Suchen Barrierefrei
BAG Beschluss v. - 1 ABR 11/24

Tariflicher Einigungsstellenspruch - Anfechtung

Leitsatz

Ein Einigungsstellenspruch ist unwirksam, wenn der den Betriebsparteien vom Vorsitzenden der Einigungsstelle übermittelte Spruch im Vergleich zu dem von der Einigungsstelle beschlossenen nicht alle Bestandteile enthält und damit unvollständig ist.

Instanzenzug: ArbG Aachen Az: 7 BV 98/22 Beschlussvorgehend Landesarbeitsgericht Köln Az: 9 TaBV 42/23 Beschluss

Gründe

1A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit eines tariflichen Einigungsstellenspruchs.

2Die Arbeitgeberin stellt Kupfer- und Kupferlegierungsbänder her. Sie ist Mitglied im METALL NRW Verband der Metall- und Elektro-Industrie Nordrhein-Westfalen e. V. (AGV Metall NRW). Antragsteller ist der bei ihr gebildete Betriebsrat.

3Das vom AGV Metall NRW geschlossene Entgeltrahmenabkommen in der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens vom (ERA NRW) regelt in seinem § 5 Nr. 1, dass die Beschäftigten „entweder ein Leistungsentgelt (Akkord, Prämie, Zielvereinbarung I gemäß §§ 7, 8, 9 Nr. 2) oder ein Zeitentgelt (mit Leistungszulage gemäß § 10, Zielvereinbarung II gemäß § 9 Nr. 3)“ erhalten. Der Entgeltgrundsatz und die Entgeltmethode für die Beschäftigten sind zwischen den Betriebsparteien zu vereinbaren (§ 5 Nr. 2 Satz 3 ERA NRW). Nach § 5 Nr. 7 ERA NRW ist bei „Meinungsverschiedenheiten über die Auswahl des Entgeltgrundsatzes und/oder der Entgeltmethode … der Entgeltgrundsatz bzw. die Entgeltmethode anzuwenden, der/die unter Berücksichtigung der betrieblichen Erfordernisse und Gegebenheiten am ehesten den Kriterien der Nachvollziehbarkeit und Beeinflussbarkeit genügt“. In § 5 Nr. 8 Abs. 1 ERA NRW ist vorgesehen, dass der Betriebsrat bei Fragen der betrieblichen Entgeltgestaltung „gemäß § 87 BetrVG nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen mitzubestimmen“ hat. Kommt eine Einigung zwischen den Betriebsparteien nicht zustande, findet nach § 5 Nr. 8 Abs. 2 ERA NRW „§ 87 Abs. 2 BetrVG mit der Maßgabe Anwendung, dass die tarifliche Einigungsstelle nach § 24 EMTV zuständig ist“. Ihr Spruch ersetzt die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat (§ 5 Nr. 8 Abs. 3 ERA NRW).

4Im Betrieb der Arbeitgeberin galten seit der Einführung des ERA NRW für einen Teil der Arbeitnehmer in der Produktion Betriebsvereinbarungen über die Gewährung eines Leistungsentgelts in Form einer Prämie. Die zum in Kraft getretene Betriebsvereinbarung über ein Prämienentgelt vom (BV 2016) enthält in ihrer Anlage 1 eine Auflistung der prämienberechtigten Beschäftigten in insgesamt 35 betrieblichen Kostenstellen. Nach Nr. 10.1 BV 2016 wirkt die Betriebsvereinbarung bei einer Kündigung „bis zum Abschluss einer neuen Betriebsvereinbarung“ nach.

5Die Arbeitgeberin kündigte die BV 2016 zum , weil die unter ihren Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer künftig ein Zeitengelt mit Leistungszulage erhalten sollten. Nachdem die Beteiligten hierüber keine Einigung erzielen konnten, riefen sie die tarifliche Einigungsstelle an. Diese erhielt den Auftrag „festzustellen, welchem Entgeltgrundsatz i.S.v. §§ 5, 6, 7, 8, 9 und 10“ ERA NRW „die als Anlage 1 aufgeführten Tätigkeiten“ der BV 2016 „entsprechen“. Zudem sollte die Einigungsstelle „über eine sach- und fachgerechte Entwicklung und Ausgestaltung eines Prämienentgelts … entscheiden“, „wenn und soweit für die … Tätigkeiten“ der BV 2016 „festgestellt wird, dass der Entgeltgrundsatz Leistungsentgelt zutreffend ist“.

6Die Beteiligten trafen im Rahmen des Einigungsstellenverfahrens am eine Absprache für den Fall, dass es zu einem Wechsel „in den Entgeltgrundsatz Zeitentgelt“ kommen sollte. Danach sollte eine etwaige Differenz zwischen der zuletzt durchschnittlich gezahlten Prämie und der „neu geltende[n] Leistungszulage“ sukzessive abgeschmolzen werden.

7Die Einigungsstelle fasste - nach Einholung eines Sachverständigengutachtens - am einen Spruch. Am selben Tag leitete der Vorsitzende der Einigungsstelle den Beteiligten den folgenden, von ihm unterzeichneten Spruch zu:

8In Teil I des Spruchs sind insgesamt 31 Kostenstellen angeführt. In dem am zur Entscheidung gestellten und von den Mitgliedern der Einigungsstelle mehrheitlich beschlossenen Spruch war dort darüber hinaus die Kostenstelle 1147 (Fertigbeize) enthalten. Nachdem die Arbeitgeberin auf deren Fehlen hingewiesen hatte, berichtigte der Vorsitzende den Spruch am entsprechend.

9Mit seinem am beim Arbeitsgericht eingegangenen Antrag hat der Betriebsrat geltend gemacht, Teil I des Spruchs sei unwirksam. Die Einigungsstelle habe damit ihren Regelungsauftrag nicht erfüllt. Auch habe sie den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Das eingeholte Sachverständigengutachten bilde keine ausreichende Grundlage für eine Entscheidung. Zudem überschreite die Regelung in Teil I des Spruchs die Grenzen billigen Ermessens. Darüber hinaus sei die Berichtigung des Spruchs durch den Vorsitzenden der Einigungsstelle unzulässig.

10Der Betriebsrat hat zuletzt sinngemäß beantragt

11Die Arbeitgeberin hat beantragt, den Antrag abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, Teil I des Spruchs begegne keinen Wirksamkeitsbedenken. Die Einigungsstelle habe ihren Auftrag erfüllt und sowohl eine abschließende als auch ermessensfehlerfreie Regelung getroffen. Die Berichtigung des Spruchs durch den Einigungsstellenvorsitzenden sei nicht zu beanstanden.

12Das Arbeitsgericht hat den Antrag des Betriebsrats abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Betriebsrats mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass sein Antrag bereits unzulässig ist. Mit ihrer Rechtsbeschwerde erstrebt die Arbeitgeberin die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung. Der Betriebsrat verfolgt mit seiner Anschlussrechtsbeschwerde sein Begehren weiter.

13B. Sowohl die Rechtsbeschwerde als auch die Anschlussrechtsbeschwerde haben Erfolg. Das Landesarbeitsgericht durfte den Feststellungsantrag des Betriebsrats nicht für unzulässig halten. Der Antrag ist vielmehr zulässig und - entgegen der Annahme der Arbeitgeberin - begründet.

14I. Die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin ist zulässig. Die Arbeitgeberin ist durch den Beschluss des Landesarbeitsgerichts beschwert.

151. Ein zulässiges Rechtsmittel setzt voraus, dass der Rechtsmittelführer durch die angefochtene Entscheidung beschwert ist und mit dem Rechtsmittel gerade die Beseitigung dieser Beschwer verlangt ( - Rn. 13; - 1 ABR 5/22 - Rn. 10). Während die Beschwer des Antragstellers durch einen Vergleich zwischen dem gestellten Antrag und der ergangenen Entscheidung zu ermitteln ist, beurteilt sich die Beschwer der übrigen Beteiligten nach dem materiellen Inhalt der Entscheidung. Wird der Antrag des Antragstellers statt als unbegründet als unzulässig abgewiesen, sind auch diejenigen Beteiligten beschwert, die eine Abweisung als unbegründet erstrebt haben (vgl.  - BAGE 86, 298; - 1 ABR 81/83 - zu B II 1 der Gründe). Ihre Beschwer folgt in diesem Fall daraus, dass die begehrte Sachentscheidung unterblieben ist.

162. Danach ist die Arbeitgeberin durch die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts beschwert. Dieses hat die Beschwerde des Betriebsrats mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Antrag unzulässig ist. Demgegenüber hatte die Arbeitgeberin in der Vorinstanz die Abweisung des Feststellungsantrags als unbegründet begehrt, weil sie den vom Betriebsrat angefochtenen Teil des Einigungsstellenspruchs für wirksam hält. Mit ihrer Rechtsbeschwerde erstrebt sie weiterhin eine Sachentscheidung über diesen Antrag.

17II. Die Anschlussrechtsbeschwerde des Betriebsrats begegnet ebenfalls keinen Zulässigkeitsbedenken. Sie wurde binnen einer Frist von einem Monat nach Zustellung der Rechtsbeschwerdebegründung an den Betriebsrat eingelegt und sogleich begründet (§ 92 Abs. 2 Satz 1, § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 554 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 ZPO). Da sie sich auf denselben Verfahrensgegenstand wie die Rechtsbeschwerde bezieht, ist der erforderliche unmittelbare rechtliche oder wirtschaftliche Zusammenhang zwischen beiden gegeben (vgl. etwa  - Rn. 43).

18III. Der Feststellungsantrag des Betriebsrats ist zulässig und begründet.

191. Der Antrag ist zulässig. Die Voraussetzungen des - auch im Beschlussverfahren anwendbaren - § 256 Abs. 1 ZPO liegen vor.

20a) Nach § 256 Abs. 1 ZPO kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses beantragt werden, wenn der Antragsteller ein rechtliches Interesse daran hat, dass das Rechtsverhältnis durch richterliche Entscheidung alsbald festgestellt werde. Ein Feststellungsantrag muss sich dabei nicht notwendig auf das Rechtsverhältnis als Ganzes erstrecken, sondern kann sich auch auf ein Teilrechtsverhältnis beschränken (vgl.  - Rn. 12 mwN). Voraussetzung ist aber, dass sich die begehrte Feststellung tatsächlich auf eine eigenständige Teilregelung bezieht, weil nur dann ein Teilrechtsverhältnis gegeben ist (vgl.  - Rn. 39 mwN). Dies gilt auch für die Anfechtung eines Einigungsstellenspruchs. Die (Un-)Wirksamkeit eines solchen Spruchs stellt ein - betriebsverfassungsrechtliches - Rechtsverhältnis iSv. § 256 Abs. 1 ZPO dar ( - Rn. 12 mwN, BAGE 167, 230). Gegen seine Teilanfechtung bestehen daher dann keine Bedenken, wenn sie sich auf ein selbständig feststellbares Teilrechtsverhältnis bezieht und die Betriebsparteien die übrigen Regelungen übereinstimmend gelten lassen wollen (vgl.  - Rn. 18 mwN, BAGE 169, 135; ausf.  - Rn. 33, BAGE 153, 318).

21b) Danach ist Teil I des Spruchs isoliert anfechtbar.

22aa) Entgegen der Annahme des Betriebsrats enthält Teil I des Spruchs nicht lediglich eine tatsächliche Feststellung darüber, welche betrieblichen Kostenstellen dem Entgeltgrundsatz Zeitentgelt entsprechen. Zwar ist dessen Wortlaut insoweit nicht eindeutig. Die Systematik und der Gesamtzusammenhang zeigen aber, dass durch den Spruch die nach § 5 Nr. 2 Satz 3 ERA NRW erforderliche Vereinbarung der Beteiligten über die Einführung des Entgeltgrundsatzes „Zeitentgelt“ in den in Teil I genannten Kostenstellen ersetzt werden sollte. Der Spruch der Einigungsstelle enthält in seinem Teil II eine Betriebsvereinbarung über die Anwendung des Entgeltgrundsatzes Leistungsentgelt mit der Entgeltmethode Prämie (BV 2022). Damit sollte für die dort aufgeführten drei - auch unter den Geltungsbereich der BV 2022 fallenden - Kostenstellen eine abschließende und damit die Einigung der Betriebsparteien ersetzende Entscheidung über eine Angelegenheit nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 und 11 BetrVG getroffen werden. Diese Zielrichtung liegt ersichtlich auch Teil I des Spruchs zugrunde. Für die übrigen Kostenstellen sollte ebenfalls eine Regelung über den nach der Kündigung der BV 2016 dort künftig geltenden Entgeltgrundsatz (Zeitentgelt) geschaffen werden.

23bb) Der Spruch ist inhaltlich teilbar. Die Regelungen in den einzelnen Teilen beziehen sich auf unterschiedliche Kostenstellen und erfassen damit jeweils nur die dort tätigen Arbeitnehmer. Teil II des Spruchs erstreckt sich sowohl nach seinen einleitenden Ausführungen als auch nach den Bestimmungen in Nr. 1.1 BV 2022 auf einen anderen räumlichen, fachlichen und personellen Geltungsbereich als Teil I. Die Unwirksamkeit des ersten Teils hätte daher nicht zur Folge, dass die Regelungen der im zweiten Teil enthaltenen BV 2022 - die die Betriebsparteien übereinstimmend gelten lassen wollen - nicht in sich verständlich wären.

24cc) Anderes folgt auch nicht aus Nr. 11.3 BV 2022. Danach soll die BV 2016 mit Inkrafttreten der BV 2022 „vollumfänglich“ abgelöst werden und ihre Nachwirkung „verlieren“. Selbst wenn man unterstellen würde, diese Regelung gelte auch für die von Teil I des Spruchs erfassten Kostenstellen, hätte dies nicht zur Folge, dass seine beiden Teile in einem untrennbaren Zusammenhang stünden. Entsprechend ihrem Sinn und Zweck gilt Nr. 11.3 BV 2022 nur, soweit in den betrieblichen Kostenstellen ein neuer Entgeltgrundsatz und - sofern erforderlich - eine neue Entgeltmethode mitbestimmt und damit ggf. auf der Grundlage eines (wirksamen) Spruchs der Einigungsstelle eingeführt wurden. Bei einer Unwirksamkeit von Teil I des Spruchs ist die Reichweite der Norm daher einschränkend auszulegen mit der Folge, dass die gekündigte BV 2016 in den von Teil I erfassten Kostenstellen weiter nachwirken würde. Schon deshalb kann dahinstehen, ob der Einigungsstelle für diese Bestimmung mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben in § 77 Abs. 6 BetrVG überhaupt eine Spruchkompetenz zustand (vgl. für die Verlängerung der gesetzlichen Kündigungsfrist  - zu B IV 5 der Gründe, BAGE 100, 239).

25(1) Die Regelung in Nr. 11.3 BV 2022 soll ersichtlich dem Umstand Rechnung tragen, dass die BV 2016 nach ihrer Nr. 10.1 bei einer Kündigung „bis zum Abschluss einer neuen Betriebsvereinbarung“ nachwirkt. Da danach abweichend von § 77 Abs. 6 BetrVG für eine Änderung der durch die BV 2016 mitbestimmt eingeführten Entlohnungsgrundsätze und -methoden eine bloße Regelungsabsprache der Betriebsparteien nicht genügen würde, sollte die BV 2016 durch die BV 2022 „vollumfänglich“ abgelöst werden. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass der gesamte Spruch der Einigungsstelle für alle in der Anlage 1 der BV 2016 aufgeführten Kostenstellen die dort jeweils geltenden Entlohnungsgrundsätze und (ggf.) Entgeltmethoden neu regelt und damit die nach § 87 Abs. 2 BetrVG für deren Änderung erforderliche Einigung der Betriebsparteien ersetzt. Nur soweit eine neue mitbestimmungsgemäß eingeführte Regelung getroffen wurde, sollen die Bestimmungen der BV 2016 daher nicht mehr im Weg einer Nachwirkung fortgelten. Hingegen soll Nr. 11.3 BV 2022 erkennbar nicht zur Folge haben, dass die BV 2016 auch dann nicht mehr zur Anwendung kommt, wenn in den unter Teil I genannten Kostenstellen noch kein neuer Entgeltgrundsatz mitbestimmt eingeführt wurde.

26(2) Vor allem das Gebot gesetzeskonformer Auslegung stützt dieses Verständnis. Das im Hinblick auf § 5 Nr. 1 ERA NRW bestehende Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG bei der Ausgestaltung des tariflichen Monatsentgelts bezieht sich nicht lediglich auf eine Aufhebung der bisher im Betrieb geltenden Entgeltgrundsätze und -methoden, sondern erfasst - als untrennbarer Bestandteil einer Änderung der die regelmäßige Vergütung betreffenden Entlohnungsgrundsätze - auch deren Neugestaltung. Solange diese nicht wirksam mitbestimmt erfolgt ist, können die Arbeitnehmer in Fortführung der Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung im Fall einer unter Verstoß gegen das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG vorgenommenen Änderung der im Betrieb geltenden Entlohnungsgrundsätze eine Vergütung auf der Grundlage der zuletzt mitbestimmungsgemäß eingeführten Entlohnungsgrundsätze verlangen (vgl. zB  - Rn. 13). Vor diesem Hintergrund kann Nr. 11.3 BV 2022 daher teleologisch einschränkend nur so verstanden werden, dass die vollständige Aufhebung der BV 2016 lediglich dann greifen soll, wenn auch für die von Teil I des Spruchs erfassten Kostenstellen eine neue mitbestimmungemäß eingeführte Regelung für das monatliche Entgelt der Arbeitnehmer vorhanden ist.

27(3) Auch der Inhalt von Nr. 11.4 BV 2022 spricht für ein solches Auslegungsergebnis. Die Regelung sieht vor, dass die Bestimmungen der BV 2016 nachwirken, solange die BV 2022 in den von ihrem Geltungsbereich erfassten Kostenstellen aufgrund Fehlens von Voraussetzungen noch nicht zur Anwendung gelangen kann. Dies zeigt, dass eine Ablösung der mit der BV 2016 mitbestimmt eingeführten Entlohnungsgrundsätze in den betrieblichen Kostenstellen ihrer Anlage 1 nur dann eintreten soll, wenn und soweit dort eine neue mitbestimmungsgemäß zustande gekommene Regelung gilt.

28c) Der Betriebsrat hat auch ein Interesse iSv. § 256 Abs. 1 ZPO an der begehrten Feststellung. Die Arbeitgeberin stellt die Unwirksamkeit von Teil I des angefochtenen Spruchs in Abrede.

292. Der Antrag ist begründet. Teil I des tariflichen Einigungsstellenspruchs ist unwirksam.

30a) Dies folgt allerdings nicht schon daraus, dass die tarifliche Einigungsstelle nicht hätte angerufen werden dürfen. Kommt eine Einigung der Betriebsparteien über eine mitbestimmungspflichtige Angelegenheit nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 und 11 BetrVG nicht zustande, entscheidet zwar nach Absatz 2 der Norm die Einigungsstelle nach § 76 Abs. 1 BetrVG. Nach § 76 Abs. 8 BetrVG kann aber - wie in § 5 Nr. 8 Abs. 2 ERA NRW vorgesehen - in einem Tarifvertrag bestimmt werden, dass an die Stelle der betrieblichen Einigungsstelle eine tarifliche Schlichtungsstelle tritt, deren Spruch die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ersetzt. Für die Geltung einer solchen Norm genügt nach § 3 Abs. 2 TVG die - hier gegebene - Bindung des Arbeitgebers an den Tarifvertrag (vgl.  - Rn. 14, BAGE 135, 285).

31b) Teil I des Spruchs ist auch nicht deshalb unwirksam, weil der Regelungsauftrag der Einigungsstelle mangels hinreichender Bestimmtheit nicht geeignet gewesen wäre, ihr die erforderliche Spruchkompetenz zu vermitteln.

32aa) Bei der Bildung einer Einigungsstelle ist der von ihr zu verhandelnde Regelungsgegenstand festzulegen. Dieser kann weit gefasst werden, was nicht zuletzt dem im Einigungsstellenverfahren angelegten Einigungsvorrang (§ 76 Abs. 3 Satz 3 BetrVG) entspricht. Stets aber muss hinreichend klar sein, über welchen Gegenstand die Einigungsstelle überhaupt verhandeln und ggf. durch Spruch befinden soll (vgl. dazu ausf.  - Rn. 19 ff. mwN, BAGE 168, 323).

33bb) Der Regelungsauftrag war im Ausgangsfall ausreichend bestimmt. Die tarifliche Einigungsstelle sollte für die in der Anlage 1 zur BV 2016 aufgeführten 35 Kostenstellen des Betriebs eine Regelung über den dort geltenden Entgeltgrundsatz (Zeit- oder Leistungsentgelt) treffen und - soweit für die Kostenstellen das Leistungsentgelt festgelegt wird - eine für die Gewährung eines Prämienentgelts nach § 8 Nr. 3 ERA NRW erforderliche Vereinbarung ausgestalten. Ob es vor dem Hintergrund der tariflichen Vorgaben für die Bestimmtheit des Regelungsauftrags erforderlich ist, dass die Betriebsparteien auch hinsichtlich des Entgeltgrundsatzes Zeitentgelt die mögliche Entgeltmethode - Leistungszulage gemäß § 10 ERA NRW oder Zielvereinbarung II nach § 9 Nr. 7 ERA NRW - konkretisieren, kann dahinstehen. Jedenfalls der von den Beteiligten am vereinbarten Übergangsregelung zum Abschmelzen einer Differenz zwischen der bisherigen Prämie und einer Leistungszulage lässt sich entnehmen, dass sich der Regelungsauftrag der Einigungsstelle im Fall einer Festlegung des Entgeltgrundsatzes Zeitentgelt nur auf die Entgeltmethode Leistungszulage beziehen sollte.

34c) Die Einigungsstelle besaß für die Festlegung des Entgeltgrundsatzes Zeitentgelt in den Kostenstellen auch die erforderliche Spruchkompetenz. Der ERA NRW regelt die Entscheidung über die Strukturform des Entgelts (Zeit- oder Leistungsentgelt) nicht abschließend. Damit steht dem Betriebsrat hierbei nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG ein Mitbestimmungsrecht zu.

35aa) Nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG hat der Betriebsrat in Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere bei der Aufstellung und Änderung von Entlohnungsgrundsätzen und der Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung, mitzubestimmen. Die betriebliche Lohngestaltung betrifft die Festlegung abstrakter Kriterien zur Bemessung der Leistung des Arbeitgebers, die dieser zur Abgeltung der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers oder sonst mit Rücksicht auf das Arbeitsverhältnis insgesamt erbringt. Mitbestimmungspflichtig sind die Strukturformen des Entgelts einschließlich ihrer näheren Vollzugsformen. Entlohnungsgrundsätze iSd. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG sind die abstrakt-generellen Grundsätze zur Lohnfindung. Sie bestimmen das System, nach dem das Arbeitsentgelt für die Belegschaft oder Teile derselben ermittelt oder bemessen werden soll. Sie sind die allgemeinen Vorgaben, aus denen sich die Vergütung der Arbeitnehmer des Betriebs in abstrakter Weise ergibt. Zu diesen zählt neben der Grundentscheidung für eine Vergütung nach Zeit oder nach Leistung die daraus folgende Ausgestaltung des Systems (st. Rspr., vgl. etwa  - Rn. 37 mwN, BAGE 158, 44).

36bb) Im Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers ist das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG allerdings durch den Tarifvorbehalt des § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG ausgeschlossen, wenn und soweit eine tarifliche Regelung besteht. Für das Eingreifen des Tarifvorbehalts und einen damit einhergehenden Ausschluss des Mitbestimmungsrechts genügt die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers (vgl.  - Rn. 25 mwN). Das Mitbestimmungsrecht entfällt aber nur, soweit die Tarifvertragsparteien über die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit selbst eine zwingende und abschließende inhaltliche Regelung getroffen und damit dem Schutzzweck des verdrängten Mitbestimmungsrechts Genüge getan haben. Sie können die gesetzliche Mitbestimmung des Betriebsrats nicht ausschließen oder einschränken, ohne die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit grundsätzlich selbst zu regeln (vgl. ausf.  - Rn. 29 f. mwN).

37cc) Die Frage, ob die Arbeitnehmer nach § 5 Nr. 1 ERA NRW im Zeit- oder im Leistungsentgelt zu vergüten sind, betrifft die Strukturform des Entgelts und unterliegt damit nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG der Mitbestimmung des Betriebsrats. Das ERA NRW, an das die Arbeitgeberin gebunden ist, enthält keine Regelung, die dieses Mitbestimmungsrecht über den im Betrieb anzuwendenden Entgeltgrundsatz nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG ausschließt.

38(1) § 5 Nr. 1 ERA NRW sieht lediglich vor, dass die Beschäftigten entweder ein Leistungs- oder ein Zeitentgelt erhalten. Bei der Auswahl des anzuwendenden Entgeltgrundsatzes ist der Betriebsrat nach Maßgabe von § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG zu beteiligen. Aus § 5 Nr. 8 Abs. 1 ERA NRW ergibt sich nichts Gegenteiliges. Aus der Formulierung, der Betriebsrat habe „gemäß § 87 BetrVG nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen mitzubestimmen“, lässt sich nicht ableiten, dass die Tarifvertragsparteien damit dessen Mitbestimmungsrecht einschränken wollten. Hiergegen spricht schon der unmissverständliche Inhalt der Regelung. Danach unterliegen die „Entgeltgrundsätze“ ausdrücklich der Mitbestimmung des Betriebsrats. Auch § 5 Nr. 2 Satz 2 ERA NRW ordnet an, dass der „Entgeltgrundsatz“ für die Beschäftigten zwischen den Betriebsparteien zu vereinbaren ist. Ein gegenteiliges Verständnis widerspräche zudem dem Gebot der gesetzeskonformen Auslegung von Tarifverträgen. Die Tarifvertragsparteien sind nicht berechtigt, das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats einzuschränken, ohne die Angelegenheit selbst zu regeln. Der Hinweis auf die „nachstehenden Bestimmungen“ in § 5 Nr. 8 Abs. 1 ERA NRW erklärt sich ohne Weiteres dadurch, dass die nachfolgenden §§ 6 bis 10 ERA NRW im Einzelnen die jeweiligen - unterschiedlich ausgestalteten - tariflichen Vorgaben für die beiden tariflich vorgesehenen Entgeltgrundsätze und die hierauf aufbauenden Entgeltmethoden regeln.

39(2) Auch § 5 Nr. 4 ERA NRW schließt das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Auswahl des Entgeltgrundsatzes nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG nicht aus. Die Norm sieht zwar vor, dass die Vergütung der Arbeiten „im Zeitentgelt“ erfolgt, soweit für die Beschäftigten kein anderer Entgeltgrundsatz festgelegt ist. Hierbei handelt es sich jedoch ersichtlich nur um eine „Auffangregelung“, die - jedenfalls in den Fällen, in denen ein Betriebsrat errichtet ist - lediglich dann greift, wenn nach erstmaliger Einführung des ERA NRW in einem Betrieb noch keine von ihm mitbestimmte Vereinbarung über den anzuwendenden Entgeltgrundsatz getroffen wurde.

40d) Teil I des Spruchs ist auch nicht deswegen unwirksam, weil die Einigungsstelle dort weder eine ausdrückliche Festlegung über die im Zeitentgelt anzuwendende Entlohnungsmethode „Leistungszulage“ noch weitergehende Regelungen hierzu getroffen hat. Da dieser Teil keine Regelungen über eine „Zielvereinbarung II“ (vgl. § 9 Nr. 1 Abs. 5 und Nr. 7 ERA NRW) enthält, ist für die Arbeitnehmer in den betroffenen Kostenstellen ohne Weiteres erkennbar, dass dort künftig ein Zeitentgelt mit Leistungszulage nach § 10 ERA NRW gezahlt werden soll. Nach § 10 Nr. 1 ERA NRW erhalten Beschäftigte (nach Ablauf ihrer Probezeit) im Zeitentgelt neben dem tariflichen Monatsgrundentgelt eine Leistungszulage. Zu einer weitergehenden inhaltlichen Ausgestaltung der Leistungszulage war die Einigungsstelle nicht befugt. § 10 ERA NRW regelt diese Entlohnungsmethode abschließend, sodass aufgrund des Tarifvorbehalts in § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG insoweit kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG besteht.

41e) Schlussendlich ist Teil I des Spruchs auch nicht deshalb nichtig, weil die Einigungsstelle ihr Regelungsermessen (§ 76 Abs. 5 Satz 3 BetrVG) überschritten hätte.

42aa) Der Betriebsrat hat die für die Geltendmachung von Ermessensfehlern maßgebende Frist des § 76 Abs. 5 Satz 4 BetrVG gewahrt. Er hat den ihm am zugegangenen Spruch mit einem am und damit innerhalb der Zweiwochenfrist nach Zuleitung beim Arbeitsgericht eingegangenen Antrag angefochten und in seiner Antragsbegründung ausdrücklich gerügt, die Einigungsstelle habe die Grenzen ihres Ermessens überschritten.

43bb) Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle des von der Einigungsstelle ausgeübten Ermessens ist, ob die Regelung im Verhältnis zwischen den Betriebsparteien untereinander einen billigen Ausgleich der Interessen von Arbeitgeber und Betriebsrat als Sachwalter der Belegschaft darstellt. Die gerichtliche Beurteilung bezieht sich allein auf die getroffene Regelung als solche. Eine Überschreitung der Ermessensgrenzen iSv. § 76 Abs. 5 Satz 4 BetrVG muss daher in der Regelung selbst - als Ergebnis des Abwägungsvorgangs - liegen. Ein rechtlich erheblicher Fehler liegt nur vor, wenn sich die von der Einigungsstelle getroffene Regelung nicht als angemessener Ausgleich der Belange des Betriebs und Unternehmens auf der einen und der betroffenen Arbeitnehmer auf der anderen Seite erweist. Dagegen ist weder von Bedeutung, ob von der Einigungsstelle angenommene tatsächliche oder rechtliche Umstände zutreffen, noch kommt es darauf an, ob ihre weiteren Überlegungen frei von Fehlern sind oder eine erschöpfende Würdigung aller Umstände zum Inhalt haben (vgl.  - Rn. 18, BAGE 180, 170; - 1 ABR 54/17 - Rn. 18 mwN).

44cc) Ausgehend hiervon ist im Ausgangsfall nicht ersichtlich, dass die Einigungsstelle bei der Auswahl des Entgeltgrundsatzes Zeitentgelt die Grenzen ihres Regelungsermessens überschritten hätte.

45(1) Entgegen der Ansicht des Betriebsrats ist es unerheblich, ob die Einigungsstelle - wie von ihm geltend gemacht - den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt hat. Der angefochtene Spruch unterliegt lediglich einer Ergebniskontrolle. Daher kommt es nicht auf seine Herleitung an. Aus diesem Grund kann eine mangelnde Sachaufklärung als solche auch nicht isoliert geltend gemacht werden (vgl.  - Rn. 55; - 1 ABR 18/01 - zu B I 2 c bb der Gründe, BAGE 100, 239).

46(2) Anhaltspunkte für die Annahme, die Einigungsstelle hätte bei der Auswahl des Entgeltgrundsatzes Zeitentgelt für die in Teil I des Spruchs genannten Kostenstellen ihr Ermessen überschritten, sind weder dargetan noch ersichtlich.

47(a) Das ERA NRW gibt den Betriebsparteien nicht vor, bei welcher Art von Arbeitsplätzen welcher Entgeltgrundsatz anzuwenden ist. § 5 Nr. 7 ERA NRW bestimmt lediglich, dass bei Meinungsverschiedenheiten hierüber derjenige Entgeltgrundsatz anzuwenden ist, der unter Berücksichtigung der betrieblichen Erfordernisse und Gegebenheiten „am ehesten“ den Kriterien der „Nachvollziehbarkeit und Beeinflussbarkeit“ für die Arbeitnehmer genügt. Auch § 6 Nr. 2 ERA NRW enthält keine weitergehenden Vorgaben. Die Norm stellt lediglich klar, dass das Leistungsentgelt von Größen abhängig sein muss, die durch die Arbeitnehmer beeinflussbar sind. Hieraus folgt allerdings nicht, dass ein Leistungsentgelt in diesen Fällen immer zwangsläufig vereinbart werden muss. Die bloße Möglichkeit eines Leistungsentgelts führt noch nicht dazu, dass nur dessen Auswahl ermessensfehlerfrei wäre.

48(b) Dass die Einigungsstelle die Vorgaben von § 5 Nr. 7 ERA NRW nicht hinreichend beachtet hätte, ist nicht erkennbar. Der bloße Umstand, dass - wie vom Betriebsrat geltend gemacht - in den betroffenen Kostenstellen zuvor langjährig Prämienregelungen galten, lässt einen solchen Schluss nicht zu. Gleiches gilt für seine pauschale Behauptung, in bestimmten Kostenstellen hätten bis ins Jahr 2008 Stückzahlvorgaben bestanden. Aus der bloßen Existenz ehemaliger Sollvorgaben lässt sich nicht ableiten, dass ein Leistungsentgelt den tariflichen Kriterien der Nachvollziehbarkeit und Beeinflussbarkeit mehr genügt als ein Zeitentgelt.

49(c) Auch im Übrigen hat der Betriebsrat keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass die Einführung einer Vergütung nach Zeit in den in Teil I genannten Kostenstellen iSv. § 76 Abs. 5 Satz 3 BetrVG ermessensfehlerhaft wäre. Soweit er auf damit einhergehende Entgelteinbußen der Arbeitnehmer verweist, übersieht er, dass die Entlohnungsgrundsätze Zeit- und Leistungsentgelt tariflich gleichwertig sind. Damit vermag dieser Umstand für sich genommen noch keinen Ermessensfehler zu begründen (vgl. auch  - zu B IV 1 der Gründe, BAGE 100, 239).

50f) Der angefochtene Teil I des Spruchs ist aber unwirksam, weil der Spruch nicht den formalen Vorgaben des § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG genügt. Der von der Einigungsstelle am gefasste Spruch wurde den beiden Beteiligten nicht vollständig vom Vorsitzenden zugeleitet.

51aa) Nach § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG sind die Beschlüsse der Einigungsstelle schriftlich niederzulegen, vom Vorsitzenden zu unterschreiben und Arbeitgeber und Betriebsrat zuzuleiten. Durch die Zuleitung sollen die Betriebsparteien über den Inhalt des von der Einigungsstelle gefassten Spruchs rechtssicher in Kenntnis gesetzt werden. Da der Spruch ihre Einigung ersetzt und damit das betriebsverfassungsrechtliche Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat unmittelbar ausgestaltet, haben beide hieran ein berechtigtes Interesse. Der Einigungsstellenspruch ist - ungeachtet einer Anfechtung - vom Arbeitgeber nach § 77 Abs. 1 Satz 1 BetrVG durchzuführen. Dieser Verpflichtung kann er nur genügen, wenn über den Inhalt des Spruchs ab dem Zeitpunkt seiner Zuleitung Rechtsklarheit besteht. Zudem sollen beide Betriebsparteien dadurch in die Lage versetzt werden, binnen der - nach § 76 Abs. 5 Satz 4 BetrVG mit der Zuleitung des Spruchs beginnenden - zweiwöchigen Frist für die gerichtliche Geltendmachung seinen Inhalt auf Ermessensfehler zu überprüfen (vgl.  - Rn. 20, BAGE 167, 230).

52bb) Wird der von der Einigungsstelle beschlossene Spruch den Betriebsparteien nicht in allen seinen Bestandteilen zugeleitet, ist er nach § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG unwirksam. Eine nicht vollständige Zuleitung des Einigungsstellenspruchs hat nicht lediglich zur Folge, dass die zweiwöchige Frist des § 76 Abs. 5 Satz 4 BetrVG nicht zu laufen beginnt. Das gesetzliche Zuleitungserfordernis nach § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG dient dem Interesse der Betriebsparteien an Rechtsklarheit. Dieser Zweck verlangt es, dass der den Betriebsparteien mit Zuleitungswillen übermittelte Spruch der Einigungsstelle vollständig ist und damit alle Bestandteile enthält. Fehlt es hieran, ist der von der Einigungsstelle zuvor beschlossene Spruch wirkungslos(vgl.  - Rn. 22, BAGE 167, 230).

53cc) Daran gemessen ist Teil I des den Betriebsparteien am übermittelten Spruchs wegen Verstoßes gegen § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG unwirksam. Der von der Einigungsstelle gefasste Spruch ist den Betriebsparteien nicht vollständig zugeleitet worden. Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts (§ 559 Abs. 2 ZPO) war in Teil I des - mit der Stimme des Vorsitzenden - mehrheitlich von den Mitgliedern der Einigungsstelle beschlossenen Spruchs auch die Kostenstelle 1147 (Fertigbeize) aufgeführt. Der den Beteiligten noch am selben Tag vom Einigungsstellenvorsitzenden zugeleitete schriftliche Spruch ist insoweit unvollständig, weil dort in Teil I die Kostenstelle 1147 fehlt.

54dd) Der Vorsitzende der Einigungsstelle konnte den Verstoß gegen das Zuleitungsgebot nach § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG nicht durch einen „Berichtigungsbeschluss“ heilen. Das Einigungsstellenverfahren ist mit Zugang des mit Zuleitungswillen den Betriebsparteien übermittelten Einigungsstellenspruchs abgeschlossen und lediglich im Fall einer gerichtlich festgestellten Unwirksamkeit des Spruchs fortzusetzen. Eine rückwirkende Heilung durch Übersendung einer vollständigen Beschlussfassung ist daher nicht möglich (vgl. auch  - Rn. 24, BAGE 167, 230). Selbst wenn ggf. analog § 1058 ZPO oder analog § 319 ZPO eine Berichtigung bloßer Schreibfehler oder ähnlicher offenbarer Unrichtigkeiten eines Spruchs möglich wäre, hätte hierüber die Einigungsstelle als Ganzes und nicht allein ihr Vorsitzender zu entscheiden (ausf.  - Rn. 18, BAGE 147, 15).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2025:200525.B.1ABR11.24.0

Fundstelle(n):
WAAAJ-99505