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BGH Urteil v. - I ZR 74/24

Arzneimittel-Check

Leitsatz

Arzneimittel-Check

Die in § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG in der bis zum geltenden Fassung vorgesehene Erstreckung der arzneimittelrechtlichen Preisbindung auf Versandapotheken, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässig sind, ist im Verhältnis zu jenen als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV unanwendbar (Anschluss an , GRUR 2016, 1312 = WRP 2017, 36 - Deutsche Parkinson Vereinigung).

Gesetze: Art 34 AEUV, § 78 Abs 1 S 4 AMG vom

Instanzenzug: Az: 6 U 1509/14 Urteilvorgehend LG München I Az: 11 HK O 12091/13

Tatbestand

1Der Kläger ist ein Verband, der die berufsständischen Interessen der in Bayern ansässigen Apotheker vertritt. Die Beklagte ist ein in den Niederlanden ansässiges Schwesterunternehmen der Versandapotheke D M  .

2In den Jahren 2012 und 2013 reimportierte die Beklagte unter ihrer damaligen Firma W.   P.   C.V. ihr von deutschen Pharmagroßhändlern gelieferte verschreibungspflichtige Arzneimittel (sogenannte Rx-Arzneimittel), indem sie diese nach Einreichung einer entsprechenden ärztlichen Verschreibung an in Deutschland ansässige Patienten per Kurierdienst übermittelte. Die Beklagte ist dem Rahmenvertrag nach § 129 Abs. 2 SGB V beigetreten. Mittlerweile hat sie ihren Apothekenbetrieb eingestellt.

3Die Beklagte warb im Jahr 2012 mit verschiedenen Rabattaktionen. Zunächst warb sie damit, Patienten bei der Einlösung eines Rezepts einen Bonus in Höhe von 3 € pro rezeptpflichtigem Medikament, insgesamt aber höchstens 9 € pro Rezept, zu zahlen. Später warb sie damit, bei der Einlösung eines Rezepts eine Prämie in einer Höhe von bis zu 9 € zu zahlen, wenn der Patient sich bereit erklärte, durch Ausfüllen eines Formulars oder durch Beantwortung von Fragen im Rahmen eines Telefonats einen sogenannten Arzneimittel-Check zu absolvieren. In beiden Fällen wurde der Bonus direkt mit dem Rechnungsbetrag verrechnet.

4Der Kläger ist der Auffassung, die Rabattaktionen der Beklagten verstießen gegen die Arzneimittelpreisbindung und seien daher unlauter.

5Nach anwaltlichen Abmahnungen vom und vom hat der Kläger hinsichtlich beider Rabattaktionen einstweilige Verfügungen gegen die Beklagte erwirkt. Nach anwaltlichen Abschlussschreiben vom und vom hat der Kläger Hauptsacheklage erhoben.

6Mit seiner Klage hat der Kläger beantragt, der Beklagten unter Androhung von Ordnungsmitteln zu verbieten,

1.im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Kunden in Deutschland einen Bonus in Höhe von 3 € für jedes rezeptpflichtige Medikament auf einem Rezept anzubieten und/oder zu gewähren und/oder hierfür zu werben, insbesondere, wenn dies wie folgt geschieht:

1a.im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Kunden in Deutschland als Vergütung für einen Arzneimittel-Check einen Bonus von bis zu 9 € (3 € pro Arzneimittel auf einem Rezept) anzubieten und/oder hierfür zu werben, wenn dies wie folgt geschieht:

und/oder als Vergütung für einen Arzneimittel-Check einen Bonus von bis zu 9 € (3 € pro Arzneimittel auf einem Rezept) zu gewähren.

7Der Kläger hat die Beklagte außerdem - nach übereinstimmender Teilerledigungserklärung hinsichtlich der Kosten der Abmahnung vom - auf Erstattung der nicht anrechenbaren hälftigen Kosten der Abmahnung vom in Höhe von 699,90 € und der Kosten für die beiden Abschlussschreiben in Höhe von je 856,80 €, jeweils nebst Zinsen, in Anspruch genommen.

8Das Landgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Im Berufungsverfahren hat der Kläger die Zurückweisung der Berufung mit der Maßgabe beantragt, dass im Verbotsausspruch das Wort "insbesondere" entfällt. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten nach Maßgabe der geänderten Klageanträge zurückgewiesen (, juris). Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung der Kläger beantragt, verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter.

Gründe

9A. Das Berufungsgericht hat die Klageanträge für begründet erachtet und hierzu ausgeführt:

10Die von der Beklagten auch gegenüber Mitgliedern gesetzlicher Krankenversicherungen angebotenen Zuwendungen verstießen gegen die gesetzlichen Vorgaben zur Arzneimittelpreisbindung. Die deutschen Regelungen zur Arzneimittelpreisbindung seien weder nach der zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Werbeaktion maßgeblichen noch nach der zum Zeitpunkt der Entscheidung geltenden Rechtslage wegen Verstoßes gegen die gemäß Art. 28 ff. AEUV gewährleistete Warenverkehrsfreiheit unionsrechtswidrig. Infolge des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache "Deutsche Parkinson Vereinigung" (, GRUR 2016, 1312 = WRP 2017, 36) bestehende Zweifel an der europarechtlichen Wirksamkeit der deutschen Arzneimittelpreisvorschriften seien unter Berücksichtigung des Parteivortrags im Rahmen des vorliegenden Verfahrens und der Stellungnahme der Bundesregierung vom im Hinblick auf die dem Gesetzgeber zustehende weite Einschätzungsprärogative ausgeräumt. Dem gemäß § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG aF, § 15a Abs. 1 UWG prozessführungsbefugten und aktivlegitimierten Kläger stünden daher die vom Landgericht zuerkannten Unterlassungsansprüche wegen Verstoßes gegen die im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Werbemaßnahmen sowie die im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltenden Vorschriften zur Arzneimittelpreisbindung gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1, § 4 Nr. 11 UWG aF in Verbindung mit § 78 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 AMG aF und § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 3 Abs. 1 AMPreisV beziehungsweise § 8 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1, § 3a UWG in Verbindung mit § 129 Abs. 3 Satz 3 SGB V zu. Die vom Landgericht dem Kläger gleichfalls zuerkannten Ansprüche auf Erstattung außergerichtlicher Rechtsverfolgungskosten seien gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2, § 9 UWG aF begründet.

11B. Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hat Erfolg und führt zur Abweisung der Klage. Die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche auf Unterlassung der beanstandeten Rabattaktionen und Erstattung außergerichtlicher Rechtsverfolgungskosten bestehen nicht. Die Bonusmodelle der Beklagten verstoßen zwar sowohl gegen § 78 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2 AMG aF als auch gegen § 129 Abs. 3 Satz 3 SGB V in Verbindung mit den Vorschriften der Arzneimittelpreisverordnung (dazu nachfolgend B I und II). Die Preisbindungsvorschrift des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF, wonach die auf der Grundlage des § 78 Abs. 1 Satz 1 AMG aF erlassene Arzneimittelpreisverordnung auch für Arzneimittel gilt, die gemäß Art. 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AMG aF von einer Apotheke eines Mitgliedstaats der Europäischen Union an den Endverbraucher im Geltungsbereich des Arzneimittelgesetzes verbracht werden, steht aber mit den unionsrechtlichen Regelungen zur Warenverkehrsfreiheit in Art. 34 und 36 AEUV nicht in Einklang und ist daher gegenüber der in den Niederlanden ansässigen Beklagten nicht anwendbar (dazu nachfolgend B III). Ob dies auch für die Neuregelung der arzneimittelrechtlichen Preisbindung in § 129 Abs. 3 Satz 3 SGB V gilt, braucht im Streitfall nicht entschieden werden (dazu nachfolgend B IV). Die Klage erweist sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der heilmittelwerberechtlichen Verbote nach §§ 7 und 10 HWG als begründet (dazu nachfolgend B V).

12I. Der auf Wiederholungsgefahr gestützte und in die Zukunft gerichtete Unterlassungsanspruch besteht nur, wenn das beanstandete Verhalten der Beklagten zum Zeitpunkt seiner Vornahme wettbewerbswidrig war und sich auch noch nach der zum Zeitpunkt der Entscheidung in der Revisionsinstanz geltenden Rechtslage als wettbewerbswidrig darstellt (st. Rspr.; vgl. , GRUR 2022, 391 [juris Rn. 13] = WRP 2022, 434 - Gewinnspielwerbung II, mwN).

131. Nach dem beanstandeten Verhalten der Beklagten im Jahr 2012 ist mit Wirkung vom die Vorschrift des § 3a UWG an die Stelle des § 4 Nr. 11 UWG aF getreten. Eine für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Änderung der Rechtslage folgt daraus aber nicht (vgl. BGH, GRUR 2022, 391 [juris Rn. 14] - Gewinnspielwerbung II, mwN).

142. Der Anwendung des § 3a UWG (§ 4 Nr. 11 UWG aF) steht im Streitfall nicht entgegen, dass die Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt, die in ihrem Anwendungsbereich (Art. 3 der Richtlinie) zu einer vollständigen Harmonisierung des Lauterkeitsrechts geführt hat (Art. 4 der Richtlinie), keinen vergleichbaren Unlauterkeitstatbestand kennt. Die sich aus § 78 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2 AMG aF beziehungsweise § 129 Abs. 3 Satz 3 SGB V ergebende Beschränkung des Preiswettbewerbs dient ebenso wie die Werbeverbote der §§ 7 und 10 HWG dem Schutz der Gesundheit und Sicherheit von Verbrauchern und bleibt deshalb gemäß Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2005/29/EG von dieser unberührt (vgl. , GRUR 2010, 1136 [juris Rn. 13] = WRP 2010, 1482 - UNSER DANKESCHÖN FÜR SIE; Beschluss vom - I ZR 182/22, GRUR 2023, 1318 [juris Rn. 21] = WRP 2023, 1198 - Gutscheinwerbung).

153. Während des Berufungsverfahrens ist § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF durch Art. 5 des Gesetzes zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken vom (BGBl. I S. 2870) mit Wirkung ab dem aufgehoben worden. Mit Art. 1 Nr. 2 Buchst. a dieses Gesetzes hat der Gesetzgeber zugleich § 129 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB V eingefügt. Außerdem hat er durch Art. 4 Nr. 1 und 2 des Gesetzes zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 HWG um einen Verweis auf die Preisvorschriften des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs ergänzt.

16II. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Rabattaktionen der Beklagten sowohl gegen die im Zeitpunkt ihrer Bewerbung und Durchführung maßgeblichen Vorschriften der § 3 Abs. 1, § 4 Nr. 11 UWG aF in Verbindung mit § 78 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2 AMG aF und § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 3 Abs. 1 AMPreisV aF als auch gegen die nach gegenwärtiger Rechtslage maßgeblichen Vorschriften der § 3 Abs. 1, § 3a UWG in Verbindung mit § 129 Abs. 3 Satz 3 SGB V verstoßen.

171. Im Zeitpunkt der Bewerbung und Durchführung der beanstandeten Rabattaktionen der Beklagten im Jahr 2012 waren verschreibungspflichtige und damit gemäß § 43 Abs. 1, § 44 Abs. 3 AMG apothekenpflichtige Arzneimittel preisgebunden. Nach § 78 Abs. 2 Satz 2 AMG aF war für apothekenpflichtige Arzneimittel ein einheitlicher Apothekenabgabepreis zu gewährleisten. Die Einzelheiten regelte die auf der Grundlage des § 78 Abs. 1 AMG aF ergangene Arzneimittelpreisverordnung. Diese legte für verschreibungspflichtige Arzneimittel in § 2 die Preisspannen des Großhandels bei der Abgabe im Wiederverkauf an Apotheken und in § 3 die Preisspannen der Apotheken bei der Abgabe im Wiederverkauf jeweils zwingend fest (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 4 AMPreisV). Nach § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF sollte die Arzneimittelpreisverordnung, die aufgrund von § 78 Abs. 1 Satz 1 AMG aF erlassen worden war, auch für Arzneimittel gelten, die gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AMG aF - also im Wege des Versands an den Endverbraucher durch eine Apotheke eines Mitgliedstaats der Europäischen Union - in den Geltungsbereich dieses Gesetzes verbracht werden.

18Seit der Neuregelung der arzneimittelrechtlichen Preisbindung und Aufhebung des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF durch das Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken bestimmt nunmehr § 129 Abs. 3 Satz 3 SGB V für die gesetzliche Krankenversicherung - also nicht für die private Krankenversicherung -, dass Apotheken, für die der Rahmenvertrag nach § 129 Abs. 2 SGB V Rechtswirkungen hat, bei der Abgabe verordneter Arzneimittel an Versicherte als Sachleistungen zur Einhaltung der in der nach § 78 des Arzneimittelgesetzes erlassenen Rechtsverordnung festgesetzten Preisspannen und Preise verpflichtet sind und Versicherten keine Zuwendungen gewähren dürfen.

192. Das Berufungsgericht ist zutreffend und von der Revision nicht angegriffen davon ausgegangen, dass es sich bei den arzneimittelrechtlichen Preisbindungsvorschriften der § 78 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2 AMG aF in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 3 Abs. 1 AMPreisV aF und § 129 Abs. 3 Satz 3 SGB V um Marktverhaltensregelungen im Sinne von § 4 Nr. 11 UWG aF beziehungsweise § 3a UWG handelt (vgl. BGH, GRUR 2022, 391 [juris Rn. 61] - Gewinnspielwerbung II).

203. Das Berufungsgericht hat weiter zu Recht angenommen, dass ein Apotheker gegen die arzneimittelrechtliche Preisbindung nicht nur dann verstößt, wenn er ein preisgebundenes Arzneimittel zu einem anderen als dem nach der Arzneimittelpreisverordnung zu berechnenden Preis abgibt, sondern auch dann, wenn für das preisgebundene Arzneimittel zwar der korrekte Preis angesetzt wird, dem Kunden aber gekoppelt mit dem Erwerb des Arzneimittels Vorteile gewährt werden, die den Erwerb für ihn wirtschaftlich günstiger erscheinen lassen (vgl. BGH, GRUR 2010, 1136 [juris Rn. 17] - UNSER DANKESCHÖN FÜR SIE). Das Berufungsgericht hat im Anbieten und Gewähren eines Rabatts in Höhe von jeweils 3 € bis zu einer Gesamthöhe von 9 € pro Rezept für jedes rezept- und damit verschreibungspflichtige Medikament einen Verstoß gegen die arzneimittelrechtliche Preisbindung gesehen, weil sich dieser Rabatt aus der Sicht angesprochener Kunden als unmittelbarer Preisnachlass auf den eigentlichen Apothekenabgabepreis darstelle. Es hat darüber hinaus auch hinsichtlich der einem Kunden in gleicher Höhe gegen Teilnahme an einem Arzneimittel-Check gewährten Prämie einen Verstoß gegen die Preisbindung bejaht. Hierzu hat es ausgeführt, aus der Sicht des angesprochenen Kunden erfolge die Zahlung des Bonus von 3 € pro Medikament bis zu einer Gesamthöhe von 9 € pro Rezept als finanzieller Anreiz dafür, Rezepte bei der Beklagten einzulösen. Die Zahlung stelle sich dem angesprochenen Kunden nicht als Entlohnung mit der Durchführung des Arzneimittel-Checks verbundener Unannehmlichkeiten dar, angesichts derer die preisliche Anreizwirkung als solche in den Hintergrund treten würde. Das beanstandete Verhalten der Beklagten sei zudem geeignet, die Interessen von Mitbewerbern und sonstigen Marktteilnehmern spürbar zu beeinträchtigen, § 3 Abs. 1 UWG aF beziehungsweise § 3a Abs. 1 UWG. Gegen diese Beurteilung des Berufungsgerichts, die keinen Rechtsfehler erkennen lässt, wendet sich die Revision nicht.

21III. Mit Erfolg wendet sich die Revision dagegen, dass das Berufungsgericht die nationalen Regelungen zur arzneimittelrechtlichen Preisbindung im Verhältnis zu der Beklagten angewendet hat. Der Kläger kann gegen die Beklagte keine Ansprüche auf Unterlassung und Kostenersatz geltend machen, weil jedenfalls der im Zeitpunkt der Bewerbung und Durchführung der beanstandeten Rabattaktionen der Beklagten im Jahr 2012 geltende § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF mit der Regelung in Art. 34 und 36 AEUV nicht in Einklang steht und daher gegenüber der in den Niederlanden ansässigen Beklagten nicht anwendbar ist.

221. Der Gesetzgeber hat die Geltung der Arzneimittelpreisverordnung mit Wirkung vom in § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF auf Arzneimittel erstreckt, die gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AMG aF von einer Apotheke eines Mitgliedstaats der Europäischen Union nach Deutschland versandt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kam dieser Neufassung der Preisbindungsklausel allerdings allein klarstellende Bedeutung zu (vgl. , GRUR 2014, 593 [juris Rn. 16] = WRP 2014, 692 - Sofort-Bonus; Urteil vom - I ZR 163/15, GRUR 2017, 635 [juris Rn. 41] = WRP 2017, 694 - Freunde werben Freunde). Denn bereits mit Beschluss vom hatte der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes die ihm vom erkennenden Senat (, GRUR 2010, 1130 = WRP 2010, 1485 - Sparen Sie beim Medikamentenkauf!) vorgelegte Frage bejaht, ob die deutschen Vorschriften für den Apothekenabgabepreis auch für verschreibungspflichtige Arzneimittel gelten, die Apotheken mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union im Wege des Versandhandels nach Deutschland an Endverbraucher abgeben (vgl. GmS-OGB 1/10, BGHZ 194, 354 [juris Rn. 21 bis 33 und 34]). Einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit im Sinne des Art. 34 AEUV hatte der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes darin nicht gesehen. Er war außerdem davon ausgegangen, dass die Regelung, wonach deutsches Arzneimittelpreisrecht auch für im Wege des Versandhandels nach Deutschland eingeführte Arzneimittel gilt, jedenfalls nach Art. 36 AEUV (Art. 30 EGV) zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gerechtfertigt sei (vgl. GmS-OGB, BGHZ 194, 354 [juris Rn. 37 bis 43 und 44 bis 46]).

232. Mit Urteil vom hat der Gerichtshof der Europäischen Union in der Sache "Deutsche Parkinson Vereinigung" (EuGH, GRUR 2016, 1312) auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Düsseldorf (OLG Düsseldorf, WRP 2015, 1018) entschieden, dass sich die im deutschen Recht vorgesehene Festlegung einheitlicher Abgabepreise auf in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland ansässige Apotheken stärker auswirkt als auf im deutschen Hoheitsgebiet ansässige Apotheken. Dadurch kann der Marktzugang für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten stärker behindert werden als für inländische Erzeugnisse. Eine solche Regelung stellt daher eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV dar (vgl. EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 26 f.] - Deutsche Parkinson Vereinigung). Außerdem hat der Gerichtshof der Europäischen Union angenommen, dass das deutsche Arzneimittelpreisrecht, das für verschreibungspflichtige Humanarzneimittel einheitliche Apothekenabgabepreise festsetzt, nicht mit dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen im Sinne von Art. 36 AEUV gerechtfertigt werden kann, da es nicht geeignet ist, die angestrebten Ziele zu erreichen (EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 46] - Deutsche Parkinson Vereinigung).

243. Anders als die Revision meint, steht nicht schon damit die Unvereinbarkeit des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF mit der Warenverkehrsfreiheit bindend fest. Die Frage, ob § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF mit dem Primärrecht der Europäischen Union vereinbar ist, ist vielmehr unter bestimmten Umständen einer erneuten Prüfung zugänglich.

25a) Vorabentscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union entfalten im Ausgangsverfahren grundsätzlich Bindungswirkung, eine Ultra-Vires-Kontrolle ist allein dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten (vgl. BVerfGE 123, 267 [juris Rn. 240]; Calliess in Dürig/Herzog/Scholz, GG, 79. Lieferung Dezember 2016, Art. 24 Abs. 1 Rn. 203; Streinz/Huber, EUV/AEUV, 3. Aufl., Art. 19 EUV Rn. 81). Die Bindungswirkung von Vorabentscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union in Fragen der Auslegung von Unionsrecht über das Ausgangsverfahren hinaus ist in der Literatur demgegenüber umstritten. Auf der einen Seite wird sie abgelehnt, weil sich die Entscheidung nach Art. 267 AEUV dem Wortlaut nach allein auf den konkreten Ausgangsfall beschränke und daher nur eine autorité relative entfalte. Auf der anderen Seite befürwortet die im Schrifttum herrschende Meinung im Grundsatz eine Bindungswirkung erga omnes, weil sie in der Praxis das einzig wirksame Instrument darstelle, das unionsweit einheitliche Verständnis von Unionsrecht zu gewährleisten. Es bestehe insoweit eine (gelockerte) Stare-decisis-Doktrin im EU-Recht (vgl. Streinz/Ehricke aaO Art. 267 AEUV Rn. 69 mwN zum Streitstand; Karpenstein in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 82. Lieferung Mai 2024, Art. 267 AEUV Rn. 108; Schwarze/Wunderlich in Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 4. Aufl., Art. 267 AEUV Rn. 72; Wegener in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl., Art. 267 AEUV Rn. 51; Fink, HFSt 2019, 141, 143; Hofmann in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl., § 78 Rn. 59; Rehmann/Rehmann, AMG, 5. Aufl., § 78 Rn. 2; Huppertz, Preisbindung apothekenpflichtiger Arzneimittel in Deutschland, 2024, S. 30). Auch nach der letztgenannten Auffassung sind die Gerichte aber sowohl im Ausgangsverfahren als auch in anderen Verfahren als dem Ausgangsverfahren durch die Bindungswirkung nicht daran gehindert, den Gerichtshof erneut zu befassen, um weitere Klärungen hinsichtlich der bereits aufgeworfenen und entschiedenen unionsrechtlichen Fragen zu erreichen (vgl. 38/82, Slg. 1983, 1271 Rn. 8 f. - Hauptzollamt Flensburg/Hansen; Streinz/Ehricke aaO Art. 267 AEUV Rn. 68; Pechstein/Görlitz in Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 2. Aufl., Art. 267 AEUV Rn. 98; Karpenstein in Grabitz/Hilf/Nettesheim aaO Art. 267 AEUV Rn. 109; Vogt-Beheim in Anders/Gehle, ZPO, 83. Aufl., Anh. zu § 1 GVG Rn. 25). Eine weitere Vorlage ist insbesondere dann statthaft - und für letztinstanzliche nationale Gerichte nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtend (vgl. 283/81, Slg. 1982, 3415 = NJW 1983, 1257 [juris Rn. 21] - Cilfit; Streinz/Ehricke aaO Art. 267 AEUV Rn. 72) -, wenn sich eine neue Rechtsfrage stellt oder sich neue tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte ergeben haben, die den Gerichtshof der Europäischen Union dazu veranlassen könnten, eine bereits vorgelegte Frage vor diesem neuen Hintergrund abweichend zu beantworten (vgl. 69/85, Slg. 1986, 947 Rn. 15 - Wünsche/Deutschland; Beschluss vom - C-634/15, juris Rn. 19 - Sokoll-Seebacher und Naderhirn; Urteil vom - C-757/22, GRUR 2024, 1357 = WRP 2024, 1049 - Meta Platforms Ireland [Verbandsklage]; Streinz/Ehricke aaO Art. 267 AEUV Rn. 68).

26b) Die Beurteilung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Vorabentscheidungsverfahren "Deutsche Parkinson Vereinigung" (EuGH, GRUR 2016, 1312) beruhte maßgeblich darauf, dass das vorlegende Gericht keine Feststellungen zu einer gleichmäßigen und flächendeckenden Arzneimittelversorgung der Bevölkerung in Deutschland einschließlich der ländlichen Gebiete und zur Bedeutung der arzneimittelrechtlichen Preisbindungsvorschriften in diesem Zusammenhang getroffen hatte (vgl. BGH, GRUR 2017, 635 [juris Rn. 47 und 48] - Freunde werben Freunde; , GRUR 2018, 1271 [juris Rn. 28 bis 31] = WRP 2019, 61 - Applikationsarzneimittel; Urteil vom - I ZR 5/19, GRUR 2020, 550 [juris Rn. 20] = WRP 2020, 581 - Sofort-Bonus II). Der Gerichtshof der Europäischen Union kann zwar nach Art. 96 Abs. 1 Buchst. b VerfO-EuGH abgegebene Erklärungen der Mitgliedstaaten berücksichtigen und gemäß Art. 101 VerfO-EuGH das vorlegende Gericht um Klarstellung ersuchen, er ist aber nicht zu einer Beweisaufnahme im eigentlichen Sinne berechtigt (Streinz/Ehricke aaO Art. 267 AEUV Rn. 61). Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gemäß Art. 267 AEUV, der auf einer klaren Trennung der Aufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, vielmehr nur befugt, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern. In diesem Rahmen ist es nicht Sache des Gerichtshofs, sondern des nationalen Gerichts, die dem Rechtsstreit zugrundeliegenden Tatsachen festzustellen und daraus die Schlussfolgerungen für die von ihm zu erlassende Entscheidung zu ziehen (, Slg. 1994, I-2305 = EuZW 1994, 762 [juris Rn. 16 f.] - AC-ATEL Electronics, mwN; Urteil vom - C-448/15, EuZW 2017, 778 [juris Rn. 45] - Wereldhave Belgium u.a.).

27Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass in einem anderen Verfahren, in dem die Frage der Vereinbarkeit des deutschen Arzneimittelpreisrechts mit dem Primärrecht der Europäischen Union in Streit steht, Feststellungen zu einer gleichmäßigen und flächendeckenden Arzneimittelversorgung der Bevölkerung in Deutschland nachgeholt werden können, und dass sich hieraus neue tatsächliche Gesichtspunkte ergeben, die den Gerichtshof der Europäischen Union dazu veranlassen können, die bereits vorgelegte Frage vor diesem neuen Hintergrund abweichend zu beantworten. Tragen die Parteien mithin in einem anderen Verfahren zur Geeignetheit der deutschen Regelung der arzneimittelrechtlichen Preisbindung für eine flächendeckende und gleichmäßige Arzneimittelversorgung in schlüssiger Weise vor und werden entsprechende Feststellungen getroffen, kommt ein erneutes Vorabentscheidungsersuchen in Betracht (vgl. BGH, GRUR 2017, 635 [juris Rn. 48] - Freunde werben Freunde; GRUR 2018, 1271 [juris Rn. 32] - Applikationsarzneimittel; GRUR 2020, 550 [juris Rn. 20] - Sofort-Bonus II).

284. Im Streitfall ist eine erneute Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht veranlasst. Es ist geklärt, dass es sich bei der nationalen Regelung zur arzneimittelrechtlichen Preisbindung in § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF um eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Art. 34 AEUV handelt (dazu nachfolgend B III 4 a). Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit können nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt sein (dazu nachfolgend B III 4 b). An die Darlegung eines rechtfertigenden Grunds im Sinne von Art. 36 AEUV sind strenge Anforderungen zu stellen (dazu nachfolgend B III 4 c). Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der mit der - mittlerweile aufgehobenen - Preisbindungsregelung des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF einhergehende Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit sei aus Gründen des Gesundheitsschutzes gemäß Art. 36 AEUV gerechtfertigt, hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand (dazu nachfolgend B III 4 d). Neue tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte, die den Gerichtshof der Europäischen Union dazu veranlassen könnten, die bereits vorgelegte Frage nunmehr abweichend zu beantworten, liegen nicht vor (dazu nachfolgend B III 4 e).

29a) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union stellt die deutsche Regelung zur arzneimittelrechtlichen Preisbindung in § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Art. 34 AEUV dar, da sie sich auf die Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel durch in anderen Mitgliedstaaten ansässige Apotheken stärker auswirkt als auf die Abgabe solcher Arzneimittel durch im Inland ansässige Apotheken (vgl. EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 27] - Deutsche Parkinson Vereinigung). Dies zieht weder die Revision noch die Revisionserwiderung in Zweifel. Dafür, dass die Beklagte verschreibungspflichtige Arzneimittel allein zum Zwecke ihrer Wiedereinfuhr ausführt, um eine gesetzliche Regelung zu umgehen (dazu vgl. 229/83, GRUR Int. 1985, 190 [juris Rn. 27] - Leclerc/Au Blé Vert), ist nichts ersichtlich.

30b) Eingriffe in den freien Warenverkehr können nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt sein. Danach stehen die Bestimmungen der Art. 34 und 35 Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegen, die aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind (Satz 1). Diese Verbote oder Beschränkungen dürfen jedoch weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen (Satz 2).

31c) Als Ausnahme zum Grundsatz des freien Warenverkehrs innerhalb der Union ist Art. 36 AEUV eng auszulegen (vgl. EuGH, GRUR Int. 1985, 190 [juris Rn. 30] - Leclerc/Au Blé Vert; , Slg. 2008, I-6935 = NJW 2008, 3693 [juris Rn. 50] - Kommission/Deutschland; EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 29] - Deutsche Parkinson Vereinigung).

32aa) Eine nationale Maßnahme, die den freien Warenverkehr beschränkt, kann zwar zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt sein (vgl. , juris Rn. 67 - VIPA, mwN). Insoweit ist anerkannt, dass auch das Erfordernis, die regelmäßige Versorgung des Landes für wichtige medizinische Zwecke, insbesondere eine sichere und qualitativ hochwertige Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln, sicherzustellen, nach Art. 36 AEUV eine Behinderung des Handelsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten rechtfertigen kann, da dieses Ziel unter den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen fällt (vgl. EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 31] - Deutsche Parkinson Vereinigung; , juris Rn. 68 - VIPA). Eine Regelung, die eine durch den AEU-Vertrag gewährleistete Grundfreiheit wie den freien Warenverkehr beschränken kann, lässt sich allerdings nur dann mit Erfolg rechtfertigen, wenn sie geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. EuGH, NJW 2008, 3693 [juris Rn. 48] - Kommission/Deutschland; GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 34] - Deutsche Parkinson Vereinigung; , juris Rn. 69 - VIPA).

33bb) Es ist Sache der nationalen Gerichte zu prüfen, ob eine den freien Warenverkehr beschränkende Regelung eines Mitgliedstaats durch das Ziel, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, gerechtfertigt ist, mithin ob sie geeignet ist, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten und ob sie nicht über das hinausgeht, was zu seiner Erreichung erforderlich ist (vgl. , juris Rn. 83 - VIPA). Bei dieser Prüfung haben die nationalen Gerichte die Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Beweislast und zum Beweismaß auf der Rechtfertigungsebene zu beachten. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts besteht - anders als auf der Ebene der Tatsachenermittlung (vgl. , NJW 2016, 621 [juris Rn. 64] - Scotch Whisky Association u.a.) - für einen Rückgriff auf nationale Beweisregeln insoweit kein Raum mehr.

34cc) Ob das Tatgericht das richtige Beweismaß angewandt hat, obliegt der unbeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung (vgl. , NJW 1993, 935 [juris Rn. 16]; Urteil vom - V ZR 173/09, NJW 2010, 3774 [juris Rn. 13]; Urteil vom - V ZR 255/17, NJW 2019, 3147 [juris Rn. 27]; BeckOGK.ZPO/Brückner, Stand: , § 546 Rn. 44; Ball in Musielak/Voit, ZPO, 22. Aufl., § 546 Rn. 9 f.; MünchKomm.ZPO/Krüger, 7. Aufl., § 546 Rn. 15). Die Beweiswürdigung verletzt § 286 ZPO, wenn das Berufungsgericht unerfüllbare Beweisanforderungen stellt oder die Beweisanforderungen überspannt oder vernachlässigt (vgl. Saenger/Koch, ZPO, 10. Aufl., § 546 Rn. 13).

35d) Der Beurteilung des Berufungsgerichts, dass der mit der - mittlerweile aufgehobenen - Preisbindungsregelung des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF einhergehende Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit aus Gründen des Gesundheitsschutzes gemäß Art. 36 AEUV gerechtfertigt war, liegt ein unzutreffender rechtlicher Maßstab zugrunde.

36aa) Bei der Prüfung der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht muss das nationale Gericht alle Angaben, Beweismittel und sonstigen einschlägigen Unterlagen berücksichtigen, von denen es gemäß den Bedingungen seines nationalen Rechts Kenntnis hat. Eine solche Beurteilung ist erst recht geboten, wenn hinsichtlich der tatsächlichen Wirkungen der Maßnahmen, die die zu prüfende nationale Regelung vorsieht, wissenschaftliche Unsicherheiten bestehen. Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Maßnahme ist dabei nicht auf die Angaben, Beweismittel oder sonstigen Unterlagen beschränkt, die dem Gesetzgeber bei ihrem Erlass zur Verfügung gestanden haben, sondern die Kontrolle der Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit dem Unionsrecht muss auf der Grundlage der Angaben, Beweismittel und sonstigen Unterlagen erfolgen, die dem nationalen Gericht gemäß den Bedingungen seines nationalen Rechts zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zur Verfügung stehen (vgl. EuGH, NJW 2016, 621 [juris Rn. 64 f.] - Scotch Whisky Association u.a.).

37bb) Diese Vorgaben zur Tatsachenermittlung hat das Berufungsgericht beachtet. Es hat unter Ausschöpfung sämtlicher ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen den von den Parteien vorgebrachten Streitstoff umfassend ausgewertet und insbesondere die vorgelegten Gutachten, Studien und Stellungnahmen einer sorgfältigen Analyse unterzogen. Darüber hinaus hat das Berufungsgericht, wie vom erkennenden Senat gefordert (vgl. BGH, GRUR 2017, 635 [juris Rn. 49] - Freunde werben Freunde), nach § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO eine amtliche Auskunft der Bundesregierung dazu eingeholt, ob und gegebenenfalls welche tatsächlichen Umstände die Annahme rechtfertigen, die nationalen Regelungen des Arzneimittelpreisrechts, wonach für verschreibungspflichtige Arzneimittel einheitliche Apothekenabgabepreise festzusetzen sind, seien zur Gewährleistung einer flächendeckenden, sicheren und qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung erforderlich. Das Berufungsgericht hat außerdem nach vorangegangenem Hinweis auch öffentlich zugängliche Unterlagen aus dem Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt und insbesondere die Gesetzgebungsmaterialien zum Zweiten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom sowie die Gesetzgebungsmaterialien zum Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken vom , jeweils inklusive der Plenarprotokolle, im Einzelnen gewürdigt.

38Entgegen der Auffassung der Revision gibt es für eine Präklusion von Sachvortrag, der über den im Verfahren "Deutsche Parkinson Vereinigung" (EuGH, GRUR 2016, 1312) von den dortigen Parteien und der am Vorabentscheidungsverfahren beteiligten Bundesregierung gehaltenen Sachvortrag hinausgeht, keine Rechtsgrundlage. Gegenteiliges lässt sich weder dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Sache "Jonkman u.a." ( bis C-233/06, Slg. 2007, I-5149 = NJW 2007, 3625 [juris Rn. 38]), das sich mit der aus der Loyalitätspflicht folgenden Verpflichtung zur zügigen Umsetzung eines Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union beschäftigt, noch den von der Revision zitierten Senatsentscheidungen entnehmen. Die Senatsentscheidung "Brötchen-Gutschein" (, GRUR 2019, 1071 [juris Rn. 34] = WRP 2019, 1296) steht ausdrücklich unter dem Vorbehalt der "aktuellen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union" und betrifft - wie auch die Senatsentscheidung "1 Euro-Gutschein" (, GRUR 2019, 1078 [juris Rn. 33]) - einen reinen Inlandssachverhalt. Der Vorlagebeschluss des Senats im Verfahren "Gutscheinwerbung" (vgl. BGH, GRUR 2023, 1318 [juris Rn. 18]) und die Ausführungen des Generalanwalts (Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-517/23 vom Rn. 68) beziehen sich auf den Stand des dortigen Verfahrens, in dem die Antwort der Bundesregierung auf das Auskunftsersuchen des hiesigen Berufungsgerichts noch nicht vorgelegen hatte.

39Anders als die Revision meint, ist die erneute gerichtliche Prüfung der nationalen Preisbindungsregelung des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF auf ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht auch nicht mit einer echten Rückwirkung eines Gesetzes vergleichbar. Schon die nur eingeschränkte Bindungswirkung von Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union in Vorabentscheidungsverfahren (dazu bereits Rn. 25) steht einem solchen Vertrauensschutz entgegen. Im Streitfall kommt hinzu, dass die Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Verfahren "Deutsche Parkinson Vereinigung" (EuGH, GRUR 2016, 1312) auf ungenügenden Feststellungen in jenem Verfahren beruht hatte, deren Nachholung nach der Rechtsprechung des Senats wiederholt als nicht ausgeschlossen erachtet wurde (vgl. BGH, GRUR 2017, 635 [juris Rn. 47] - Freunde werben Freunde; GRUR 2018, 1271 [juris Rn. 32] - Applikationsarzneimittel; GRUR 2020, 550 [juris Rn. 20] - Sofort-Bonus II; GRUR 2022, 391 [juris Rn. 64] - Gewinnspielwerbung II).

40cc) Mit Erfolg macht die Revision geltend, dass das Berufungsgericht auf der Rechtfertigungsebene rechtsfehlerhaft ein falsches Beweismaß zugrunde gelegt hat. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Gesetzgeber habe im Rahmen der von ihm zu treffenden Prognoseentscheidung davon ausgehen dürfen, dass die Arzneimittelpreisbindung gemäß § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF ein geeignetes und erforderliches Mittel darstelle, um das als solches legitime Ziel der Erhaltung einer flächendeckenden, sicheren und qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung in Deutschland zu gewährleisten, hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

41(1) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union obliegt es den nationalen Behörden, in jedem Einzelfall die erforderlichen Beweise für die Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit einer von ihnen erlassenen, eine Grundfreiheit beschränkende Maßnahme beizubringen. Neben den Rechtfertigungsgründen, die ein Mitgliedstaat geltend machen kann, muss dieser eine Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von ihm erlassenen beschränkenden Maßnahme vorlegen sowie genaue Angaben zur Stützung seines Vorbringens machen (vgl. , Slg. 2005, I-5969 = EuZW 2005, 465 [juris Rn. 63] - Kommission/Österreich; EuGH, NJW 2016, 621 [juris Rn. 54] - Scotch Whisky Association u.a.; GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 35] - Deutsche Parkinson Vereinigung).

42Ein nationales Gericht hat somit, wenn es eine nationale Regelung darauf überprüft, ob sie zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt ist, objektiv zu prüfen, ob die vorgelegten Beweise bei verständiger Würdigung die Einschätzung erlauben, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung der verfolgten Ziele geeignet sind, und ob es möglich ist, diese Ziele durch Maßnahmen zu erreichen, die den freien Warenverkehr weniger einschränken (vgl. EuGH, NJW 2008, 3693 [juris Rn. 50] - Kommission/Deutschland; , juris Rn. 70 - VIPA; Urteil vom - C-662/21, ZUM 2023, 447 [juris Rn. 43] - Booky.fi; Urteil vom - C-96/22, juris Rn. 43 - CDIL). Diese Prüfung hat nach den Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Vorabentscheidung "Deutsche Parkinson Vereinigung" mit Hilfe statistischer Daten, auf einzelne Punkte beschränkter Daten oder anderer Mittel zu geschehen (vgl. EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 36] - Deutsche Parkinson Vereinigung). Soweit der Gerichtshof der Europäischen Union neben einem Rückgriff auf statistische Daten die Möglichkeit eröffnet, den Beweis auch durch andere Mittel zu erbringen, müssen diese eine Aussagekraft aufweisen, die mit jener von statistischen Daten vergleichbar ist (vgl. EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 36] - Deutsche Parkinson Vereinigung; Drexel, EuZW 2019, 533, 536; Rixen, EuR 2017, 744, 750).

43Ein mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer nationalen Regelung befasstes Gericht darf sich dementsprechend nicht auf eine bloße Stichhaltigkeitskontrolle der gesetzgeberischen Erwägungen als solche beschränken, sondern es hat zunächst die Stichhaltigkeit der vorgelegten Beweise unter Berücksichtigung des vom Gerichtshof der Europäischen Union gesetzten Maßstabs zu prüfen. Auf der Grundlage solcher Beweise hat das nationale Gericht objektiv zu untersuchen, ob die vorgelegten Beweise bei verständiger Würdigung die Einschätzung erlauben, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung der verfolgten Ziele geeignet sind, und ob es möglich ist, diese Ziele durch Maßnahmen zu erreichen, die den freien Warenverkehr weniger einschränken (vgl. EuGH, NJW 2016, 621 [juris Rn. 56] - Scotch Whisky Association u.a.). Die Beweislast darf allerdings nicht so weit gehen, dass positiv belegt werden müsste, dass sich das angestrebte Ziel mit keiner anderen vorstellbaren Maßnahme unter den gleichen Bedingungen erreichen ließe (vgl. EuGH, NJW 2016, 621 [juris Rn. 55] - Scotch Whisky Association u.a.).

44(2) Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass es dem Gesetzgeber mit der Regelung des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF um eine Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus und damit um eine gesundheitspolitische Zielsetzung gegangen sei. Stationären Apotheken komme eine grundlegende und zentrale Bedeutung für die Arzneimittelversorgung zu. Deren besondere Bedeutung ergebe sich aus den über die bloße Bereitstellung verschreibungspflichtiger Arzneimittel hinaus angebotenen Beratungsleistungen, den Nacht- und Notdiensten, dem regelmäßigen persönlichen Kontakt mit den verschreibenden Ärzten und der Versorgung von Heimen sowie der Bereitstellung patientenindividueller Rezepturen. Das Berufungsgericht hat außerdem festgestellt, dass Präsenzapotheken etwa 80 % ihres Umsatzes allein mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung erwirtschafteten, dass die Betriebsergebnisse der Apotheken seinerzeit rückläufig gewesen seien, und dass immer mehr Apotheken geschlossen worden seien. Es hat gleichwohl als wahr unterstellt, dass die Apothekeninfrastruktur in Deutschland während des gesamten Verfahrens jederzeit gesichert gewesen sei.

45Das Berufungsgericht hat weiter angenommen, die aus dem Schreiben der Bundesregierung vom ersichtliche Erwägung, wonach Rabatte und Zuwendungen bei der Abgabe von Arzneimitteln eine Lenkungswirkung entfalteten, in deren Folge sich ein Verdrängungswettbewerb zum Nachteil der preisgebundenen Apotheken ergeben könne, stelle einen typisierten Geschehensablauf dar. Dieser begründe eine entsprechende tatsächliche Vermutung dafür, dass es infolge des zunehmenden Preiswettbewerbs zu möglichen Apothekenschließungen kommen könne und somit die flächendeckende Versorgung mit Arzneimitteln gefährdet werde. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung und der damit einhergehenden wachsenden Bereitschaft der Kunden, verschreibungspflichtige Arzneimittel im Wege des Versandhandels zu bestellen, sowie der bei Wegfall der Regelung des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF nur den europäischen Versandhandelsapotheken erlaubten Preisnachlässe sei es naheliegend, dass dies eine Umsatzverlagerung im Bereich verschreibungspflichtiger Arzneimittel von den preisgebundenen stationären Apotheken hin zu den europäischen Versandhandelsapotheken zur Folge haben könne.

46Es könne in der Sache dahinstehen, ob und inwieweit der zunehmende Rückgang der Zahl in Deutschland betriebener Apotheken die flächendeckende Versorgung tatsächlich beeinträchtige. Im Lichte des unionsrechtlichen Vorsorgeprinzips sei der Gesetzgeber gerade nicht gehalten, mit Maßnahmen abzuwarten, bis sich die Gefahr für eine hinreichend sichere Arzneimittelversorgung durch einen tatsächlichen Rückgang von Apothekenbetriebsstätten beobachten und tatsächlich messen lasse. Vielmehr stehe es einem Mitgliedstaat zur Durchsetzung eines von ihm angestrebten hohen Gesundheitsschutzniveaus und der damit verbundenen Aufrechterhaltung einer funktionierenden hinreichend sicheren Arzneimittelversorgung frei, die geeigneten und verhältnismäßigen Maßnahmen zu ergreifen, um entsprechende Gefahren im Ansatz zu vermeiden und das Entstehen von Versorgungslücken zu verhindern. Von einem Mitgliedstaat könne nicht verlangt werden, dass er empirische Daten vorlege, die den Kausalzusammenhang zwischen der Maßnahme und der beabsichtigten Wirkung eindeutig belegten. Mit Blick auf die praktischen Beweisschwierigkeiten, denen sich die nationalen Gerichte im Rahmen der vorzunehmenden Prüfung hypothetischer wirtschaftlicher Entwicklungen ausgesetzt sähen, müssten konkrete und glaubhafte Anhaltspunkte dafür genügen, dass der Mitgliedstaat vernünftige Gründe für die Ansicht haben dürfe, dass die fraglichen Maßnahmen der Erhaltung des gewünschten hohen Gesundheitsschutzniveaus dienlich seien.

47Unter Berücksichtigung der im Bereich der Gesundheitspolitik bestehenden weitreichenden Einschätzungsprärogative des nationalen Gesetzgebers sei zivilgerichtlich im Rahmen einer Stichhaltigkeitskontrolle zu prüfen, ob der mit § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF einhergehende Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit des Art. 34 AEUV aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt sei. Dabei sei darauf abzustellen, ob die fragliche Regelung bei verständiger Würdigung auf rechtfertigenden, hinreichend tatsachenbasierten Anknüpfungspunkten beruhe und nicht lediglich auf der Grundlage ins Blaue hinein erfolgter Überlegungen und damit willkürlich erfolgt sei. Sei im Rahmen der durchzuführenden Stichhaltigkeitskontrolle feststellbar, dass dem parlamentarischen Willensbildungsprozess Tatsachen zugrunde lägen, die sowohl für als auch gegen die Erforderlichkeit der fraglichen Maßnahme sprächen, könne sich der Gesetzgeber seiner im Bereich der Gesundheitspolitik geltenden weiten Einschätzungsprärogative entsprechend für oder gegen diese entscheiden, ohne durch diese rein normative Abwägung die unionsrechtlich gebotenen Grenzen des freien Warenverkehrs zu verletzen.

48Hieran gemessen habe der Gesetzgeber im Rahmen der von ihm zu treffenden Prognoseentscheidung davon ausgehen dürfen, dass die Arzneimittelpreisbindung gemäß § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF ein geeignetes und erforderliches Mittel darstelle, um das als solches legitime Ziel der Erhaltung der flächendeckenden, sicheren und qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung in Deutschland zu gewährleisten. Die dementsprechende gesetzgeberische Entscheidung sei nicht ins Blaue hinein und damit willkürlich erfolgt. Es lägen vielmehr hinreichend konkrete und glaubhafte Anhaltspunkte vor, die nach verständiger Würdigung den Schluss begründeten, dass eine für EU-Versandhandelsapotheken geltende Arzneimittelpreisbindung dem Erhalt des gewünschten hohen Gesundheitsschutzes dienlich sei. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

49(3) Es kann offenbleiben, ob das Vorsorgeprinzip mit seinen Beweiserleichterungen auf einen Sachverhalt wie den vorliegenden Anwendung finden kann (ablehnend Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-148/15 vom Rn. 69 bis 71).

50(a) Nach dem Vorsorgeprinzip muss ein Mitgliedstaat Schutzmaßnahmen treffen können, wenn eine Ungewissheit hinsichtlich des Vorliegens oder der Bedeutung von Gefahren für die menschliche Gesundheit bleibt, ohne dabei warten zu müssen, bis der Beweis für das tatsächliche Bestehen dieser Gefahren vollständig erbracht ist. Außerdem kann der Mitgliedstaat diejenigen Maßnahmen treffen, die eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung weitestmöglich verringern (vgl. und C-172/07, Slg. 2009, I-4171 = WRP 2009, 797 [juris Rn. 30] - Apothekerkammer des Saarlandes u.a.; Urteil vom - C-222/18, juris Rn. 72 - VIPA; Urteil vom - C-649/18, GRUR 2020, 1219 [juris Rn. 110] = WRP 2020, 1410 - A [Werbung und Online-Verkauf von Arzneimitteln]; Urteil vom - C-128/22, juris Rn. 79 - Nordic Info). Das Vorsorgeprinzip betrifft das Risikomanagement in einem Umfeld wissenschaftlicher Unsicherheit. Es gilt sowohl dann, wenn das Ausmaß eines Risikos unsicher ist, als auch dann, wenn zweifelhaft ist, ob ein Risiko überhaupt besteht (vgl. , Slg. 2006, I-679 = DVBl 2006, 501 [juris Rn. 39] - Agrarproduktion Staebelow; Urteil vom - C-663/18, LMuR 2021, 21 [juris Rn. 92] - B S und C A [Vermarktung von Cannabidiol]; Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-148/15 vom Rn. 69).

51(b) Auch bei Anwendung des Vorsorgeprinzips bleibt es dabei, dass es den Mitgliedstaaten obliegt, in jedem Einzelfall zu beweisen, dass die von ihnen erlassene Maßnahme, die eine Grundfreiheit einschränkt, geeignet und erforderlich ist (EuGH, GRUR 2020, 1219 [juris Rn. 111] - A [Werbung und Online-Verkauf von Arzneimitteln] mit Verweis auf , juris Rn. 69 und 70 - VIPA). Die beschränkende Maßnahme kann nur dann als geeignet angesehen werden, die Erreichung des angestrebten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (vgl. EuGH, NJW 2016, 621 [juris Rn. 37] - Scotch Whisky Association u.a.; LMuR 2021, 21 [juris Rn. 84] - B S und C A [Vermarktung von Cannabidiol]). Der Beweis hierfür ist anhand statistischer Daten, auf einzelne Punkte beschränkter Daten oder anderer Mittel mit vergleichbarer Aussagekraft zu erbringen (dazu bereits Rn. 41 bis 43). Daran fehlt es im Streitfall.

52(4) Die Annahme des Berufungsgerichts, dass das legitime Ziel der Gewährleistung einer flächendeckenden, sicheren und qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen durch eine nationale Preisbindungsregelung wie diejenige des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF erreicht werden kann, gründet nicht auf einer validen Datengrundlage. Es ist nicht mit statistischen Daten oder vergleichbaren Mitteln belegt, dass eine gleichermaßen für inländische Apotheken wie für europäische Versandapotheken geltende Arzneimittelpreisbindung eine geeignete Maßnahme zur Sicherstellung der bestehenden Apothekendichte ist, und es ist auch nicht nachgewiesen, dass der Erhalt des Status quo der Apothekendichte für die flächendeckende, sichere und qualitativ hochwertige Versorgung mit Arzneimitteln erforderlich ist. Tatsächliche, konkrete oder glaubhafte Anhaltspunkte dafür, dass eine Arzneimittelpreisbindung eine wirksame Maßnahme zum Erhalt der flächendeckenden Versorgung mit Arzneimitteln darstellen könnte, genügen für sich genommen entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts zum Nachweis der Rechtfertigung eines Eingriffs in die Warenverkehrsfreiheit ebenso wenig wie eine intensiv geführte parlamentarische Debatte über mögliche Eingriffsalternativen.

53(a) Empirische Daten zu den Auswirkungen einheitlicher Apothekenabgabepreise auf die flächendeckende, sichere und qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung der Bevölkerung sind nach Auskunft der zuvörderst zur Rechtfertigung legislativer Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit berufenen Bundesregierung nicht erhoben worden. Deren Stellungnahme bezieht sich zudem ausschließlich auf die Neuregelung der Arzneimittelpreisbindung in § 129 Abs. 3 Satz 3 SGB V und bleibt insoweit - was die Preisbindungsregel des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF anbelangt - sogar noch hinter dem Vorbringen der Bundesregierung im Vorabentscheidungsverfahren "Deutsche Parkinson Vereinigung" (EuGH, GRUR 2016, 1312) zurück. Die Chance, die Entwicklung des Apothekenmarkts in den unregulierten und regulierten Zeiträumen gegenüberzustellen und einer wissenschaftlichen Auswertung zu unterziehen, blieb ungenutzt. Eine wissenschaftliche Untersuchung über den hypothetischen Kausalverlauf im maßgeblichen Zeitraum existiert nicht. Auch ein Ergebnis der in § 129 Abs. 5f SGB V vorgeschriebenen Evaluation der Auswirkungen der Preisbindungsregelung des § 129 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB V auf die Marktanteile von Apotheken und des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ist nicht bekannt.

54(b) Die von den Parteien vorgelegten Gutachten, Studien und Modellierungen beziehen sich sämtlich nicht auf den im Streitfall maßgeblichen Zeitraum der angegriffenen Rabattaktionen aus dem Jahr 2012 und stützen auch für die Folgejahre die Annahmen des Gesetzgebers zur Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Arzneimittelpreisbindung nicht.

55Den Feststellungen des Berufungsgerichts zum Marktanteil EU-ausländischer Apotheken am Rx-Markt in Deutschland lässt sich vielmehr entnehmen, dass sich der Marktanteil ausländischer Versandapotheken seit Jahren relativ stabil im Bereich von 1 % bewegt, und zwar sowohl im preisregulierten Zeitraum ab dem Jahr 2012 bis zur im Jahr 2016 ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Vorabentscheidungsverfahren "Deutsche Parkinson Vereinigung" (EuGH, GRUR 2016, 1312) als auch im unregulierten Zeitraum ab dem Jahr 2016 bis zum Jahr 2020. Auch der als Anlage BK54 vorgelegten, im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erstellten IGES-Studie vom lässt sich entnehmen, dass die Änderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht zu einem wesentlichen Anstieg des Marktanteils der ausländischen Versandhändler im Rx-Markt geführt haben. Soweit sich dies zukünftig - etwa wegen sinkender Wartekosten infolge der verpflichtenden Einführung des E-Rezepts zum - ändern könnte, spielt dies für den im Streitfall maßgeblichen Zeitpunkt der beanstandeten Rabattaktionen aus dem Jahr 2012 keine Rolle. Unter Zugrundelegung der Annahme des Berufungsgerichts, dass die Apothekeninfrastruktur in Deutschland während des gesamten Verfahrens und mithin auch im unregulierten Zeitraum zu jeder Zeit gesichert war, ist nicht erkennbar, auf welchen gegenteiligen, auf statistischen Daten oder vergleichbar validen Fakten beruhenden Prognosen oder Modellierungen die Einschätzung des Gesetzgebers zu möglichen Lenkungseffekten und einem hieraus etwaig folgenden, die flächendeckende Arzneimittelversorgung gefährdenden Verdrängungswettbewerb zum Nachteil von nicht am Rabattwettbewerb teilnehmenden Apotheken beruht. Soweit die Bundesregierung hierfür auf die Ertragsrelevanz des Umsatzes mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung abgestellt hat und ungestützt von einem Umsatzrückgang von 30 bis 60 % des Ertrags in der GKV-Arzneimittelversorgung ausgegangen ist, berücksichtigt dies nicht, dass die Zulassung des Preiswettbewerbs für ausländische Versandapotheken lediglich dem Nachteilsausgleich dient (vgl. EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 24] - Deutsche Parkinson Vereinigung). Es ist deshalb nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass die stationären Apotheken ebenfalls derartige Rabatte gewähren müssten, um konkurrenzfähig zu bleiben (vgl. EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 24 und 39] - Deutsche Parkinson Vereinigung; Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-148/15 vom Rn. 47). Die vom Berufungsgericht gezogene Parallele zur Entwicklung des Markts für Elektronikprodukte für Verbraucher ist mit Blick auf die Besonderheiten verschreibungspflichtiger Arzneimittel nicht tragfähig, weil hier die Nachfrageentscheidung nicht der Patient selbst, sondern der verordnende Arzt trifft, und der Bezug von Arzneimitteln zudem vielfach unaufschiebbar ist.

56Rückläufige Betriebsergebnisse und ein kontinuierlicher Rückgang der Zahl der Präsenzapotheken seit dem Jahr 2000 bedeuten im Übrigen nicht zwangsläufig eine Gefährdung der flächendeckenden, sicheren und qualitativ hochwertigen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln (vgl. Huppertz aaO S. 39). Sowohl Botendienste von Vor-Ort-Apotheken als auch Lieferungen von Versandapotheken sind nach dem als Anlage B51 vorgelegten, im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie erstellten Gutachten vom effiziente Versorgungsformen im Dienste einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung. Da sich der deutsche Gesetzgeber - anders als der überwiegende Teil der Mitgliedstaaten (vgl. Anlage 2 zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken, BT-Drucks. 19/21732, S. 34) - ausdrücklich gegen ein unionsrechtlich an sich zulässiges Versandhandelsverbot im Bereich der verschreibungspflichtigen Arzneimittel entschieden hat (vgl. Anlage 3 zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken, BT-Drucks. 19/21732, S. 37), ist schon aus Gründen der Kohärenz davon auszugehen, dass die Arzneimittelversorgung durch Versandapotheken ebenfalls in sicherer und qualitativ hochwertiger Weise erfolgt (zur Vereinbarkeit eines Versandhandelsverbots mit dem Unionsrecht vgl. , Slg. 2003, I-14887 = GRUR 2004, 174 [juris Rn. 124] - Deutscher Apothekerverband; zum Kohärenzerfordernis vgl. EuGH, ZUM 2023, 447 [juris Rn. 46] - Booky.fi; Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-148/15 vom Rn. 81; Drexel, EuZW 2019, 533, 535 mwN). Der Erhalt des Status quo der Apothekendichte mag deshalb für sich genommen zwar wünschenswert sein. Es ist aber weder festgestellt noch vorgetragen, dass er unabdingbare Voraussetzung für eine flächendeckende, sichere und qualitativ hochwertige Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln ist.

57Die im Streitfall vorgelegten Unterlagen sprechen außerdem dafür, dass mehr Preiswettbewerb unter den Apotheken die gleichmäßige Versorgung mit Arzneimitteln dadurch fördern würde, dass Anreize zur Niederlassung in Gegenden gesetzt würden, in denen wegen der geringeren Zahl an Apotheken höhere Preise verlangt werden könnten (so schon EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 38] - Deutsche Parkinson Vereinigung). Zu diesem Ergebnis gelangt etwa der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in seinem als Anlage K46 vorgelegten Gutachten aus dem Jahr 2014, der die Arzneimittelpreisverordnung und die damit einhergehende starre Preisbindung und äußerst geringe Preiselastizität neben anderen wettbewerbshemmenden staatlichen Regulierungen im Apothekenbereich wie zum Beispiel die Beschränkungen bei Fremd- und Mehrbesitz als Hindernis einer effizienten und effektiven Arzneimitteldistribution bewertet und daher ausdrücklich deren Aufhebung empfiehlt (Gutachten 2014 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, BT-Drucks. 18/1940, S. 118, 120 bis 122 und 128).

58Entgegen der Auffassung des Klägers stützt auch das als Anlage K32 vorgelegte Gutachten von Bauer/May/Dettling - abgesehen davon, dass es sich ebenfalls nicht auf den im Streitfall maßgeblichen Zeitraum der angegriffenen Rabattaktionen aus dem Jahr 2012, sondern auf die im Jahr 2016 herrschenden tatsächlichen Verhältnisse bezieht - nicht die Annahmen des Gesetzgebers zur Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Arzneimittelpreisbindung. Dem Gutachten liegt die Prämisse zugrunde, der ordnungsgemäße Fachstandard sei die "face-to-face-Versorgung"(Gutachten S. 55, 4. Abs.), und es bedürfe deshalb der Vor-Ort-Apotheke, um die pharmazeutische Dienstleistung in der erforderlichen Qualität zu erbringen. Diese Sichtweise lässt unberücksichtigt, dass der Gesetzgeber den elektronischen Handel mit Arzneimittel und damit (auch) die Inanspruchnahme von Internetapotheken gerade fördern wollte (vgl. Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung, BT-Drs. 15/1525, S. 144; dazu Gutachten S. 64 und 65), und dass sowohl Botendienste von Vor-Ort-Apotheken als auch Lieferungen von Versandapotheken effiziente Versorgungsformen im Dienste einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung darstellen (dazu vorstehend Rn. 56). Der Schluss des Gutachtens, ein etwaiger (weiterer) Rückgang der Apothekendichte gefährde die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln, ist daher weder zwingend noch überzeugend.

59(c) Den unbelegten Annahmen des Gesetzgebers, ein Einfordern von Wunschverschreibungen sei im Sinne der Therapiefreiheit zu verhindern und die Patienten seien vor den Gefahren eines Fehl- oder Mehrgebrauchs und dem "Zwang" zum Preisvergleich zu schützen (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, BT-Drucks. 17/9341, S. 66 f.) hat der Gerichtshof der Europäischen Union im Vorabentscheidungsverfahren "Deutsche Parkinson Vereinigung" bereits eine Absage erteilt (vgl. EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 41 bis 43]). Gleiches gilt für die auch im Streitfall geäußerten - ebenfalls nicht durch statistische Daten oder wissenschaftliche Untersuchungen untermauerten - Befürchtungen, durch die Zulassung eines Preiswettbewerbs könnte die Notfallversorgung in Deutschland nicht mehr zu gewährleisten sein, beziehungsweise ein Preiswettbewerb bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln könnte sich nachteilig auf die Wahrnehmung bestimmter Gemeinwohlverpflichtungen wie die Herstellung von Rezepturarzneimitteln und die Bereitstellung eines gewissen Vorrats und Sortiments an Arzneimitteln durch traditionelle Apotheken auswirken (vgl. EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 24, 39 und 40] - Deutsche Parkinson Vereinigung; Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-148/15 vom Rn. 47 und 54).

60(5) Den strengen Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union an die Darlegung und den Nachweis eines Rechtfertigungsgrunds im Sinne von Art. 36 AEUV ist daher auch im Streitfall nicht genügt.

61e) Für eine erneute Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union besteht keine Veranlassung (vgl. EuGH, NJW 1983, 1257 [juris Rn. 21] - Cilfit; , GRUR Int. 2015, 1152 Rn. 43 - Doc Generici; Urteil vom - C-561/19, NJW 2021, 3303 [juris Rn. 32 f.] - Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi). Im Streitfall stellt sich keine entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung des Unionsrechts, die nicht bereits durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt ist oder nicht zweifelsfrei zu beantworten ist.

625. Kann der Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit nach alledem nicht nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt werden, verstößt die Erstreckung der Arzneimittelpreisbindung in § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF auf ausländische Versandapotheken gegen Primärrecht der Europäischen Union. Die nationale Vorschrift ist zwar deshalb nicht nichtig. Die nationalen Gerichte sind aber infolge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts als Ausfluss der in Art. 4 Abs. 3 EUV statuierten Loyalitätspflicht gehalten, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts Sorge zu tragen, indem sie mit der Freiheit des Warenverkehrs unvereinbare Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet lassen ( 106/77, Slg. 1978, 629 = NJW 1978, 1741 [juris Rn. 21/23] - Simmenthal; Urteil vom - C-358/95, Slg. 1997, I-1431 = EuZW 1997, 574 [juris Rn. 18] - Morellato I; Urteil vom - C-416/00, Slg. 2003, I-9343 = LRE 47, 48 [juris Rn. 43 bis 45] - Morellato II; Urteil vom - C-555/07, Slg. 2010, I-365 = NJW 2010, 427 [juris Rn. 51] - Kücükdeveci; Ohly in Ohly/Sosnitza, UWG, 8. Aufl., C. Lauterkeitsrecht und Recht der Europäischen Union Rn. 11; Rehmann/Rehmann aaO § 78 Rn. 2; Streinz/Streinz aaO Art. 4 EUV Rn. 35 und 37). Für den Streitfall bedeutet dies, dass die Preisbindungsvorschrift des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF im Verhältnis zu der in den Niederlanden ansässigen Beklagten nicht angewendet werden darf. Die beanstandeten Rabattaktionen der Beklagten waren somit jedenfalls zum Zeitpunkt ihrer Bewerbung und Durchführung im Jahr 2012 nicht wettbewerbswidrig. Ein Unterlassungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte besteht daher nicht.

63IV. Ob auch die Neuregelung der Arzneimittelpreisbindung in § 129 Abs. 3 Satz 3 SGB V mit der unionsrechtlichen Warenverkehrsfreiheit unvereinbar ist, kann im Streitfall offenbleiben. Weder besteht eine Wiederholungsgefahr, weil die Beklagte nicht gegen die erst am in Kraft getretene Vorschrift des § 129 Abs. 3 Satz 3 SGB V verstoßen hat, noch begründet das Prozessverhalten der Beklagten eine Erstbegehungsgefahr. Eine solche begründet die Rechtsverteidigung erst dann, wenn nicht nur der eigene Rechtsstandpunkt vertreten wird, um sich die bloße Möglichkeit eines entsprechenden Verhaltens für die Zukunft offenzuhalten, sondern den Erklärungen bei Würdigung der Einzelumstände des Falls auch die Bereitschaft zu entnehmen ist, sich unmittelbar oder in naher Zukunft in dieser Weise zu verhalten (st. Rspr.; vgl. , GRUR 2019, 947 [juris Rn. 32] = WRP 2019, 1025 - Bring mich nach Hause, mwN). Im Streitfall sind keine Umstände festgestellt oder von dem Kläger geltend gemacht worden, die den Schluss rechtfertigen könnten, die Beklagte habe nicht nur ihren Rechtsstandpunkt vertreten, sondern habe erkennen lassen, dass sie beabsichtige, ihren Geschäftsbetrieb wiederaufzunehmen und erneut Rabattaktionen der beanstandeten Art durchzuführen.

64V. Die Klage erweist sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der heilmittelrechtlichen Werbeverbote nach §§ 7 und 10 HWG als begründet.

651. Es ist unerheblich, dass der Kläger seine Klage nicht auf diesen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt hat. Entscheidend ist allein, dass der Kläger einen Lebenssachverhalt vorgetragen hat, der sich rechtlich auch unter das Heilmittelwerberecht einordnen lässt. Mit seinen Klageanträgen hat der Kläger auf die konkrete Bewerbung zweier Rabattaktionen der Beklagten Bezug genommen und diese umfassend zur gerichtlichen Überprüfung gestellt. Im Verhältnis zu den gerügten Verstößen gegen die Arzneimittelpreisbindung bilden etwaige Verstöße gegen die heilmittelwerberechtlichen Vorschriften der §§ 7 und 10 HWG keinen selbständigen Streitgegenstand. Die Frage, ob eine derartige Werbung unlauter ist, ist daher auch unter diesem Gesichtspunkt zu prüfen, ob der Kläger seine Klage darauf gestützt hat oder nicht. Denn die rechtliche Würdigung des durch den Vortrag der Klagepartei zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplexes ist Sache des Gerichts (vgl. , BGHZ 194, 314 [juris Rn. 18 und 19] - Biomineralwasser; BGH, GRUR 2020, 550 [juris Rn. 14] - Sofort-Bonus II).

662. Dem Kläger stehen allerdings keine Ansprüche wegen Verstoßes gegen das Heilmittelwerbegesetz zu.

67a) Die beanstandeten Rabattaktionen der Beklagten verstoßen nicht gegen § 7 HWG.

68aa) Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 HWG ist es unzulässig, Zuwendungen und sonstige Werbegaben (Waren oder Leistungen) anzubieten, anzukündigen oder zu gewähren oder als Angehöriger der Fachkreise anzunehmen, es sei denn, es liegt einer der in § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 HWG gesetzlich geregelten Ausnahmefälle vor. Von dem Verbot ausgenommen sind danach - was hier allein in Betracht kommt - geringwertige Kleinigkeiten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Nr. 1 Halbsatz 1 Fall 2 HWG) und bestimmte oder auf bestimmte Art zu berechnende Geldbeträge (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Nr. 2 Teilsatz 1 Buchst. a HWG). Allerdings bleiben Zuwendungen für Arzneimittel unzulässig, soweit sie entgegen den Preisvorschriften gewährt werden, die aufgrund des Arzneimittelgesetzes - oder des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (so die seit dem geltenden Fassungen) - gelten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Nr. 2 Teilsatz 2 HWG).

69bb) Die streitgegenständlichen Boni und Prämien sind Werbegaben im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 HWG. Der Begriff der Werbegabe in § 7 Abs. 1 Satz 1 HWG ist mit Blick auf den Zweck der dortigen Regelung, durch eine weitgehende Eindämmung von Werbegeschenken im Heilmittelbereich der abstrakten Gefahr einer hiervon ausgehenden unsachlichen Beeinflussung zu begegnen, weit auszulegen. Er erfasst grundsätzlich jede aus der Sicht des Empfängers nicht berechnete geldwerte Vergünstigung. Eine Werbegabe setzt demnach voraus, dass die Zuwendung aus der Sicht des Empfängers unentgeltlich gewährt wird; er muss diese als ein Geschenk ansehen (vgl. BGH, GRUR 2023, 1318 [juris Rn. 26] - Gutscheinwerbung, mwN). Die im Streitfall zu beurteilenden Boni und Prämien erfüllen diese Voraussetzung (dazu oben B II 3).

70cc) Die von der Beklagten in Aussicht gestellten Boni und Prämien unterfallen allerdings nicht der Privilegierung des § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Nr. 1 Halbsatz 1 Fall 2 HWG. Ihr Wert überschreitet jeweils die für Publikumswerbung bei 1 € liegende Schwelle der Geringwertigkeit (vgl. BGH, GRUR 2023, 1318 [juris Rn. 27] - Gutscheinwerbung, mwN).

71dd) Bei den in den angegriffenen Werbemaßnahmen ausgelobten Boni und Prämien, die direkt mit dem Rechnungsbetrag verrechnet werden, handelt es sich jedoch um Zuwendungen einer zahlenmäßig bestimmten Geldsumme, über deren Höhe infolge ihrer Bestimmtheit beim Publikum kein Zweifel aufkommen kann, mithin um Zuwendungen, die im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Nr. 2 Teilsatz 1 Buchst. a HWG in einem bestimmten Geldbetrag gewährt werden (vgl. BGH, GRUR 2023, 1318 [juris Rn. 29] - Gutscheinwerbung, mwN).

72ee) Die von der Beklagten beworbenen Boni und Prämien verstoßen zwar gegen § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Nr. 2 Teilsatz 2 HWG, weil sie entgegen den Preisvorschriften gewährt werden, die aufgrund des Arzneimittelgesetzes gelten (dazu oben B II 3). Dieser Vorbehalt der Einhaltung der Arzneimittelpreisbindung darf aber gegen die Beklagte nicht angewendet werden (dazu oben B III).

73ff) Die beiden streitgegenständlichen Rabattaktionen der Beklagten beziehen sich ausschließlich auf verschreibungspflichtige Arzneimittel und betreffen allein die Entscheidung des Kunden für die Apotheke. Sie fallen daher nicht unter den Begriff "Werbung für Arzneimittel" im Sinne von Art. 86 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (vgl. , GRUR 2025, 424 [juris Rn. 37 bis 42 und 81] = WRP 2025, 583 - Apothekerkammer Nordrhein). Klärungsbedürftige Fragen des Unionsrechts stellen sich mithin auch insoweit nicht (vgl. EuGH, GRUR 2025, 424 [juris Rn. 95] - Apothekerkammer Nordrhein).

74b) Die angegriffene Werbung der Beklagten verstößt auch nicht gegen § 10 HWG.

75aa) Nach § 10 Abs. 1 HWG darf für verschreibungspflichtige Arzneimittel nur bei Ärzten, Zahnärzten, Tierärzten, Apothekern und Personen, die mit diesen Arzneimitteln erlaubterweise Handel treiben, geworben werden. Für in § 10 Abs. 2 HWG näher bezeichnete Arzneimittel darf außerdem außerhalb der Fachkreise nicht geworben werden.

76bb) Die Rabattaktionen der Beklagten beziehen sich ausschließlich auf verschreibungspflichtige Arzneimittel und betreffen daher allein die Auswahlentscheidung des Kunden für eine bestimmte Apotheke (dazu oben Rn. 73). Eine eindeutige und erkennbare Bezugnahme auf ein oder mehrere bestimmte Arzneimittel ist nicht gegeben. Ohne eine solche individualisierende Bezugnahme scheidet aber ein Verstoß gegen § 10 HWG aus (vgl. , GRUR 1983, 393 [juris Rn. 13] = WRP 1983, 393 - Novodigal/temagin; BeckOK.HWG/Doepner/Reese, 14. Edition [Stand ], § 10 Rn. 46 f.).

77C. Danach ist die Klage unter Aufhebung des Urteils des Berufungsgerichts und Abänderung des Urteils erster Instanz abzuweisen. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, weil weitere entgegenstehende Feststellungen nicht zu erwarten sind und die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO). Entgegen der Auffassung des Klägers besteht unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens oder des § 139 ZPO keine Veranlassung für eine Zurückverweisung an das Berufungsgericht. Die unionsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung der als Maßnahme gleicher Wirkung anzusehenden arzneimittelrechtlichen Preisbindung gemäß § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF und das hierfür geltende Beweismaß sind seit der Entscheidung "Deutsche Parkinson Vereinigung" (EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 34 bis 37]) geklärt. Unabhängig von dem Rechtsstandpunkt, den das Berufungsgericht einnehmen würde, hatte ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter deshalb bereits in den vorangegangenen Tatsacheninstanzen hinreichende Veranlassung, zum Bestehen einer Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung durch eine Gefährdung der sicheren und flächendeckenden Arzneimittelversorgung statistische Daten, auf einzelne Punkte beschränkte Daten oder andere Mittel, deren Aussagekraft mit jener von statistischen Daten vergleichbar ist, vorzutragen (vgl. EuGH, GRUR 2016, 1312 [juris Rn. 36] - Deutsche Parkinson Vereinigung).

78Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:170725UIZR74.24.0

Fundstelle(n):
KAAAJ-96019