Zeiträume ein Anerkenntnisurteil erlassen und die Klage im Übrigen (für das Jahr 2015) abgewiesen (Urteil vom ). Zur Begründung hat es ausgeführt, die Forderung für das Jahr 2015 sei verjährt, weil mit der Klageerhebung die Forderung nicht ausreichend individualisiert worden sei. Auf die Berufung der Klägerin, die diese auf die Erstattung von 16 872 Euro beschränkt hat, hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und den Beklagten verurteilt, der Klägerin weitere 16 872 Euro zu zahlen (Urteil vom ). Zur Begründung hat es darauf verwiesen, an die Verjährungsunterbrechung durch Klageerhebung dürften keine weiteren Anforderungen an die Individualisierung des Klageanspruchs gestellt werden, als sie prozessual zu einer wirksamen Klageerhebung erforderlich seien. § 92 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erlaube die Konkretisierung des Anspruchs aber noch im Laufe des Prozesses. Diese wirke von Anfang an (ex tunc), nicht lediglich für die Zukunft (ex nunc).
5Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 113 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) iVm § 204 Abs 1 Nr 1 Alt 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Die Klage sei im Dezember 2019 schon nicht wirksam erhoben worden, da sie keinen konkreten identifizierbaren Klagegegenstand bezeichnet habe. Erst die Konkretisierung des Klagebegehrens im Jahr 2020 habe die Wirksamkeit der Klageerhebung hergestellt mit der Folge einer Verjährungshemmung nur für die Zukunft. Selbst wenn man eine wirksame Klageerhebung im Dezember 2019 annehme, sei eine Verjährungsunterbrechung erst nach der im März 2020 erfolgten Konkretisierung und Erkennbarkeit der Einzelfälle für die Zukunft eingetreten.
6Der Beklagte beantragt,das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom zurückzuweisen.
7Die Klägerin beantragt,die Revision zurückzuweisen.
8Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Gründe
9Die zulässige Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der Senat kann nicht abschließend entscheiden, ob die Erstattungsforderung der Klägerin für das Jahr 2015 verjährt ist. Entgegen der Auffassung des LSG genügt die Erhebung der Klage am für die Hemmung der Verjährung nicht, weil die Klageschrift den Gegenstand der Klage iS des § 92 Abs 1 Satz 1 SGG nicht ausreichend bezeichnet hat. Die nachträgliche Konkretisierung im März 2020 hat die Klage zwar zulässig gemacht, aber insoweit nicht auf den zurückgewirkt. Ob bis zur Konkretisierung des Klagebegehrens die Verjährung aus anderen Gründen gehemmt worden ist, kann der Senat nicht abschließend entscheiden.
10Das angefochtene Urteil leidet nicht unter einem von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmangel. Insbesondere eine Verletzung des Rechts auf Entscheidung durch den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz <GG>) liegt nicht vor, obgleich über die Berufung der Klägerin abweichend von § 33 Abs 1 Satz 1 SGG (idF des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom , BGBl I 2302) allein der Berichterstatter anstelle des Senats entschieden hat. Die Regelungen in § 155 Abs 3 und 4 SGG gestatten es von § 33 Abs 1 Satz 1 SGG abweichend dem Vorsitzenden oder - sofern bestellt - dem Berichterstatter, im Einverständnis der Beteiligten auch sonst anstelle des Senats zu entscheiden (sog "konsentierter Einzelrichter"). Für eine solche Verfahrensweise ist neben dem Vorliegen des Einverständnisses aller Beteiligten erforderlich, dass der Vorsitzende bzw der Berichterstatter im Rahmen des ihm eröffneten Ermessens pflichtgemäß darüber befindet, ob er von der besonderen Verfahrensweise einer Entscheidung nur durch einen Berufsrichter Gebrauch macht oder ob es aus sachlichen Gründen bei einer Entscheidung durch den gesamten Senat und unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter verbleiben muss (vgl nur B 9/9a SB 3/06 R - BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, RdNr 20 ff).
11Nach der Rechtsprechung des BSG kommt eine Entscheidung durch den Vorsitzenden oder Berichterstatter bei Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung (iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) oder im Fall einer Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) allerdings regelmäßig nicht in Betracht. Eine Entscheidung durch den konsentierten Einzelrichter soll danach grundsätzlich nicht nur für den Fall ausgeschlossen sein, dass dieser einer zu entscheidenden Rechtsfrage selbst grundsätzliche Bedeutung beimisst und deshalb die Revision zulässt, sondern auch, wenn er als Einzelrichter über eine Sache befindet, die objektiv betrachtet besondere rechtliche Schwierigkeiten aufweist, weil sie nach den zu § 160 Abs 2 Nr 1 SGG entwickelten Kriterien eine bislang oberstgerichtlich noch nicht hinreichend geklärte entscheidungserhebliche Rechtsfrage aufwirft, der Einzelrichter diese aber nicht erkennt (vgl B 9/9a SB 3/06 R - BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, RdNr 22; zuletzt ausführlich - RdNr 8 ff). Ob sich der Senat dieser Rechtsprechung, die mit beachtlichen Argumenten in Zweifel gezogen wird (zur Gegenauffassung zusammenfassend zuletzt Knispel, jurisPR-SozR 10/2023 Anm 2), in allen Punkten anschließt, kann indes offenbleiben.
12Es liegt hier jedenfalls ein Grund vor, wonach die die Handhabung des § 155 Abs 4 SGG nicht ermessensfehlerhaft erscheint. Die Ausführungen durch den Berichterstatter des LSG lassen erkennen, dass das LSG davon ausgegangen ist, die streitige Rechtsfrage sei durch das in Bezug genommene Urteil des BSG ( - BSGE 97, 125 = SozR 4-1500 § 92 Nr 3) abschließend geklärt. Das sind besondere Umstände, die plausibel machen, dass der Berichterstatter trotz objektiv bestehender grundsätzlicher Bedeutung der Sache seine Entscheidung nicht "am Senat vorbei" getroffen hat (vgl bereits - BSGE 127, 109 = SozR 4-2500 § 95 Nr 35, RdNr 21). Die Konstellation entspricht dem in der Rechtsprechung als Ausnahme anerkannten Fall, dass einer ständigen Rechtsprechung gefolgt werden soll bzw sich das Urteil des LSG auf bereits beim BSG anhängige Parallelfälle bezieht (vgl zu den anerkannten Ausnahmefällen - BSGE 109, 81 = SozR 4-1200 § 52 Nr 4, RdNr 7 f; - RdNr 17; - BSGE 127, 109 = SozR 4-2500 § 95 Nr 35, RdNr 21; - UV-Recht Aktuell 2019, 156 - RdNr 18; zuletzt auch - RdNr 10, für SozR 4 vorgesehen mwN).
13Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist der von der Klägerin verfolgte Anspruch auf Kostenerstattung, den sie im Berufungsverfahren der Höhe nach auf 16 872 Euro beschränkt hat. Diesen Anspruch verfolgt die Klägerin statthaft im Wege der allgemeinen Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG).
14Ob in der Sache als Anspruchsgrundlage der gegenüber den §§ 102 ff SGB X spezialgesetzliche § 14 Abs 4 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - (SGB IX, hier noch in der bis geltenden Fassung des Gesetzes zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen vom , BGBl I 606; nunmehr § 16 Abs 1 und 3 SGB IX idF des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen - Bundesteilhabegesetz - <BTHG> vom , BGBl I 3234) zur Anwendung kommt, kann der Senat mangels Feststellungen des LSG zum Antragsgeschehen nicht beurteilen. Hat danach ein Rehabilitationsträger Leistungen erbracht, für die ein anderer Rehabilitationsträger insgesamt zuständig ist, erstattet der zuständige Rehabilitationsträger dem leistenden Rehabilitationsträger dessen Aufwendungen nach den für den leistenden Rehabilitationsträger geltenden Rechtsvorschriften. Damit wird der Situation des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers Rechnung getragen, indem für ihn ein spezieller Erstattungsanspruch begründet wird, der die allgemeinen Erstattungsansprüche nach den §§ 102 ff SGB X verdrängt (vgl Luik in jurisPK-SGB IX, 2. Aufl 2015, § 14 RdNr 119 mwN, Stand ) und sicherstellt, dass der zweitangegangene Rehabilitationsträger im Nachhinein seine Aufwendungen vom "eigentlich" zuständigen Rehabilitationsträger zurückerhält (vgl nur - BSGE 98, 267 = SozR 4-3250 § 14 Nr 4, RdNr 11 ff).
15Die Klägerin, die sich (nach der für sich genommen rechtzeitigen Weiterleitung des Antrags vom durch das Landratsamt) selbst als "erstangegangener Träger" bezeichnet hat, kommt als zweitangegangener Rehabilitationsträger im Sinne dieser Vorschrift in Betracht. Im Einzelnen hat das LSG dazu keine weiteren Feststellungen getroffen. Aus dem vom ihm mitgeteilten Sachverhalt ergibt sich aber, dass der Beklagte bereits ab Mai 2014 heilpädagogische Rehabilitationsleistungen für J bewilligt hat. Das LSG wird deshalb zu prüfen haben, wann der hierfür zugrundeliegende Antrag beim Beklagten gestellt wurde, welcher Lebenssachverhalt sich aus dem Antrag ergeben hat, ab welchem Zeitraum Teilhabeleistungen beantragt waren und ob ausgehend hiervon der Beklagte bereits Anlass hatte, in eine weitergehende Bedarfsermittlung im Hinblick auf die später von der Klägerin ab Mai 2014 bewilligten Eingliederungshilfeleistungen der Unterbringung in einer Pflegefamilie einzutreten. Sollte sich danach herausstellen, dass tatsächlich der Beklagte erstangegangener Rehabilitationsträger gewesen ist und er den Antrag nicht weitergeleitet hat, wäre ausschließlich er verpflichtet gewesen, den Antrag umfassend, dh auf alle nach Lage des Falles in Betracht kommenden Leistungen und Anspruchsgrundlagen hin zu prüfen und insbesondere nicht "künstlich" in separate Teil-Leistungsanträge für verschiedene in Betracht kommenden Teilhabeleistungen aufzuspalten (vgl - BSGE 113, 40 = SozR 4-3250 § 14 Nr 19, RdNr 25). Zeitlich spätere Anträge, die dasselbe Rehabilitations-Geschehen betroffen hätten, hätten dann keine weiteren Fristen nach § 14 SGB IX ausgelöst; die Klägerin wäre dann sachlich unzuständig für die Leistungsbewilligung gewesen ( - BSGE 113, 40 = SozR 4-3250 § 14 Nr 19, RdNr 26) und hätte vom Beklagten zu Recht (auch) die Fallübernahme verlangt.
16§ 104 SGB X stellt sich dagegen dann als Anspruchsgrundlage für den Erstattungsanspruch dar, wenn mit dem am gestellten Antrag erstmals der Bedarf auf Unterbringung in einer Pflegefamilie erkennbar geworden ist. Hat danach ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs 1 SGB X (nachträglich entfallene Leistungsverpflichtung) vorliegen, ist derjenige Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Leistungsberechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (§ 104 Abs 1 Satz 1 SGB X). Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs 1 Satz 2 SGB X). Ein Erstattungsanspruch besteht nicht, soweit der nachrangig verpflichtete Leistungsträger seine Leistungen auch bei Leistung des vorrangig verpflichteten Leistungsträgers hätte erbringen müssen (§ 104 Abs 1 Satz 3 SGB X). Gemäß § 104 Abs 3 SGB X richtet sich der Umfang des Erstattungsanspruchs nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Vorschriften.
17Das Vorrang-Nachrang-Verhältnis iS des § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X ergibt sich vorliegend aus § 10 Abs 4 Satz 2 Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII, idF der Bekanntmachung der Neufassung vom , BGBl I 2022), der für junge Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung den Vorrang der Eingliederungshilfe regelt.
18J hat seit Mai 2014 (unabhängig von der Bezeichnung der Leistung in den Bescheiden) der Sache nach Leistungen der Unterbringung in einer Pflegefamilie als ambulante Leistung der Eingliederungshilfe erhalten (vgl § 54 Abs 3 SGB XII mWv eingeführt durch das Gesetz vom , BGBl I 2495; vgl seit dem § 80, § 102 Abs 1 Nr 4, § 113 Abs 1 und Abs 2 Nr 4 SGB IX), die durch ein intensives Betreuungsverhältnis gekennzeichnet ist und ua zur Vermeidung eines Aufenthalts in einer vollstationären Einrichtung erbracht wird, wenn dies dem Kindeswohl dient (dazu bereits - SozR 4-1750 § 524 Nr 1 RdNr 33; - BSGE 117, 53 = SozR 4-3500 § 54 Nr 13, RdNr 39). Wegen § 10 Abs 4 Satz 2 SGB VIII ist bei einem leistungsberechtigten Kind, bei dem (auch) eine geistige Behinderung vorliegt, Eingliederungshilfe, auch in Form der Betreuung in der Familie, im Verhältnis zur Jugendhilfe vorrangig (vgl zum Ganzen - BSGE 117, 53 = SozR 4-3500 § 54 Nr 13, RdNr 26; - SozR 4-1750 § 524 Nr 1 RdNr 20; - BSGE 128, 36 = SozR 4-1300 § 111 Nr 10, RdNr 14).
19Ein solcher Fall liegt hier vor; denn J gehörte nach den Feststellungen des LSG aufgrund der vorliegenden Behinderungen zum leistungsberechtigten Personenkreis gemäß § 53 Abs 1 SGB XII (in der bis unverändert gebliebenen Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom , BGBl I 2003, 3022) iVm § 1 der Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglhV) und war (zumindest auch) geistig behindert. Damit war der Beklagte als überörtlicher Sozialhilfeträger vorrangig zur Leistung verpflichtet (§ 10 Abs 4 Satz 2 SGB VIII). Seine sachliche Zuständigkeit ergibt sich auf der Grundlage der Feststellungen des LSG zum Landesrecht, dessen Auslegung gemäß § 162 SGG nicht revisibel ist; seine örtliche Zuständigkeit folgt aus einer entsprechenden Anwendung (vgl § 107 SGB XII) von § 98 Abs 2 SGB XII.
20Den danach dem Grunde nach bestehenden Erstattungsanspruch hat die Klägerin zwar unmittelbar nach der Leistungsbewilligung im April 2015 und damit rechtzeitig geltend gemacht (§ 111 SGB X); es lässt sich aber nicht abschließend prüfen, ob er für das Jahr 2015 verjährt ist.
21Erstattungsansprüche verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über dessen Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat (§ 113 Abs 1 Satz 1 SGB X). Für die hier streitigen Aufwendungen aus dem Jahr 2015 hat die vierjährige Frist damit am begonnen und - soweit eine Hemmung nicht eingetreten ist - mit Ablauf des geendet. Zutreffend wendet der Beklagte, der die Einrede der Verjährung erhoben hat, insoweit ein, dass jedenfalls die Klageerhebung am die Verjährung des Anspruchs (vgl § 113 Abs 1 Satz 1 SGB X) nicht gehemmt hat.
22§ 204 BGB, der für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung sinngemäß gilt (§ 113 Abs 2 SGB X), fasst die Hemmung der Verjährung durch Rechtsverfolgung zusammen. Die Verjährung wird ua gehemmt durch die Erhebung der Klage auf Leistung oder auf Feststellung "des Anspruchs" (§ 204 Abs 1 Nr 1 BGB). Allen Fallgruppen der Vorschrift ist gemeinsam, dass der Gläubiger ernsthaft zu erkennen gibt, seinen behaupteten Anspruch durchsetzen zu wollen (vgl - NJW 2004, 3772).
23Erhoben und damit rechtshängig wird die Streitsache grundsätzlich bereits durch Einreichung der Klageschrift oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (vgl § 90 SGG idF des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom , BGBl I 2208). "Klage" ist das Gesuch um gerichtlichen Rechtsschutz durch Urteil (vgl = SozR Nr 4 zu § 1613 RVO; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 90 RdNr 4a). Durch die Erhebung der Klage wird die Streitsache rechtshängig (§ 94 Satz 1 SGG idF des Gesetzes zur Änderung des Sachverständigenrechts und zur weiteren Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes, der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und des Gerichtskostengesetzes vom , BGBl I 2222). Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen (§ 92 Abs 1 Satz 1 SGG idF des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom , BGBl I 444) und soll einen bestimmten Antrag enthalten (§ 92 Abs 1 Satz 3 SGG). Sowohl der Antrag als auch die zu seiner Begründung angeführten Tatsachen bestimmen das Klagebegehren und damit den prozessualen Streitgegenstand; davon hängt der Umfang der Rechtshängigkeit gemäß § 94 Satz 1 SGG ab (vgl B 10 ÜG 4/16 R - SozR 4-1500 § 92 Nr 5 RdNr 12). Ob und in welchem Umfang danach eine Klage erhoben ist, ist durch Auslegung (§§ 133, 157 BGB) zu ermitteln (vgl - RdNr 19; - RdNr 9, jeweils mwN).
24§ 92 Abs 1 Satz 1 SGG in der seit dem geltenden Fassung verlangt jedenfalls von Leistungsträgern bei der gerichtlichen Geltendmachung von Erstattungsansprüchen, den Gegenstand ihres jeweiligen Klagebegehrens schon in der Klageschrift hinreichend zu konkretisieren (vgl Blöcher, jurisPR-SozR 25/2007 Anm 6). Mit der Änderung des § 92 Abs 1 Satz 1 SGG sind zwar immer noch geringere Anforderungen als in § 253 Abs 2 Nr 2 Zivilprozessordnung (ZPO) normiert, wonach die Klageschrift die bestimmte Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs enthalten muss. Auf die Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens kann aber (auch) im Sozialgerichtsprozess nach der Neufassung des § 92 Abs 1 Satz 1 SGG nicht verzichtet werden; mit der Neuregelung sollten die Anforderungen an Klageerhebung und Klagebegründung "moderat" angehoben werden (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13). Zudem hat der Vorsitzende den Kläger bei ungenügenden Angaben zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern (§ 92 Abs 2 Satz 1 SGG).
25Da § 92 Abs 1 Satz 1 SGG zwingende Erfordernisse für eine wirksame Klageerhebung aufstellt, ist zwar schon fraglich, ob es sich bei Fehlen der genannten Essentialia überhaupt um eine Klage handelt (vgl Estelmann in Zeihe, SGG, § 92 RdNr 24b). Der Wortlaut von § 92 Abs 2 Satz 1 SGG (entspricht "die Klage" den Anforderungen nach Abs 1 Satz 1 nicht), der eine "Klage" voraussetzt und der zugrundeliegende gesetzgeberische Wille (vgl BR-Drucks 820/07 S 22, "mangelhafte Klage") sprechen aber dafür, von einer wirksamen Klageerhebung auszugehen; die Klage ist aber bis zur Nachholung der Anforderungen aus § 92 Abs 1 Satz 1 SGG ("schwebend") unzulässig (vgl Binder in Berchtold, LPK-SGG, 6. Aufl 2021, § 92 RdNr 7; Kühl in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl 2020, § 92 RdNr 5; Estelmann in Zeihe, SGG, § 92 RdNr 24a; Föllmer in jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 92 RdNr 72 Stand ; zum gleichlautenden § 82 Abs 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung <VwGO> 9 B 498.89 - juris RdNr 4; - juris RdNr 9; Riese in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, § 82 VwGO RdNr 34, Stand 2/2025). Vor allem eine Klagefrist in Anfechtungssachen ist damit auch gewahrt, wenn die Klage zunächst den Anforderungen nach § 92 Abs 1 Satz 1 SGG nicht entspricht und erst in der Folge ergänzt wird (Kühl in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl 2020, § 92 RdNr 1).
26Von der Zulässigkeit der Klage bei ihrer Erhebung zu unterscheiden ist aber der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit und ihr Umfang, der für die verjährungshemmende Wirkung maßgeblich ist. Lediglich unter Geltung des § 92 Abs 1 Satz 1 SGG in der bis zum geltenden Fassung war es zur Unterbrechung der Verjährung einer Forderung durch Klageerhebung nach der Rechtsprechung nicht erforderlich, den Klageanspruch bereits zu diesem Zeitpunkt zu spezifizieren oder zu individualisieren (vgl - BSGE 97, 125 = SozR 4-1500 § 92 Nr 3). Zwar wird die Streitsache (nach wie vor) bereits durch die Erhebung der Klage rechtshängig (§ 94 Satz 1 SGG). Der Umfang der Rechtshängigkeit hängt aber von der Erkennbarkeit dessen ab, was der Kläger mit seiner Klage begehrt (vgl B 10 ÜG 4/16 R - SozR 4-1500 § 92 Nr 5 RdNr 12); hierauf zielt die Bezeichnung des "Gegenstands des Klagebegehrens" iS des § 92 Abs 1 Satz 1 SGG als Teilelement des Streitgegenstands ab (vgl BT-Drucks 11/7030 S 25 zu § 82 Abs 1 Satz 1 VwGO; Kopp/Schenke, VwGO, 30. Aufl 2024, § 82 RdNr 7; Aulehner in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl 2018, § 82 RdNr 19). Erforderlich und ausreichend ist, dass ein bestimmter (Lebens-)Sachverhalt (Klagegrund) wenigstens umrissen oder (aus den Umständen) erkennbar wird, aus dem der Kläger eine materielle Rechtsfolge herleiten will (Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, 14. Aufl 2023, § 92 RdNr 8; Kühl in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl 2020, § 92 RdNr 5; Diehm in BeckOGK, § 92 SGG RdNr 37, Stand ; Berchtold in Berchtold/Karmanski/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 3. Aufl 2024, § 6 RdNr 94; Föllmer in jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 92 RdNr 28, Stand ). Bei der Feststellungsklage ist dies das zugrundeliegende Rechtsverhältnis, dh wenn die Anwendung einer Norm auf einen konkreten, bereits übersehbaren Sachverhalt streitig ist (vgl - BSGE 131, 106 = SozR 4-4200 § 44a Nr 3, RdNr 17; - SozR 3-4427 § 5 Nr 1 S 4). Bei der allgemeinen Leistungsklage sind dies regelmäßig der geltend gemachte Leistungsanspruch und Leistungsgrund (Aulehner in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl 2018, § 82 RdNr 24). Fehlen die Angaben, hat das zur Folge, dass ein Prozessrechtsverhältnis (noch) nicht entstanden ist und über die Klage auch (noch) nicht entschieden werden kann (vgl Peters/Reinke in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl 2018, § 90 RdNr 12; Koehl, Die Klageerhebung und -zustellung im Verwaltungsprozess, NVwZ 2017, 1089, 1093). Die Hemmung der Verjährung nach § 204 Abs 1 Nr 1 BGB tritt erst ein, wenn die entsprechende Handlung nachgeholt ist (vgl Blöcher, jurisPR-SozR 25/2007 Anm 6; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, 14. Aufl 2023, § 92 RdNr 10; Luik in Hennig, SGG, § 94 RdNr 82 Stand 3/2019).
27Nach diesen Grundsätzen hat die Klageerhebung die Verjährung nicht gehemmt. Es sind lediglich Kläger und Beklagter in der Klageschrift ausreichend bezeichnet, nicht dagegen der Gegenstand des Klagebegehrens. Er lässt sich auch durch Auslegung nicht ermitteln, weil jegliche Anknüpfungspunkte hierzu fehlen. Weder im Feststellungsantrag (dem Hauptantrag) noch im zunächst nur hilfsweise gestellten Leistungsantrag noch in der Begründung der Klageschrift macht die Klägerin irgendwelche konkreten Angaben zum zugrundeliegenden Lebenssachverhalt und damit zum geltend gemachten "Anspruch". Soweit sie "Klage wegen Kostenerstattung" erhebt und im Haupt- und Hilfsantrag jeweils "sämtliche Fälle mit Kostenpositionen der Klägerin aus dem Jahr 2015, denen Sachverhalte zugrunde liegen, bei denen ein Vorrang-/Nachrang-VerhäItnis i.S.d. § 10 Abs. 4 SGB VIII vorlag" nennt, ergibt sich daraus zwar, dass sie im Jahr 2015 Aufwendungen hatte und deren Erstattung von dem Beklagten geltend macht. Es fehlen aber jedwede individualisierende Angaben zu den zugrundeliegenden Lebenssachverhalten, also Angaben zu den betreffenden Leistungsempfängern und zu den jeweils erbrachten Leistungen sowie Angaben zur betragsmäßigen Höhe des bzw der geltend gemachten Ansprüche. Auch die Klagebegründung enthält keine hinreichend konkreten Angaben, um den Gegenstand des Klagebegehrens zu bestimmen. Dort wird vielmehr ohne Nennung der Anzahl der Fälle und der betreffenden leistungsberechtigten Personen lediglich mitgeteilt, es sei "möglich, dass in manchen Fällen fälschlicherweise von einer primären bzw. alleinigen Zuständigkeit der Klägerin ausgegangen wurde", aber bislang gerade keine Prüfung erfolgt sei "wie viele der Fälle aus dem Jahr 2015 … nebst der entsprechenden Bezifferungen bzw. Konkretisierungen" betroffen seien und es werde "eine weitere Begründung der Klage sowie die Konkretisierung der betroffenen Fälle einschließlich der Bezifferung der Höhe der Erstattungsansprüche … als bald als möglich nachgereicht". Mit der Nachholung der fehlenden Angaben im März 2020 ist die Klage zwar - wie dargestellt - zulässig geworden, aber die verjährungshemmende Wirkung der Rechtshängigkeit in Bezug auf den konkret geltend gemachten Anspruch tritt erst ex nunc ein.
28Denkbar erscheint allerdings, dass der Eintritt der Verjährung durch Verhandlungen zwischen den Beteiligten gehemmt worden ist, sodass die Verjährungsfrist nicht schon mit Ablauf des geendet hat, sondern ggf bis zum - dem Zeitpunkt der Konkretisierung des Klagegegenstands - oder darüber hinaus gelaufen ist. Dies kann der Senat mangels Feststellungen nicht beurteilen, die das LSG ausgehend von seiner Rechtsauffassung konsequent bislang nicht getroffen hat. § 203 Satz 1 BGB, der für die Hemmung der Verjährung sinngemäß gilt (§ 113 Abs 2 SGB X), bestimmt: Schweben zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger Verhandlungen über den Anspruch oder die den Anspruch begründenden Umstände, so ist die Verjährung gehemmt, bis der eine oder der andere Teil die Fortsetzung der Verhandlungen verweigert. Der Zeitraum, während dessen die Verjährung gehemmt ist, wird in die Verjährungsfrist nicht eingerechnet (§ 209 BGB). Insofern wird das LSG noch Feststellungen dazu treffen, ob die Verjährungsfrist sich ggf bis zum verlängert hat.
29Die bloße schriftliche Geltendmachung des Erstattungsanspruches hemmt die Verjährung zwar nicht (vgl - BSGE 69, 158, 163 = SozR 3-1300 § 113 Nr 1 S 6 = juris RdNr 25). Das LSG hat aber im Tatbestand des Urteils mitgeteilt, dass die Beteiligten im April 2015 und zwischen März und Mai 2019 sowie im Dezember 2019 über die behördliche Zuständigkeit, die Frage einer Fallübernahme und die Frage eines Verjährungsverzichts korrespondierten, aber ausgehend von seiner Rechtsauffassung keine näheren Feststellungen zum Inhalt und zur Frage getroffen, ob und ggf in welchem Zeitraum "Verhandlungen" stattgefunden haben (vgl dazu - NJW 2020, 3653 = juris RdNr 28; - SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 16, jeweils mwN). Sollte der Beklagte tatsächlich erstangegangener Rehabilitationsträger gewesen sein, kommt schließlich in Betracht, dass ihm die Berufung auf die Einrede der Verjährung nach Treu und Glauben verwehrt ist.
30Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
31Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 3, § 47 Abs 1 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2025:280525UB8SO1123R0
Fundstelle(n):
VAAAK-00900