Leitsatz
Es bestand vor der Einführung von § 62d AufenthG mit Wirkung zum keine aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens folgende allgemeine Pflicht des Gerichts, den Betroffenen über sein Recht zu belehren, einen Bevollmächtigten zur Anhörung hinzuzuziehen.
Gesetze: Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 420 Abs 1 S 1 FamFG, § 62d AufenthG
Instanzenzug: LG Heilbronn Az: Bö 1 T 223/23vorgehend AG Heilbronn Az: A XIV 1102/23 B
Gründe
1I. Der Betroffene, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste zuletzt im September 2018 nach Deutschland ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte seinen Asylantrag im Mai 2019 ab und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Der Bescheid ist seit dem September 2021 bestandskräftig. Der Betroffene sollte am während einer - zwei Familienangehörige betreffenden - Polizeimaßnahme festgenommen und am abgeschoben werden. Die Festnahme der beiden Familienmitglieder, deren Abschiebung für den vorgesehen war, sollte mit Unterstützung von Einsatzgruppen des Spezialeinsatzkommandos sowie der Beweissicherung- und Festnahmeeinheit erfolgen.
2Auf Antrag der beteiligten Behörde ordnete das Amtsgericht gegen den Betroffenen zunächst im Wege der einstweiligen Anordnung vom 18. bis Ausreisegewahrsam an. Auf weiteren Antrag hat es Ausreisegewahrsam bis angeordnet. Die noch auf Feststellung der Rechtsverletzung gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene seinen Feststellungsantrag weiter.
3II. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.
41. Das Beschwerdegericht hat - soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren von Bedeutung - ausgeführt, das Amtsgericht habe nicht gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen. Der Haftrichter sei nicht gehalten, den Betroffenen von sich aus darüber zu belehren, dass er einen Rechtsanwalt hinzuziehen könne. Das Amtsgericht habe auch das ihm nach § 62b Abs. 1 AufenthG zustehende Ermessen pflichtgemäß ausgeübt. Ermessensfehler seien nicht ersichtlich. Die notwendige Gesamtwürdigung der Umstände habe ergeben, dass die Anordnung des Ausreisegewahrsams geboten sei.
52. Dies hält rechtlicher Nachprüfung stand. Die nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet.
6a) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat das Amtsgericht nicht gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen, weil es den Betroffenen nicht über sein Recht belehrt hat, einen Rechtsanwalt zur Anhörung hinzuzuziehen.
7aa) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen. Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser vom Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen. Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf diesem Fehler beruht (st. Rspr.; vgl. zum Ganzen , juris Rn. 8 mwN).
8bb) Diesen Anforderungen hat die Verfahrensweise des Amtsgerichts entsprochen. Der Betroffene hatte weder einen Rechtsanwalt noch hat er den Wunsch geäußert, einen Rechtsanwalt zur Anhörung hinzuziehen. Zu Recht hat das Landgericht angenommen, dass aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens nach der hier maßgeblichen Rechtslage vor Einführung des mit Wirkung zum in das Aufenthaltsgesetz eingefügten § 62d AufenthG keine allgemeine Belehrungspflicht des Gerichts abzuleiten war. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens besteht nur, wenn das Gericht die Teilnahme eines Bevollmächtigten an der Anhörung vereitelt. Der Betroffene muss daher angeben, dass er einen Bevollmächtigten hat oder die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts wünscht (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XIII ZB 13/19, juris Rn. 1; vom - XIII ZB 22/21, NVwZ-RR 2022, 883 Rn. 7). Auch die Rechtsbeschwerde geht davon aus, dass das hier nicht der Fall war. Eine Pflicht zur Nachfrage des Gerichts besteht nur dann, wenn die Erklärung oder das Verhalten des Betroffen nicht eindeutig ist. In dieser Situation muss das Gericht den Willen des Betroffenen aufklären (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XIII ZB 123/19, InfAuslR 2021, 242 Rn. 11, 13; vom - XIII ZB 51/23, juris Rn. 7). Dabei kann bei der Beurteilung, ob es den Willen des Betroffenen in ausreichendem Maß ermittelt hat, auch darauf abzustellen sein, ob zuvor eine Belehrung erfolgt ist. Unterbleibt eine Aufklärung, kann das Gericht aus der weiteren Teilnahme des Betroffenen an der Anhörung nicht auf einen Verzicht schließen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XIII ZB 22/21, NVwZ-RR 883 Rn. 7; vom - XIII ZB 34/21, juris Rn. 6; vom - XIII ZB 38/21, juris Rn. 10; vom - XIII ZB 91/22, juris Rn. 6 f.; vom - XIII ZB 75/22, juris Rn. 12).
9b) Die Rüge der Rechtsbeschwerde, die Anordnung des Ausreisegewahrsams leide an einem Ermessensausfall oder sei aber jedenfalls ermessensfehlerhaft, hat keinen Erfolg. Das Amtsgericht hat sowohl erkannt, dass ihm gemäß § 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG ein Ermessen zusteht, als auch insoweit ausreichende Erwägungen angestellt.
10aa) Gemäß § 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der bis zum geltenden Fassung (im Folgenden: aF) kann ein Ausländer unabhängig von den Voraussetzungen der Sicherungshaft gemäß § 62 Abs. 3 AufenthG für die Dauer von längstens zehn Tagen in Gewahrsam genommen werden, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist, feststeht, dass die Abschiebung innerhalb dieser Frist durchgeführt werden kann und der Ausländer ein Verhalten gezeigt hat, das erwarten lässt, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln wird. Der Haftrichter ist beim Vorliegen dieser Voraussetzungen allerdings nicht verpflichtet, Ausreisegewahrsam anzuordnen. Die Anordnung steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen (BGH, InfAuslR 2021, 339 Rn. 23; Beschluss vom - XIII ZB 88/20, juris Rn. 10, jeweils mwN). Sie ist deshalb nur rechtmäßig, wenn der Haftrichter nicht nur das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 62b AufenthG festgestellt, sondern auch sein Anordnungsermessen pflichtgemäß ausgeübt und eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung vorgenommen hat. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe sind - wenn auch in knapper Form - in der Entscheidung darzulegen (§ 38 Abs. 3 Satz 1 FamFG). Das Rechtsbeschwerdegericht hat zu überprüfen, ob eine solche Ermessensentscheidung stattgefunden hat und ob sie fehlerfrei - insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - erfolgt ist (BGH, Beschlüsse vom - V ZB 221/11, InfAuslR 2012, 189 Rn. 4; vom - XIII ZB 50/20, InfAuslR 2021, 339 Rn. 23; vom - XIII ZB 7/21, juris Rn. 10).
11bb) Dieser Überprüfung halten die Ausführungen des Amtsgerichts stand.
12(1) Das Amtsgericht hat die Voraussetzungen des § 62d Abs. 1 Satz 1 AufenhG aF bejaht und festgestellt, dass die Ausreisefrist abgelaufen ist (Nr. 1), die Abschiebung innerhalb der Frist von zehn Tagen nach § 62d Abs. 1 Satz 1 AufenthG aF durchgeführt werden kann (Nr. 2) und die Vermutungsregel des § 62d Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. d AufenthG eingreift, weil die Frist zur Ausreise um mehr als 30 Tage - nämlich mehr als zwei Jahre - überschritten ist. Es hat außerdem die Rückausnahme des § 62d Abs. 1 Satz 2 AufenthG verneint und angenommen, es sei weder glaubhaft gemacht noch offensichtlich, dass der Betroffene sich der Abschiebung nicht entziehen wolle, zumal er seine kleinen Geschwister nicht verlassen zu können glaube. Schließlich hat es auf den Beschluss vom Bezug genommen, mit dem der Ausreisegewahrsam bis einstweilen angeordnet worden war und sich die dortigen Ausführungen zu eigen gemacht, in der das Überwiegen des staatlichen Interesses an der Freiheitsentziehung gegenüber dem Interesse des Betroffenen an seiner Freiheit im Einzelnen begründet wird. Daraus geht hinreichend hervor, dass das Amtsgericht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet und seiner Bedeutung für die Ermessensausübung Rechnung getragen hat. Es hat außerdem im Beschluss vom nach Anhörung des Betroffenen zu seinen persönlichen Umständen in die Abwägung die Dauer der vollziehbaren Ausreisepflicht sowie die strafrechtliche Auffälligkeit des Betroffenen im Zusammenhang mit dem Verändern von amtlichen Ausweisen eingestellt, daraus geschlossen, dass der Betroffene die Ausreise voraussichtlich erschweren oder vereiteln werde, und deshalb die Haft für erforderlich gehalten. Das Gericht hat bei seiner Entscheidung zudem berücksichtigt, dass der Abschiebungstermin mit dem unmittelbar bevorstand und mildere Mittel zur Sicherstellung der Abschiebung nicht ersichtlich seien.
13(2) Die Abwägung erweist sich nicht als ermessenfehlerhaft. Auch nach dem Vortrag der Rechtsbeschwerde ist kein relevanter Umstand erkennbar, der einer eingehenden Würdigung bedurft hätte, weil die bei der Anhörung vom Haftrichter zur Kenntnis genommenen persönlichen Verhältnisse des Betroffenen - auch die von der Rechtsbeschwerde angesprochene Berufstätigkeit - vor dem Hintergrund, dass dieser ausdrücklich erklärt hat, er werde nicht freiwillig ausreisen, keine Bedeutung zu erlangen vermochten.
14(3) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde bedeutet es keinen Ermessensfehler, dass das Amtsgericht die Verurteilung des Betroffenen wegen Veränderns von amtlichen Ausweisen zu einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen in die Abwägung eingestellt hat. Die von der Rechtsbeschwerde in Bezug genommene Vermutungsregelung des § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. c AufenthG, nach der auf Tatbestandsebene Geldstrafen unter 50 Tagessätzen außer Betracht bleiben, bedeutet nicht, dass innerhalb der Ermessensausübung entsprechende Verurteilungen keine Berücksichtigung finden dürften.
15(4) Schließlich musste das Amtsgericht - anders als die Rechtsbeschwerde meint - nicht in seine Abwägung einbeziehen, dass der Betroffene am lediglich deshalb in Haft genommen wurde, weil die antragstellende Behörde an diesem Tag die Abschiebung eines Bruders und eines Cousins betrieb. Für die Frage der Verhältnismäßigkeit des aus Anlass der Inhaftnahme weiterer Personen für erforderlich gehaltenen Ausreisegewahrsams ist allein maßgeblich, ob bei der gebotenen Ermessensausübung der Gewahrsam des Betroffenen zur Sicherung seiner Abschiebung erforderlich ist. In diesem Sinn ist im in der gegenständlichen Entscheidung in Bezug genommenen Beschluss der einstweiligen Anordnung angeführt, ohne Ausreisegewahrsam sei zu erwarten, dass der Betroffene die Abschiebung wesentlich erschweren oder vereiteln werde und mildere Mittel - wie eine Meldeauflage - nicht gleichermaßen erfolgversprechend seien.
16c) Einer gesonderten Begründung der Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des Beschlusses nach § 422 Abs. 2 FamFG bedurfte es nicht. Die Anordnung ist in der Regel geboten, weil bei Vorliegen eines Hafttatbestands ansonsten der Zweck der Freiheitsentziehung verfehlt würde (, juris Rn. 14). Die insoweit anzustellenden Erwägungen unterscheiden sich im Übrigen nicht von denen, die den Ausreisegewahrsam rechtfertigen.
17III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
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Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:170625BXIIIZB7.24.0
Fundstelle(n):
NJW 2025 S. 10 Nr. 29
MAAAJ-94378