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BGH Beschluss v. - 3 StR 99/25

Instanzenzug: Az: 5 KLs 1/23

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen und sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, unter Einbeziehung der Strafe aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt und zwei Monate der erkannten Strafe als vollstreckt erklärt. Der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

21. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen manipulierte der Angeklagte unter einem Vorwand zwischen Juli 2015 und Oktober 2017 die Schamlippen seiner im ersten Fall noch nicht 14jährigen, im zweiten Fall 14 Jahre alten Tochter, der Nebenklägerin (Taten zu II. 1. und II. 2. der Urteilsgründe). Zudem rasierte er mit einer Haarschneidemaschine vor einem Schwimmbadbesuch den Schambereich der möglicherweise bereits 14jährigen Nebenklägerin (Tat zu II. 3. der Urteilsgründe). Schließlich wirkte er am gewaltsam so heftig auf das Gesicht eines in seinen Haushalt längerfristig aufgenommenen elfjährigen Neffen ein, dass dieser massive Hämatome vor allem im Bereich der Augen erlitt und sie kaum noch öffnen konnte. Dem Angeklagten waren die dem Jungen zugefügten erheblichen Schmerzen aus Gefühlskälte gleichgültig (Tat zu II. 4. der Urteilsgründe).

32. Die Verurteilung wegen der drei Taten zum Nachteil der Nebenklägerin ist aufgrund einer Verfahrensbeanstandung aufzuheben, mit welcher der Angeklagte die fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags geltend macht.

4a) Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

5Die Verteidigerin des Angeklagten beantragte in der Hauptverhandlung die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass die Zeugin und Nebenklägerin an einer emotional instabilen Persönlichkeit leide, aufgrund der ihre Aussagekompetenz gerade in Bezug auf Beziehungs- und Sexualtaten nicht gegeben sei. Zur Begründung waren verschiedene Befunde dargelegt und beigefügt, so eine ausführliche, fundierte kinder- und jugendpsychiatrische Stellungnahme aus dem Jahr 2021, die als Diagnosen eine emotionale instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ, eine posttraumatische Belastungsstörung, eine undifferenzierte Somatisierungsstörung sowie Zwangsgedanken und -handlungen stellte. Ein ärztliches Attest einer Fachärztin für Innere Medizin aus dem Jahr 2024 diagnostizierte unter anderem eine Depression und eine posttraumatische Belastungsstörung.

6Die Strafkammer lehnte den Antrag ab und führte aus, es bestünden Zweifel, ob es sich um einen Beweisantrag (§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO) handele, da im Wesentlichen früheres Beweisbegehren wiederholt werde und fraglich sei, ob konkrete Beweistatsachen benannt seien. Jedenfalls sei das Landgericht aufgrund eigener Sachkunde in der Lage, die Aussagekompetenz der Nebenklägerin ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen zu beurteilen. Für die Bewertung sei eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung nur eine von mehreren Einflussfaktoren. Da die Angaben der Nebenklägerin in besonderer Weise plausibel und glaubhaft erschienen, hätten sich eventuelle psychische Auffälligkeiten weder bei Wahrnehmung oder Speicherung noch bei Wiedergabe der tatbestandsrelevanten Umstände ausgewirkt. Daher sei die behauptete Persönlichkeitsstörung auch tatsächlich ohne Bedeutung (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO).

7b) Die Verfahrensrüge genügt den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Die vom Generalbundesanwalt vermissten Unterlagen sind in der Revisionsbegründung enthalten. Im Übrigen ist eine Prüfung des geltend gemachten Rechtsfehlers ohne eine Rekonstruktion der in der Hauptverhandlung durchgeführten Beweisaufnahme möglich. Soweit in dem Beweisantrag Schilderungen der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung genannt sind, bedarf es zur Beurteilung der Rüge nach ihrer Angriffsrichtung keiner über die Urteilsgründe hinausgehenden Kenntnis vom Inhalt der Zeugenaussage.

8c) Die Ablehnung des Antrags ist nicht tragfähig begründet.

9aa) Das Beweisbegehren stellt einen Beweisantrag im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO dar. Die Benennung einer konkreten medizinischen Diagnose enthält eine schlagwortartige Tatsachenbehauptung, die über bloße Schlussfolgerungen hinausgeht (vgl. , StV 2015, 206). Dass die Erstellung der Diagnose ihrerseits eine wertende Einordnung des Sachverständigen erfordert, liegt wie auch bei anderen sachverständigen Beurteilungen in der Natur der Sache und nimmt der Beweisbehauptung nicht den Charakter einer konkreten Tatsache (vgl. allgemein LR/Krause, StPO, 28. Aufl., Vor § 72 Rn. 10).

10bb) Ein Ablehnungsgrund nach § 244 Abs. 4 Satz 1 oder Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO ist nicht dargetan.

11(1) Die Beweisbehauptung hat eine medizinische Diagnose und ihre etwaige Auswirkung auf die Aussagekompetenz zum Gegenstand. Die erforderliche eigene Sachkunde zu der Erstellung der medizinischen Diagnose und ihren etwaigen Auswirkungen hat die Strafkammer nicht hinreichend dargelegt, sondern – den Beweisantrag verkürzend – allein darauf abgestellt, für die Beurteilung der Aussagekompetenz keines Sachverständigen zu bedürfen. Zwar ist die Beurteilung der Aussagetüchtigkeit eines Zeugen und der Glaubhaftigkeit der Aussage ureigene Aufgabe des Tatgerichts, das diese grundsätzlich aufgrund eigener Sachkunde bewältigen kann und muss. Anderes gilt aber, wenn besondere Umstände vorliegen, deren Würdigung eine spezielle Sachkunde erfordert, die dem Gericht nicht zur Verfügung steht. Hierzu können deutliche Anhaltspunkte für eine Persönlichkeitsstörung gehören, da deren Diagnose und die Beurteilung von deren Auswirkungen auf die Aussagetüchtigkeit spezifisches Fachwissen erfordern, das nicht Allgemeingut von Richtern ist (s. BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 302/21, NStZ 2022, 372 Rn. 25 f. mwN; vom – 2 StR 44/24, juris Rn. 18).

12Entsprechende Anhaltspunkte sind hier in dem Beweisantrag insbesondere durch Bezugnahme auf die vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen aufgezeigt, die über bloße Vermutungen oder lediglich vom Allgemeinwissen umfasste Gesichtspunkte deutlich hinausgehen.

13(2) Soweit die Ablehnung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens trotz besonderer, die Einholung grundsätzlich gebietender Umstände unter Hinweis auf eigene Sachkunde abgelehnt werden kann, wenn andere Beweismittel die Beurteilungsmöglichkeiten des Tatgerichts stützen (vgl. etwa , BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Glaubwürdigkeitsgutachten 5; Beschluss vom – 5 StR 109/98, NStZ-RR 1999, 48, 49 mwN), kann dahinstehen, ob insofern zugleich oder eher ein Fall der Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache in Betracht kommt (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO); denn eine solche Konstellation hat nicht vorgelegen. Das Landgericht hat allein die – durch den Beweisantrag gerade in Frage gestellte – Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin, nicht davon unabhängige Beweiserkenntnisse herangezogen.

14Danach hat es den Antrag auch nicht als aus tatsächlichen Gründen ohne Bedeutung ablehnen können. Dies setzt nämlich voraus, dass die unter Beweis gestellte Tatsache so, als wäre sie erwiesen, in das bisherige Beweisergebnis einzustellen ist (st. Rspr.; vgl. etwa , StV 2023, 293 Rn. 63 mwN). Indem das Landgericht zu dem Schluss kommt, es halte aufgrund der Aussagen der Nebenklägerin eine sich auf ihre Aussagefähigkeit auswirkende Störung für ausgeschlossen, legt es nicht die Beweisbehauptung zugrunde, sondern sieht letztlich deren Gegenteil für erwiesen an.

15d) Der Verfahrensfehler führt zur Aufhebung des Urteils hinsichtlich der Taten zu II. 1. bis II. 3. der Urteilsgründe mitsamt den zugehörigen Feststellungen und folglich auch der Gesamtstrafe. Das neue Tatgericht wird im Rahmen der abermals vorzunehmenden Beweiswürdigung die Aussageentstehung und eine etwaige Bedeutung der von der Nebenklägerin absolvierten psychotherapeutischen Maßnahmen weiter in den Blick nehmen können.

163. Im Übrigen hat das Urteil Bestand, da sich die Ablehnung des Beweisantrags darauf nicht auswirkt und die Nachprüfung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat. Für den Nachweis der Tat zum Nachteil des Neffen (zu II. 4. der Urteilsgründe) ist die Aussage der Nebenklägerin nicht maßgeblich gewesen, sondern wird im Urteil nur in Randbereichen ergänzend angeführt. Der Schuld- und Rechtsfolgenausspruch zu dieser Tat ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Dies gilt auch für den Ausspruch über die teilweise Vollstreckung wegen einer unangemessenen Dauer, die sich auf das gerade diese Tat betreffende Verfahren bezieht.

Schäfer                         Hohoff                         Anstötz

                Voigt                            Munk

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:220725B3STR99.25.0

Fundstelle(n):
GAAAJ-99104