Leitsatz
Zur Reichweite der gerichtlichen Anordnung der audiovisuellen Vernehmung eines Zeugen.
Gesetze: § 247a Abs 1 S 1 StPO
Instanzenzug: Az: 617 KLs 27/21 jug
Gründe
1Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen Vergewaltigung der Nebenklägerin, dabei teilweise wegen Vergewaltigung unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage, schuldig gesprochen und gegen sie Jugendstrafen mit einer Dauer zwischen einem Jahr und zwei Jahren und neun Monaten verhängt. Die Vollstreckung der Jugendstrafen hat es teilweise zur Bewährung ausgesetzt, in weiteren Fällen hat es die Entscheidung hierüber gemäß § 61 Abs. 1 JGG einem nachträglichen Beschluss vorbehalten. Die mit Sachrügen und zum Teil auch mit Verfahrensbeanstandungen geführten Revisionen der Angeklagten erweisen sich insgesamt als unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
21. Die jeweils auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat keinen die Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben. Die nur vom Angeklagten Na. erhobene Verfahrensrüge ist nicht weiter ausgeführt und daher unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
32. Näherer Erörterung bedarf allein die vom Angeklagten N. erhobene Verfahrensrüge, mit welcher er die Verletzung der Vorschrift des § 247a Abs. 1 Satz 1 StPO rügt.
4a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Am ordnete die Jugendkammer außerhalb der Hauptverhandlung die audiovisuelle Vernehmung der zur Tatzeit 15 Jahre alten Nebenklägerin gemäß § 247a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StPO an. Zur Begründung des Beschlusses führte das Gericht aus, dass die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl der Nebenklägerin bestehe, wenn sie in Gegenwart der in der Hauptverhandlung Anwesenden vernommen würde. Nach vorläufiger Einschätzung sei hochwahrscheinlich, dass sie seit dem Tatgeschehen unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, weswegen die Gefahr einer Retraumatisierung und einer Verstärkung der bereits vorhandenen Störungssymptome bei einer Vernehmung über das Tatgeschehen in einem Sitzungssaal mit rund 60 Personen groß sei. Die Jugendkammer übe daher ihr pflichtgemäßes Ermessen dahin aus, dass die audiovisuelle Vernehmung angeordnet werde. Ab dem wurde die Nebenklägerin an mehreren Sitzungstagen als Zeugin audiovisuell vernommen und schließlich am unvereidigt entlassen. Am , dem 53. Hauptverhandlungstag, wurde sie erneut audiovisuell vernommen und bekundete weiter zur Sache.
5b) Die Revision sieht hierin eine Verletzung der Vorschrift des § 247a Abs. 1 Satz 1 StPO – es fehle an einem die audiovisuelle Vernehmung anordnenden Beschluss. Der von der Jugendkammer außerhalb der Hauptverhandlung und damit ohne die beiden Jugendschöffen gefasste Beschluss sei unzureichend, da § 247a Abs. 1 StPO eine Beschlussfassung in der Hauptverhandlung durch den gesamten Spruchkörper erfordere. Jedenfalls aber könne der nur von den Berufsrichtern gefasste Beschluss die zweite audiovisuelle Vernehmung am nicht rechtfertigen, da die Nebenklägerin nach ihrer ersten Vernehmung im Oktober 2022 als Zeugin entlassen worden sei. Hierbei habe es sich nicht um eine „zusammenhängende“, sondern um eine eigenständige neue Vernehmung gehandelt, weshalb sich die Jugendkammer erneut mit den Voraussetzungen des § 247a Abs. 1 StPO habe auseinandersetzen und einen Beschluss fassen müssen.
6c) Die Verfahrensrüge ist zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Zwar verhält sich die Revisionsbegründung nicht zu der Frage, ob die Nebenklägerin auch im Termin am zur Sache aussagte. Dies folgt jedoch aus den hier notwendig zur Ergänzung des Rügevortrags heranzuziehenden Urteilsausführungen (vgl. , NStZ 2008, 421). Diesen ist zudem zu entnehmen, dass das Landgericht die Aussage aus der audiovisuellen Vernehmung auch verwertet hat.
7d) Die Rüge ist unbegründet. Die audiovisuelle Vernehmung der Nebenklägerin nach § 247a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StPO wurde durch den Gerichtsbeschluss vom wirksam angeordnet (zu dessen Erforderlichkeit und notwendigem Inhalt vgl. , NStZ-RR 2018, 118). Dieser Beschluss entfaltete Wirkung für alle während der Hauptverhandlung durchgeführten Vernehmungen der Nebenklägerin.
8Dabei ist zunächst unschädlich, dass die Jugendkammer den Beschluss vom außerhalb der Hauptverhandlung und damit ohne Mitwirkung der Jugendschöffen fasste. Denn es besteht keine gesetzliche Regelung, wonach über die Anordnung nach § 247a StPO zwingend in der Gerichtsbesetzung der Hauptverhandlung zu entscheiden wäre ().
9Der Beschluss galt zudem für die gesamte Hauptverhandlung und deckte daher auch die erneute Vernehmung der Nebenklägerin am . Die Entlassung der Zeugin nach ihrer ersten Einvernahme (§ 248 StPO) führte entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers nicht dazu, dass für die zweite Vernehmung abermals ein Beschluss gemäß § 247a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StPO zu fassen gewesen wäre.
10aa) Die Jugendkammer hat in ihrem Beschluss nicht auf einzelne Vernehmungstage abgestellt, sondern allgemein angeordnet, dass sich die Nebenklägerin „während ihrer Vernehmung“ außerhalb des Sitzungszimmers aufhalten solle und ihre Aussage in Bild und Ton in das Sitzungszimmer zu übertragen sei. Der Beschluss erfasste damit seinem Wortlaut nach jegliche Zeugeneinvernahme der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung und damit auch diejenige am .
11bb) Durch § 247a Abs. 1 Satz 1 StPO wurde ein solches Vorgehen ermöglicht.
12Die durch das Gesetz zum Schutz von Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren und zur Verbesserung des Opferschutzes (Zeugenschutzgesetz) vom (BGBl. I S. 820) in die Strafprozessordnung eingefügte Vorschrift sieht im Interesse einer schonenden Vernehmung besonders schutzbedürftiger Zeugen (vgl. BT-Drucks. 13/7165, S. 1) und im Interesse der Wahrheitsfindung eine Ausnahme von der Pflicht des Zeugen vor, in der Hauptverhandlung persönlich zu erscheinen und unmittelbar im Sitzungssaal vor den Verfahrensbeteiligten auszusagen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 247a Rn. 1). Sie erstreckt dazu den Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) auf den Raum, in dem der Zeuge vernommen wird und die dort anwesenden Personen, ihre Bekundungen, ihr Verhalten und ihr Erscheinungsbild (LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 247a Rn. 4). Die Norm fokussiert also nicht etwa einzelne Prozesshandlungen oder Verfahrensabschnitte, sondern ein bestimmtes Beweismittel, und modifiziert allein die Art und Weise seiner Einführung in die Hauptverhandlung.
13In Übereinstimmung mit diesem Regelungsgehalt stellt der Wortlaut des § 247a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StPO nicht auf einzelne Vernehmungen oder Vernehmungsteile ab; die Regelung bezieht sich vielmehr allgemein auf den Umgang mit dem schutzbedürftigen Beweismittel. Eine begrenzte zeitliche Wirkung eines einmal gefassten Beschlusses, beispielsweise auch hinsichtlich einzelner Vernehmungstage, lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen.
14Gemessen hieran spricht nichts für eine Notwendigkeit, in jedem Fall der erneuten Einvernahme eines Zeugen und unabhängig davon, ob zwischenzeitliche Änderungen eine Überprüfung der Voraussetzungen des § 247a Abs. 1 Satz 1 StPO nahelegen, nochmals gesondert über die Durchführung einer audiovisuellen Vernehmung zu beschließen. Nachdem die Vorschrift eine entsprechende Anordnung des Gerichts sogar schon vor Beginn der Hauptverhandlung zulässt (), erschiene es vielmehr zweckwidrig, wenn die Anordnung nicht für sämtliche in der Hauptverhandlung anfallende Vernehmungen eines Zeugen getroffen werden könnte. Das gilt umso mehr, als das Gericht dabei vom Regelfall einer einmaligen Einvernahme ausgehen kann und eine ausnahmsweise im Verlauf der Hauptverhandlung auftretende Notwendigkeit einer erneuten Ladung und Vernehmung des Zeugen typischerweise keine Änderung hinsichtlich der Voraussetzungen des § 247a Abs. 1 Satz 1 StPO nahelegen wird.
15Die Verteidigungsrechte von Angeklagten werden durch dieses Auslegungsergebnis nicht eingeschränkt. Das Gericht ist in der Hauptverhandlung an seine frühere Entscheidung nicht gebunden und kann sie jederzeit ändern, insbesondere auf entsprechenden Antrag eines Angeklagten (vgl. ).
16cc) Insoweit ist die Situation einer zweiten Vernehmung nach Entlassung des Zeugen in den Fällen des § 247a StPO eine andere als in den Fällen, in denen während der Vernehmungen gemäß § 247 Abs. 1 StPO der Angeklagte aus dem Sitzungszimmer entfernt oder gemäß §§ 171b f. GVG die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird.
17So ist der Begriff der Vernehmung im Regelungszusammenhang der §§ 247 und 248 StPO aufgrund der hohen Bedeutung der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung, die objektiv der Wahrheitsfindung dient und als Anspruch auf rechtliches Gehör und angemessene Verteidigung durch Art. 103 Abs. 1 GG sowie durch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK garantiert wird, restriktiv auszulegen. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ist der mit einem Ausschluss zwangsläufig verbundene Eingriff in die Autonomie des Angeklagten auf solche Verfahrenshandlungen zu beschränken, bei denen der jeweilige Schutzzweck den Ausschluss unbedingt erfordert (, BGHSt 55, 87). Hieraus sowie aus dem Erfordernis einer substantiierten Begründung (vgl. hierzu , NStZ 2015, 103) wird gefolgert, dass in dem erforderlichen Gerichtsbeschluss eindeutig festzulegen ist, für welchen Teil der Hauptverhandlung der Angeklagte entfernt werden soll (LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 247 Rn. 29; SK-StPO/Frister, 5. Aufl., § 247 Rn. 56; Radtke/Hohmann/Kelnhofer, StPO, 2. Aufl., § 247 Rn. 17; MüKo-StPO/Niehaus, 2. Aufl., § 247 Rn. 16). Dies impliziert, dass es eines erneuten Beschlusses bedarf, wenn ein bereits nach § 248 StPO entlassener Zeuge in der laufenden Hauptverhandlung ein weiteres Mal gemäß § 247 Abs. 1 StPO unter Ausschluss des Angeklagten vernommen werden soll. Für einen Ausschluss der Öffentlichkeit entspricht es ohnehin ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass in diesem Fall eine erneute Entscheidung des Gerichts gemäß § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG erforderlich ist (, NStZ 2024, 762; Beschluss vom – 3 StR 584/08, NStZ-RR 2009, 213, 214 mwN).
18Demgegenüber schränkt ein Vorgehen nach § 247a StPO zwar die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 250 Satz 1 StPO) ein (vgl. , BGHSt 45, 188; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 247a Rn. 4), tangiert jedoch weder das Anwesenheitsrecht und die Anwesenheitspflicht des Angeklagten noch die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung. Ein dabei unterlaufender Verfahrensfehler führt – anders als bei §§ 172, 174 GVG (§ 338 Nr. 6 StPO) und bei § 247 StPO (§ 338 Nr. 5 StPO) – auch zu keinem absoluten Revisionsgrund. Der Gesetzgeber hat die Anordnung einer Videovernehmung nach § 247a Abs. 1 Satz 2 StPO sogar als unanfechtbar ausgestaltet, um Verfahrensverzögerungen und Unsicherheiten im Prozess zu vermeiden (BT-Drucks. 13/7165, S. 10; BT-Drucks. 17/12418, S. 16; zu verbleibenden Rügemöglichkeiten siehe aber , NJW 2017, 181). Auch kann durch die nachträgliche Verkündung der Anordnung das Versäumnis eines vorherigen Beschlusses geheilt werden (, BGHR StPO § 247a Gerichtsbeschluss 1).
19Schon diese Unterschiede in der Eingriffsintensität und der prozessualen Wirkung einer Anordnung nach § 247a Abs. 1 Satz 1 StPO erfordern es nicht, die für Maßnahmen nach §§ 171b f. GVG und § 247 StPO gebotene, strenger formalisierte Handhabung zu übertragen. Hinzu kommt, dass schon aus der Natur einer Entscheidung nach § 247a Abs. 1 Satz 1 StPO zugleich eine zeitliche Begrenzung ihrer Wirkung folgt: Über die Vernehmung dieses Zeugen und der damit verbundenen Einführung seiner Aussage in die Hauptverhandlung hinaus entfaltet die Anordnung der audiovisuellen Übertragung keine Wirkung. Eine Entfernung des Angeklagten oder ein Ausschluss der Öffentlichkeit besteht dagegen fort, bis dies durch das Gericht revidiert wird, was die Notwendigkeit einer zeitlichen Begrenzung schon bei ihrer Anordnung unterstreicht.
20dd) Mit der Stoßrichtung, dass die Voraussetzungen des § 247a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StPO für die zweite Vernehmung der Nebenklägerin nicht mehr vorgelegen hätten oder insoweit kein rechtliches Gehör gewährt worden wäre, ist die Verfahrensrüge nicht erhoben worden. Um letzteres zu gewähren genügte vorliegend im Übrigen die Mitteilung der Vorsitzenden in der Hauptverhandlung, dass die Jugendkammer keine Veranlassung sehe, bei der erneuten Vernehmung der Nebenklägerin von ihrem Beschluss vom abzuweichen, da sich „nichts Wesentliches geändert“ habe.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:270325B5STR567.24.0
Fundstelle(n):
CAAAJ-91169