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BVerfG Urteil v. - 2 BvR 280/22

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Rechtsschutzinteresse für Beschwerde gegen Fortdaueranordnung im Maßregelvollzug auch nach Beendigung des Freiheitsentzugs infolge Abschiebung - hier: Verletzung des Rechtsschutzanspruchs (Art 19 Abs 4 GG) durch ungerechtfertigte Erledigtentscheidung in einer Maßregelvollstreckungssache - Rechtsschutzinteresse für vergangenheitsbezogene Prüfung der Rechtmäßigkeit der Unterbringung auch noch nach Absehen von der weiteren Vollstreckung gem § 456a StPO

Gesetze: Art 19 Abs 4 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 67e StGB, § 311 StPO, § 456a Abs 1 StPO, § 456a Abs 2 StPO

Instanzenzug: Az: Ws 490/21 Beschlussvorgehend LG Regensburg Az: SR StVK 346/09 Beschluss

Gründe

A.

1Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der während der Fortdauerüberprüfung abgeschobene Beschwerdeführer gegen die Erledigterklärung der sofortigen Beschwerde im Beschwerdeverfahren über die Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung.

I.

21. Der einschlägig vorbestrafte Beschwerdeführer ist rumänischer Staatsangehöriger und wurde im Februar 1996 mit Urteil des Landgerichts München I von den Tatvorwürfen der gefährlichen Körperverletzung in neun Fällen, der vorsätzlichen Körperverletzung in sechs Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Bedrohung, ferner in jeweils einem Fall der Nötigung, der sexuellen Nötigung und der ausbeuterischen und dirigierenden Zuhälterei freigesprochen. Gleichzeitig wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Der Beschwerdeführer hatte seine Ehefrau in den Jahren 1991 bis 1995 vielfach - auch sexuell - misshandelt. Ab 1995 zwang er sie außerdem, der Prostitution nachzugehen, wobei er sie überwachte und sämtliche Einkünfte für sich vereinnahmte. Zudem hatte er seine Schwägerin ebenfalls schwer misshandelt.

3Zur Begründung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus führte das sachverständig beratene Landgericht aus, dass sich aufgrund seiner wahnhaften Eifersucht und den deutlichen Merkmalen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie der Art und Zahl der Taten abzuleiten sei, dass vom Beschwerdeführer künftig erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei. Nach Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus durch Beschluss des Landgerichts Paderborn vom ordnete das Landgericht München I mit Urteil vom die nachträgliche Sicherungsverwahrung zulasten des Beschwerdeführers an, die im Weiteren vollzogen wurde.

42. Mit Beschluss vom ordnete das Landgericht Regensburg - auswärtige Strafvollstreckungskammer bei dem Amtsgericht Straubing - (im Folgenden: Landgericht) nach Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt Straubing und der Staatsanwaltschaft München I sowie nach mündlicher Anhörung des Beschwerdeführers an, dass die Sicherungsverwahrung weiter zu vollziehen sei und die Unterbringung weder für erledigt erklärt noch zur Bewährung ausgesetzt werde.

5Hiergegen legte der Beschwerdeführer am sofortige Beschwerde zum Oberlandesgericht Nürnberg (im Folgenden: Oberlandesgericht) ein.

63. Im August 2021 erging die zuvor schon mehrfach vom Beschwerdeführer beantragte Verfügung der Staatsanwaltschaft München I, von der weiteren Vollstreckung der Sicherungsverwahrung im Falle einer Abschiebung gemäß § 456a Abs. 1 und 2 StPO abzusehen. Dementsprechend wurde der Beschwerdeführer am nach Rumänien abgeschoben.

74. Daraufhin erteilte das Oberlandesgericht den Hinweis, dass hinsichtlich der sofortigen Beschwerde vom möglicherweise Erledigung durch prozessuale Überholung eingetreten sei. Der Beschwerdeführer erwiderte, dass durch das Absehen von der weiteren Vollstreckung keine prozessuale Überholung und keine Erledigung eingetreten sei. Das Absehen von der Vollstreckung nach § 456a StPO bleibe hinter dem Rechtsschutzziel der sofortigen Beschwerde, das nach § 67e StGB in der Beendigung der Unterbringung liege, zurück. Daher sei er nach wie vor gegenwärtig und fortdauernd beschwert. Auch sprächen die Prozessökonomie und der fortbestehende tiefgreifende Grundrechtseingriff für eine Entscheidung in der Sache durch das Beschwerdegericht. Sein Rechtsschutzziel gehe über das bereits erreichte Absehen von der Vollstreckung hinaus.

85. Mit angegriffenem Beschluss vom erklärte das Oberlandesgericht die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers für erledigt. Es sei Erledigung durch prozessuale Überholung eingetreten. Dies führe dazu, dass das Gericht nur noch den Eintritt der Erledigung ausspreche und eine Entscheidung in der Sache über die sofortige Beschwerde nicht mehr ergehe. Der Beschwerdeführer habe sein eigenes Ziel des Absehens der weiteren Strafvollstreckung mit der Abschiebung erreicht und befinde sich in Freiheit. Sollte er erneut in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und die aktuell ausgesetzte Vollstreckung zu einer weiteren Unterbringung in der Sicherungsverwahrung führen, stünden ihm zu gegebener Zeit ausreichend Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung. Bei dieser Sachlage bestehe "keine grundrechtsrelevante Situation, welche die Fortführung einer prozessual nicht mehr notwendigen Prüfung gebieten würde", so das Oberlandesgericht.

II.

9Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer sieht sich durch den angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts in seinem Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem Prinzip des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG sowie durch den angegriffenen Beschluss des Landgerichts in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG sowie in dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, in der Menschenwürde aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, im Gleichbehandlungsgebot gemäß Art. 3 Abs. 1 GG sowie in den Art. 5 und 7 der EMRK und den Grundrechten der EU-Grundrechtecharta verletzt. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde stehe nicht entgegen, dass die Staatsanwaltschaft München I von der Vollstreckung der Fortdauer der Maßregel gemäß § 456a StPO abgesehen habe. Denn die angegriffenen Entscheidungen seien Grundlage eines tiefgreifenden Eingriffs in die Grundrechte des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer habe daher ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer verfassungsrechtlichen Überprüfung und einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieses Grundrechtseingriffs durch das Bundesverfassungsgericht.

III.

101. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Es führt insbesondere aus, der Beschwerdeführer sei nicht in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt. Das Oberlandesgericht sei in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gekommen, dass die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers erledigt gewesen sei. Der Beschwerdeführer sei durch die ursprüngliche Anordnung der Sicherungsverwahrung sowie die im Laufe der Zeit ergangenen Fortdauerbeschlüsse gegenwärtig nicht mehr beschwert. Er verkenne, dass der nicht in Rechtskraft erwachsen sei. Selbst bei unterstellter rechtsfehlerhafter Feststellung der Erledigung der sofortigen Beschwerde durch das Oberlandesgericht habe der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf die begehrte Erledigterklärung der Unterbringung. Angesichts seiner Abschiebung und der damit einhergehenden Erledigung der angegriffenen Maßnahme, könne lediglich die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der landgerichtlichen Entscheidung festgestellt, nicht jedoch die Maßregel für erledigt erklärt werden. Der Beschwerdeführer habe neben dem Umstand, dass er die Aufhebung und nicht die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse begehrt habe, auch kein besonderes schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit geltend gemacht. Ein solches Feststellungsinteresse aufgrund tiefgreifendem Grundrechtseingriff liege auch nicht vor. Anders als in den typischen Fällen einer Freiheitsentziehung sei diese im Fall des Beschwerdeführers regelmäßig überprüft worden. Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts, dass die Maßregel des seit über zehn Jahren in Sicherungsverwahrung untergebrachten Beschwerdeführers fortdauere, sei nicht geeignet gewesen, sein Ansehen in mehr als allenfalls geringfügigem Maße herabzusetzen.

112. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof ist der Auffassung, dass der oberlandesgerichtliche Beschluss das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG verletze. Das Beschwerdeverfahren hinsichtlich der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung beschränke sich nicht auf die zukunftsgerichtete Entscheidung über die weitere Vollstreckung, sondern enthalte zugleich eine retrospektive Kontrolle der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer. Trotz der Erledigung des zukunftsgerichteten Begehrens wegen mittlerweile erfolgten Absehens von der weiteren Vollstreckung gemäß § 456a StPO habe das Rechtsschutzinteresse der retrospektiven Kontrolle der Freiheitsentziehung durch weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung vom bis zur Abschiebung am auf Grundlage des fortbestanden. Auch diese Kontrolle obliege zuvörderst den Fachgerichten. Der Beschwerdeführer dürfe nicht darauf verwiesen werden, effektiven Grundrechtsschutz erst und nur im Wege der Verfassungsbeschwerde einzufordern. Das Oberlandesgericht habe demnach von einer Entscheidung in der Sache nicht gänzlich absehen dürfen.

123. Dem Bundesverfassungsgericht hat der letzte Band des Vollstreckungshefts vorgelegen.

B.

13Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang statt. Sie ist zu dieser Entscheidung berufen, weil die zur Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93b Satz 1 BVerfGG).

14Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Insoweit wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG von einer Begründung abgesehen.

I.

15Der angegriffene oberlandesgerichtliche Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG.

161. Die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts, mit der dieses die sofortige Beschwerde für erledigt erklärt hat, ist zulässig. Der Zulässigkeit steht insbesondere eine prozessuale Überholung nicht entgegen. Das Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers ist durch seine Abschiebung nach Rumänien nicht vollständig entfallen (vgl. BVerfGE 104, 220 <231>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2874/10 -, Rn. 12). Angesichts des mit der Freiheitsentziehung erlittenen Eingriffs in das besonders bedeutsame Freiheitsgrundrecht besteht ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme auch nach deren Erledigung fort (vgl. BVerfGE 10, 302 <308>; 74, 102 <115>; 76, 363 <381>).

172. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet, soweit der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes durch den angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts geltend macht.

18a) Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 96, 27 <39>; stRspr). Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes wird in erster Linie von den Prozessordnungen gesichert. Sie treffen Vorkehrungen dafür, dass der Einzelne seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann und die Folgen staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne gerichtliche Prüfung zu tragen hat (vgl. BVerfGE 94, 166 <213>; 96, 27 <39>). Dabei fordert Art. 19 Abs. 4 GG zwar keinen Instanzenzug (vgl. BVerfGE 49, 329 <343>; 83, 24 <31>; 87, 48 <61>; 92, 365 <410>; 96, 27 <39>; stRspr). Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 10, 302 <308>; 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>; 65, 76 <90>; 96, 27 <39>; stRspr). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen (vgl. BVerfGE 78, 88 <98 f.>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231 f.>).

19Mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, ist es grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem vorhandenen und fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>). Ein Rechtsschutzinteresse ist zu bejahen, solange der Rechtsschutzsuchende gegenwärtig betroffen ist und mit seinem Rechtsmittel ein konkretes praktisches Ziel erreichen kann. Danach ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte bei Erledigung des Verfahrensgegenstandes einen Fortfall des Rechtsschutzinteresses annehmen. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht, dass die Gerichte generell auch dann noch weiter in Anspruch genommen werden können, um Auskunft über die Rechtslage zu erhalten, wenn damit nichts mehr bewirkt werden kann (vgl. BVerfGE 104, 220 <232>). Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist. Insofern entfällt das Rechtsschutzinteresse nicht, wohl aber ändert sich der Prozessgegenstand. Es ist allgemein anerkannt, dass ein Rechtsschutzinteresse fortbesteht, wenn das gerichtliche Verfahren dazu dienen kann, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>). Darüber hinaus kommt ein trotz Erledigung fortbestehendes Rechtsschutzinteresse in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe in Betracht. Hierunter fallen vornehmlich solche, die schon das Grundgesetz - wie in den Fällen der Art. 13 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 und 3 - unter Richtervorbehalt gestellt hat (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220 <233>). Im Bereich der Fortdaueranordnung im Maßregelvollzug kommt hiernach ein Rechtsschutzinteresse trotz prozessualer Überholung etwa bei Beendigung des Freiheitsentzugs infolge einer Abschiebung in Betracht (vgl. BVerfGE 104, 220 <232 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2292/00 -, Rn. 20; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2874/10 -, Rn. 12).

20Das Recht auf Freiheit der Person hat unter den grundrechtlich verbürgten Rechten einen besonders hohen Rang (vgl. BVerfGE 32, 87 <92>; 65, 317 <322>). Jede Inhaftierung oder Unterbringung greift in schwerwiegender Weise in dieses Recht ein. Schon dies lässt in aller Regel auch nach Erledigung des Eingriffs ein Interesse des Betroffenen an - nachträglicher - Feststellung der Rechtswidrigkeit als schutzwürdig erscheinen (vgl. BVerfGE 128, 326 <389>). Es kommt hinzu, dass ein Rechtsschutzinteresse für eine (nachträgliche) Feststellung der Rechtswidrigkeit, dem im Rahmen von Art. 19 Abs. 4 GG Rechnung zu tragen ist, anerkanntermaßen auch aus dem diskriminierenden Charakter einer Maßnahme folgen kann. Ein Freiheitsverlust durch Inhaftierung indiziert ein Rehabilitierungsinteresse. Eingriffe in die körperliche Bewegungsfreiheit, mit denen der Staat auf festgestelltes, begründeterweise vermutetes oder zu besorgendes rechtswidriges Verhalten des Einzelnen reagiert, berühren den davon Betroffenen, auch wenn sie nicht mit einer strafrechtlichen Unwerterklärung verbunden sind, im Kern seiner Persönlichkeit (vgl. BVerfGE 104, 220 <234 f.>).

21Besteht hiernach bei Freiheitsentziehungen durch Haft oder Maßregelvollzug ein schutzwürdiges Interesse an der (nachträglichen) Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit auch dann, wenn sie erledigt sind, so müssen die Fachgerichte dies bei Beantwortung der Frage nach einem Rechtsschutzinteresse gemäß Art. 19 Abs. 4 GG beachten. Nach der Funktionenteilung zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit obliegt es zuvörderst den Fachgerichten, die Grundrechte zu wahren und durchzusetzen (vgl. BVerfGE 47, 182 <191>; 49, 252 <258>; 63, 77 <79>; 73, 322 <327>; 96, 27 <40>; stRspr). Ein Beschwerdeführer, der von einer Haftanordnung schwerwiegend im Schutzbereich seines Freiheitsgrundrechts betroffen ist, darf nicht darauf verwiesen werden, erst und nur im Wege der Verfassungsbeschwerde effektiven Grundrechtsschutz einzufordern, sofern das Prozessrecht eine weitere fachgerichtliche Instanz eröffnet (vgl. BVerfGE 104, 220 <235 f.>).

22b) Diesen Maßstäben genügt der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts nicht. Der Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in der subjektiv-rechtlich garantierten Rechtskontrolle aus Art. 19 Abs. 4 GG.

23Das Oberlandesgericht verweigert dem Beschwerdeführer durch die Erledigterklärung der sofortigen Beschwerde wegen prozessualer Überholung nicht nur die in die Zukunft gerichtete Aufhebung der Unterbringung, sondern auch die in die Vergangenheit gerichtete Kontrolle der Freiheitsentziehung. Dabei verfängt vor allem die Begründung des Oberlandesgerichts mit Blick auf eine behauptete tiefgreifende Grundrechtsverletzung nicht. Gemäß § 311 StPO ist die sofortige Beschwerde gegen die Fortdauerentscheidung einer Anordnung der Sicherungsverwahrung statthaft. Die Zulässigkeit dieses Rechtsmittels war von dem angerufenen Fachgericht unter Beachtung der dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen zu beurteilen. Danach genügt es für eine Erledigterklärung der sofortigen Beschwerde nicht, dass sich die Fortdaueranordnung durch den Vollzug der Abschiebung des Beschwerdeführers nach Rumänien bis zu dessen potentieller erneuter Einreise erledigt hat. Vielmehr hätte das Beschwerdegericht mit Blick auf den Freiheitsentzug des Beschwerdeführers bis zur Abschiebung prüfen müssen, ob durch die landgerichtliche Fortdauerentscheidung der Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht verletzt worden ist. Diesem Interesse haben mit Rücksicht auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde vorrangig die zuständigen Fachgerichte zu genügen. Der Beschwerdeführer hat ein Recht auf verfassungsrechtliche Klärung, ob ihn die Fortdauerentscheidung und die damit verbundene bis zum fortbestandene Freiheitsentziehung in seinen Grundrechten verletzt hat (vgl. BVerfGE 10, 302 <308>; 104, 220 <231>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2874/10 -, Rn. 12). Indem das Oberlandesgericht bei der Prüfung eines tiefgreifenden Grundrechtseingriffs nur in die Zukunft gerichtete Möglichkeiten rechtzeitiger Einwendungen im Fall einer erneuten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung erwägt, sich aber nicht mit einer etwaigen Grundrechtsverletzung des Beschwerdeführers bis zu dessen Abschiebung auseinandersetzt, verkennt es die Bedeutung des Freiheitsgrundrechts. Wegen des Gewichts des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht, das den Unterbringungen im Maßregelvollzug innewohnt, war das Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses regelmäßig - wie hier - zu bejahen und eine Prüfung einer Grundrechtsverletzung auch nach Erledigung der Maßnahme geboten. Insbesondere ist entgegen der Auffassung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz das Rehabilitationsinteresse für diesen Zeitraum nicht deshalb als geringfügig anzusehen, weil sich der Beschwerdeführer schon seit langer Zeit in Sicherungsverwahrung befand.

II.

241. Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist festzustellen, dass der angegriffene - den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Der Beschluss ist daher aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

25Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG und die Entscheidung über die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20250507.2bvr028022

Fundstelle(n):
ZAAAJ-92223