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BAG Beschluss v. - 5 AZN 142/25

absoluter Revisionsgrund - Telefonkonferenz

Leitsatz

Hat das Gericht bereits abschließend über das Urteil beraten und abgestimmt, dieses aber noch nicht verkündet, kann die Beratung und Abstimmung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung aufgrund eines nach ihrem Schluss nachgereichten Schriftsatzes auch nach der Neufassung von § 193 Abs. 1 GVG und dem Inkrafttreten von § 9 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 ArbGG zum weiterhin mit Einverständnis aller Richter im Wege einer Telefonkonferenz durchgeführt werden.

Instanzenzug: ArbG Aachen Az: 3 Ca 1217/23 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Köln Az: 6 Sa 633/23 Urteil

Gründe

1Die beschränkt eingelegte Beschwerde ist begründet.

2I. Das Landesarbeitsgericht war bei seiner Entscheidung nicht ordnungsgemäß besetzt (§ 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG iVm. § 547 Nr. 1 ZPO). Dies führt in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht.

31. Das erkennende Gericht ist iSv. § 547 Nr. 1 ZPO nicht ordnungsgemäß besetzt, wenn an der Entscheidung, ob nach Schluss der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingegangene Schriftsätze einer Partei Veranlassung zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach § 156 ZPO geben, nicht die gesetzlich vorgesehenen Richter mitwirken. Auch wenn der nachgereichte Schriftsatz nicht mehr bei der Entscheidung über das Urteil Beachtung finden kann, weil das Urteil nach Beratung und Abstimmung bereits gefällt (§ 309 ZPO), aber noch nicht verkündet ist, hat das Gericht bis zur Urteilsverkündung eingehende Schriftsätze zur Kenntnis zu nehmen und eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu prüfen (vgl. etwa  - Rn. 10 mwN, BAGE 163, 183;  - zu II 2 a der Gründe).

42. Die Entscheidung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ergeht dabei grundsätzlich durch den Spruchkörper in vollständiger Besetzung und nicht durch den Vorsitzenden allein. Ist das Urteil bei Eingang eines nachgereichten Schriftsatzes bereits abschließend beraten und abgestimmt, aber noch nicht verkündet, müssen an dieser Entscheidung diejenigen Richter mitwirken, die an der vorangegangenen letzten mündlichen Verhandlung beteiligt waren ( - Rn. 12, BAGE 163, 183; - 6 AZN 646/08 - Rn. 4 ff. mwN, BAGE 129, 89). Dies gilt auch, wenn an der mündlichen Verhandlung ehrenamtliche Richter mitgewirkt haben ( - Rn. 13, aaO; - 4 AZR 185/10 - Rn. 17). Die Beratung und Abstimmung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung kann in diesem Fall auch im Wege einer Telefonkonferenz durchgeführt werden, bei der unter der Leitung des Vorsitzenden jeder Teilnehmer von seinem Telefonapparat zeitgleich mit jedem anderen Teilnehmer kommunizieren kann und alle Teilnehmer die gesamte Kommunikation mithören können. Voraussetzung hierfür ist das Einverständnis aller beteiligten Richter. Zudem muss sichergestellt sein, dass auf Wunsch jederzeit in eine mündliche Beratung im Beisein aller Richter eingetreten werden kann (vgl.  - Rn. 12; - 2 AZR 417/14 - Rn. 12, BAGE 151, 199;  - Rn. 33).

53. An der Zulässigkeit einer solchen Nachberatung im Rahmen einer Telefonkonferenz hat sich auch nach der Neufassung von § 193 Abs. 1 GVG und dem Inkrafttreten von § 9 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 ArbGG zum nichts geändert. Die durch das Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vom (BGBl. I Nr. 237) eingeführten Bestimmungen ermöglichen es den Gerichten für Arbeitssachen, die Beratung und Abstimmung aller zur Entscheidung berufenen Richter mit deren Einverständnis ganz oder teilweise per Bild- und Tonübertragung durchzuführen, sofern es sich nicht um eine erstmalige gemeinsame Beratung und Abstimmung mit den ehrenamtlichen Richtern bei einer aufgrund mündlicher Verhandlung ergehenden Entscheidung handelt. Damit kann zwar eine Nachberatung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach § 156 ZPO im Fall eines bereits abschließend beraten und abgestimmten, aber noch nicht verkündeten Urteils auf diesem Weg erfolgen. Dies schließt aber nicht aus, eine solche Beratung weiterhin auch im Rahmen einer Telefonkonferenz durchzuführen (aA BeckOK ArbR/Clemens Stand ArbGG § 9 Rn. 3). Die Gesetzesmaterialien zeigen, dass der Gesetzgeber mit dem Einsatz von Videokonferenztechnik bei Nachberatungen nur ein zusätzliches Kommunikationsmittel eröffnen wollte. In der Gesetzesbegründung wird - unter gleichzeitiger Bezugnahme auf die Entscheidung des - 1 AZR 223/14 -) - ausdrücklich darauf verwiesen, dass die Telefonkonferenz für Nachberatungen „nach der Rechtsprechung heute schon … anerkannt“ ist. Nachberatungen sollen daher „auch“ per Bild- und Tonübertragungen möglich sein (vgl. BT-Drs. 20/8095 S. 69). Dementsprechend beschränkt sich die Bedeutung von § 9 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 ArbGG lediglich darauf, einen flexiblen Einsatz von Videokonferenztechnik auch bei den Arbeitsgerichten zu ermöglichen. Die bereits zuvor anerkannte Möglichkeit der Beratung und Abstimmung über einen nachträglich eingegangenen Schriftsatz im Wege einer Telefonkonferenz sollte dagegen nicht beseitigt werden.

64. Ausgehend hiervon war das Landesarbeitsgericht bei seiner - durch den nach Schluss der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingegangenen Schriftsatz der Beklagten vom erforderlichen - Beratung und Abstimmung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung am nicht ordnungsgemäß besetzt. Der ehrenamtliche Richter N, der an der mündlichen Verhandlung am teilgenommen und gemeinsam mit dem Vorsitzenden und dem weiteren ehrenamtlichen Richter das - damals lediglich noch nicht verkündete - Urteil beraten und abgestimmt hatte, war hieran nicht beteiligt. Der Umstand, dass er sich ausweislich eines von der Geschäftsstelle des Landesarbeitsgerichts gefertigten Vermerks seit dem nach einer Operation am Knie in einer dreiwöchigen medizinischen Rehabilitation befand, hat - für sich genommen - nicht zur Folge, dass ohne ihn über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beraten und abgestimmt werden durfte. Es ist weder ersichtlich, dass der betreffende ehrenamtliche Richter aufgrund der Rehabilitationsmaßnahme nicht in der Lage gewesen wäre, über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung im Wege einer telefonischen Konferenz zu beraten und abzustimmen, noch ist erkennbar, dass bei den beteiligten Richtern kein Einverständnis mit einer solchen Vorgehensweise bestanden hätte. Aber auch wenn eine Entscheidungsfindung auf diesem Weg nicht möglich gewesen wäre, hätte das Landesarbeitsgericht prüfen müssen, ob eine Beratung und Abstimmung in Präsenz nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme - ggf. verbunden mit einer kurzfristigen Verlegung des Termins zur Verkündung einer Entscheidung - in Betracht gekommen wäre. Nur wenn einer der Richter, die an der letzten mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, dauerhaft oder zumindest auf unabsehbare Zeit an der Durchführung einer Nachberatung gehindert ist, darf eine Entscheidung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung allein durch die verbliebenen Richter ergehen (vgl. für den Fall des Ausscheidens  - Rn. 5;  - zu II 2 a bb (2) der Gründe). Eine derartige Situation war vorliegend nicht gegeben.

7II. Im Übrigen genügt die Begründung der Beschwerde nicht den gesetzlichen Anforderungen (§ 72a Abs. 3 Satz 2 ArbGG). Insoweit wird von einer weiteren Begründung gemäß § 72a Abs. 5 Satz 5 Alt. 1 ArbGG abgesehen, da sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist. Weitergehende Ausführungen sind weder von Verfassungs wegen noch aus konventionsrechtlichen Gründen geboten (vgl.  - Rn. 19, 25; - 1 BvR 1382/10 - Rn. 12 ff.).

8III. Zur Beschleunigung des Verfahrens hat der Senat von der Möglichkeit des § 72a Abs. 7 ArbGG analog Gebrauch gemacht (vgl. dazu  - Rn. 35 ff., BAGE 148, 206).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2025:090925.B.5AZN142.25.0

Fundstelle(n):
AAAAJ-99962