Insolvenzanfechtung der Anordnung der sofortigen Vollziehung
Leitsatz
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO kann eine anfechtbare Rechtshandlung im Sinne von § 96 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 129 Abs. 1 InsO sein.
Instanzenzug: Sächsisches Oberverwaltungsgericht Az: 6 A 91/23 Urteilvorgehend VG Dresden Az: 4 K 1753/21 Urteil
Gründe
1Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der S. GmbH (im Folgenden: Schuldnerin). Die Beklagte gewährte der Schuldnerin mit Bescheid vom in der Gestalt verschiedener Änderungsbescheide eine Zuwendung in Höhe von 300 000 €. Mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom nahm sie diese Bescheide mit Wirkung für die Vergangenheit zurück und verfügte die verzinsliche Erstattung des bereits ausgezahlten Betrags in Höhe von 32 500 €. Hiergegen erhob die Schuldnerin nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchsverfahren Klage. Das Verfahren ruht derzeit.
2Mit Bescheid vom in der Gestalt mehrerer Änderungsbescheide bewilligte die Beklagte der Schuldnerin eine weitere Zuwendung in Höhe von 161 344,15 €. Insoweit besteht noch ein Schlussauszahlungsanspruch der Schuldnerin in Höhe von 26 740,37 €.
3Am stellte die Schuldnerin einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Unter dem ordnete die Beklagte wegen des Forderungsausfallrisikos aufgrund des Insolvenzeröffnungsverfahrens die sofortige Vollziehung ihres Rücknahme- und Erstattungsbescheids vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids an. Am eröffnete das Amtsgericht das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin. Gegen den noch bestehenden Schlussauszahlungsanspruch der Schuldnerin in Höhe von 26 740,37 € rechnete die Beklagte in der Folgezeit mit dem Erstattungsbetrag aus dem Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom auf. Dem widersprach der Kläger, weil die Aufrechnung nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig sei.
4Seine unter anderem auf Auszahlung der noch offenen Schlusszahlung in Höhe von 26 740,37 € gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht die Beklagte zur Zahlung von 26 740,37 € nebst Zinsen verurteilt. Der Auszahlungsanspruch sei nicht durch Aufrechnung erloschen. Der Wirksamkeit der Aufrechnung stehe § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO entgegen. Die Aufrechnungslage sei erst durch die mit Schreiben vom angeordnete sofortige Vollziehung des Rückerstattungsbescheids vom entstanden. Bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung handele es sich um eine gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung, die bei zugunsten der Beklagten unterstellter Kongruenz die Merkmale des § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO oder bei Inkongruenz die Merkmale des § 131 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 InsO erfülle. Da die später erklärte Aufrechnung zu einer vollen Befriedigung der Beklagten führe, liege auch eine objektive Gläubigerbenachteiligung vor. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.
5Hiergegen richtet sich die auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde der Beklagten, die keinen Erfolg hat.
6Der von der Beklagten aufgeworfenen Frage,
ob die Anordnung des Sofortvollzugs nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO eine anfechtbare Rechtshandlung im Sinne von § 129 Abs. 1 i. V. m. § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist,
kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu.
7Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausgehende, revisionsgerichtlich klärungsbedürftige und im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft (stRspr, vgl. nur 8 B 70.23 - juris Rn. 3 m. w. N.). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Frage, ob die Anordnung der sofortigen Vollziehung eine anfechtbare Rechtshandlung im Sinne der Insolvenzordnung sein kann, bedarf keiner revisionsgerichtlichen Klärung. Sie lässt sich anhand des Gesetzes unter Berücksichtigung der anerkannten Auslegungsregeln und der vorhandenen Rechtsprechung auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens ohne Weiteres bejahen.
8In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist geklärt, dass der Begriff der Rechtshandlung im Anfechtungsrecht weit auszulegen ist ( - WM 2009, 2394 <2395> m. w. N.). Rechtshandlung ist jedes von einem Willen getragene Handeln, das rechtliche Wirkungen auslöst ( - NZI 2014, 321 Rn. 9 m. w. N. und vom - IX ZR 229/12 - NJW 2013, 3031 Rn. 15 m. w. N.). Gegenstand der Anfechtung gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist das Herstellen der Aufrechnungslage. Als Rechtshandlung kommt in diesem Zusammenhang jede Handlung in Betracht, die zum Entstehen der Aufrechnungslage führt ( - NJW 2024, 212 Rn. 7 m. w. N.).
9Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist ein von einem Willen getragenes Handeln, das rechtliche Wirkungen - die Beseitigung des Suspensiveffekts von Widerspruch und Anfechtungsklage - auslöst. Damit handelt es sich um eine Rechtshandlung im Sinne des Insolvenzrechts, ohne dass es auf die Frage ankommt, wie die Anordnung der sofortigen Vollziehung selbst und ihre rechtliche Wirkung zu qualifizieren sind. Nicht zweifelhaft ist auch, dass in Fällen, in denen ein zunächst nicht sofort vollziehbarer Rücknahme- und Erstattungsbescheid Gegenstand einer Anfechtungsklage ist, erst durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung die Aufrechnungslage hergestellt wird. Eine Aufrechnungslage ist gegeben, wenn die in § 387 BGB normierten Tatbestandsmerkmale Gegenseitigkeit, Gleichartigkeit, Durchsetzbarkeit der Aktivforderung des Aufrechnenden und Erfüllbarkeit der Passivforderung des Aufrechnungsgegners erfüllt sind ( - NJW-RR 2024, 1140 Rn. 23 m. w. N.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine Aufrechnung der Behörde mit einer Forderung, deren Bestand oder Fälligkeit ihrerseits einen Verwaltungsakt voraussetzt, unzulässig, sofern und solange die Vollziehung dieses Verwaltungsakts ausgesetzt ist ( 3 C 13.08 - BVerwGE 132, 250 Rn. 11). Dementsprechend wird in solchen Fällen erst durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung die Durchsetzbarkeit der behördlichen Gegenforderung und damit die Aufrechnungslage herbeigeführt. Die von der Beklagten in diesem Zusammenhang angeführte Rechtsprechung ( - NJW 2004, 3118) führt zu keinem anderen Ergebnis. Sie betrifft den Fall einer Aufrechnung mit einer bedingten Forderung, bei der hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunkts der angefochtenen Rechtshandlung § 140 Abs. 3 InsO zu beachten ist. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
10Schließlich kommt der aufgeworfenen Frage auch unter dem Gesichtspunkt der Gläubigerbenachteiligung keine grundsätzliche Bedeutung zu. Die Frage, worin die Gläubigerbenachteiligung in den Fällen des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO liegt, ist geklärt. Danach ist die gemäß § 129 Abs. 1 InsO erforderliche Gläubigerbenachteiligung beim Herstellen der Aufrechnungslage regelmäßig schon deshalb zu bejahen, weil die Forderung der Masse im Umfang der Aufrechnung zur Befriedigung einer einzelnen Insolvenzforderung verbraucht wird und insoweit nicht mehr für die Verteilung der Masse zur Verfügung steht. Der Masse entgeht dadurch die Differenz zwischen dem Nennwert der Forderung der Masse und der Quote auf die Gegenforderung des Insolvenzgläubigers ( - NJW 2024, 212 Rn. 13 m. w. N.). Da die Anordnung der sofortigen Vollziehung in Fällen wie dem vorliegenden zur Herstellung der Aufrechnungslage und in der Folge auch zur vorrangigen Befriedigung einer einzelnen Insolvenzforderung führt, ist die Gläubigerbenachteiligung nach dem dargestellten Maßstab ohne weiteres zu bejahen. Die von der Beklagten in diesem Zusammenhang angestellten Erwägungen zeigen keinen darüberhinausgehenden grundsätzlichen Klärungsbedarf auf. Der Umstand, dass eine solche Fallkonstellation noch nicht Gegenstand der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung war, genügt dazu nicht.
11Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
12Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2025:180625B8B29.24.0
Fundstelle(n):
MAAAJ-97709