Instanzenzug: LG Stralsund Az: 23 KLs 8/23
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten „wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in sechs Fällen, dabei in drei Fällen tateinheitlich mit schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, zugleich mit Vergewaltigung in drei Fällen“ (Fälle II.A.1 bis 6 der Urteilsgründe) „sowie wegen sexueller Belästigung“ (Fall II.B.7 der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
21. Das Landgericht hat ‒ soweit für die Entscheidung von Bedeutung ‒ folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
3a) Der Angeklagte und die Mutter der am geborenen Nebenklägerin gingen im Jahr 2014 eine Beziehung ein. 2016 zogen sie gemeinsam in eine Wohnung in A. . Der Angeklagte nahm seitdem Erziehungsaufgaben wahr, passte auf die Nebenklägerin auf, fuhr mit ihr und ihrer Mutter in den Urlaub und überwachte den Schulbesuch. Im November 2019, wahrscheinlich am , forderte der Angeklagte die Nebenklägerin im Wohnzimmer auf, sich zu ihm auf die Couch zu legen. Nachdem sie dies getan hatte, schob er seine Hand gegen ihren Willen in deren Hose und führte sexuell motiviert zwei Finger in ihre Vagina ein; ihren Versuch, sich ihm zu entziehen, unterband der Angeklagte, indem er sie „mit dem Zusammenkneifen seiner Finger innerhalb der Vagina und dem Daumen außerhalb festhielt“, wodurch sie Schmerzen erlitt (Fall II.A.1 der Urteilsgründe). Danach, aber noch vor dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin, begab sich die Nebenklägerin in das Schlafzimmer, um den Angeklagten zum Frühstück abzuholen. Dieser zog die Nebenklägerin auf sein Bett, schob wiederum seine Hand unter ihre Schlafanzughose, manipulierte mit mindestens einem Finger an ihrer Scheide, wobei er den Finger einführte (Fall II.A.2 der Urteilsgründe). An einem weiteren Tag zwischen dem und dem begab sich der Angeklagte in das Zimmer der Nebenklägerin, kniete sich auf ihr Bett, zog ihr gegen ihren Willen die Schlafanzughose aus, spreizte ihre Beine mit Gewalt, hob sie hoch und führte zwei Finger in ihre Vagina ein, wodurch sie Schmerzen erlitt (Fall II.A.3 der Urteilsgründe). Einige Tage vor dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin forderte der Angeklagte, der mit ihrer Mutter auf der Couch im Wohnzimmer lag, auf, sich zu ihm zu legen. Er breitete die Decke über sie und führte mindestens einen Finger in ihre Vagina ein (Fall II.A.4 der Urteilsgründe). In der Zeit zwischen dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin am und dem suchte der Angeklagte diese im Kinderzimmer auf. Gegen ihren Willen zog er ihr die Schlafanzughose aus, spreizte ihre Beine und führte mindestens zwei Finger tief in ihre Vagina ein, was für sie sehr schmerzhaft war (Fall II.A.3 der Urteilsgründe). Im selben Zeitraum forderte er sie im Kinderzimmer auf, ihn zu umarmen. Als die Nebenklägerin dies tat, ergriff er sie, drehte sie um, griff mit der Hand in ihre Hose und berührte sie mit den Fingern „im Scheidenvorhof“ (Fall II.A.5 der Urteilsgründe). Nach dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin, vermutlich im Herbst 2021, lag sie bekleidet vor dem Angeklagten auf der Couch im Wohnzimmer und „spürte den erigierten Penis des Angeklagten an ihrem Gesäß“. Kurze Zeit später hatte der Angeklagte einen Samenerguss, der ihre Schlafanzughose befeuchtete (Fall II.A.6 der Urteilsgründe).
4b) Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe in Abrede gestellt. Das Landgericht hat sich im Wesentlichen auf der Grundlage der Angaben der Nebenklägerin von den Taten zu ihrem Nachteil überzeugt.
52. Die Verfahrensrüge, mit der der Beschwerdeführer die Verletzung des § 244 Abs. 2, 3 StPO rügt, hat keinen Erfolg, weil sie aus Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt und daher unzulässig ist.
63. Indes hat die Revision mit der Sachrüge Erfolg, soweit der Angeklagte wegen Taten zum Nachteil der Nebenklägerin verurteilt worden ist. Die Beweiswürdigung hält – auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 6 StR 579/23, Rn. 3; vom – 4 StR 428/23, Rn. 13; vom – 1 StR 109/21, Rn. 10) – sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
7a) In Fällen, in denen – wie hier – Aussage gegen Aussage steht, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt, in die Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 2 StR 205/24, NStZ-RR 2025, 19; vom – 6 StR 37/24, NStZ-RR 2024, 159; vom − 4 StR 400/22, NStZ 2024, 58; MüKo-StPO/Bartel, 2. Aufl., § 261 Rn. 255).
8Ein wesentliches Element der Aussageanalyse ist die Prüfung der Aussagekonstanz (vgl. , NStZ-RR 2024, 159; Urteil vom – 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 172; KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl., § 261 Rn. 101, 121 mwN). Dazu bedarf es zunächst einer geschlossenen – wenn auch gerafften – Darstellung der Angaben des Belastungszeugen in den Urteilsgründen. Daran hat sich die Prüfung auf Übereinstimmungen, Widersprüche, Ergänzungen und Auslassungen anzuschließen. Erst auf Grundlage dessen ist es dem Revisionsgericht möglich zu prüfen, ob die Beweiswürdigung des Tatgerichts den bei dieser Beweislage geltenden besonderen Anforderungen an die Beweiswürdigung entspricht (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 299/21, Rn. 8; vom – 1 StR 408/17, Rn. 11; Urteil vom – 2 StR 92/14, NStZ-RR 2015, 52).
9b) Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht. Es leidet an durchgreifenden Darstellungs- und Erörterungsmängeln.
10aa) Die Beweiserwägungen sind lückenhaft, weil es jedenfalls an einer geschlossenen Darstellung der polizeilichen Aussagen der Nebenklägerin fehlt. Den Urteilsgründen ist zu entnehmen, dass sie eine im Dezember 2019 erstattete Strafanzeige zurückgenommen und behauptet hatte, sich die sexuellen Übergriffe des Angeklagten nur ausgedacht zu haben. Auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs vermag der Senat den Urteilsgründen nicht verlässlich zu entnehmen, welche Angaben die Nebenklägerin bei der erneuten Strafanzeige im Oktober 2021 gemacht hat. Der pauschal gehaltene Hinweis, sie habe den Angeklagten „wegen der zu ihrem Nachteil begangenen Taten“ erneut angezeigt, genügt insoweit nicht. Es bleibt offen, welche konkreten Angaben sie bei der Anzeigenerstattung und bei der am Folgetag durchgeführten polizeilichen Vernehmung gemacht hat. Unzureichend ist die Darstellung auch zu der am durchgeführten polizeilichen Vernehmung. Das Landgericht weist zwar darauf hin, dass die Nebenklägerin „umfassende Angaben zu allen Vorfällen und auch darüber hinaus gemacht“ habe. Indes werden in der Folge – auf der Grundlage der Angaben der Vernehmungsbeamtin – im Wesentlichen nur die Angaben der Nebenklägerin zu zwei der sechs Taten ‒ den Fällen II.A.3 und II.A.4 der Urteilsgründe ‒ wiedergegeben. Bei dieser Sachlage ist die Annahme des Landgerichts, die Angaben der Nebenklägerin zeigten eine „hohe Aussagekonstanz“ revisionsgerichtlich nicht überprüfbar. Einer sorgfältigen und umfassenden Konstanzanalyse hätte es unter den hier gegebenen Vorzeichen auch deshalb bedurft, weil die in den Urteilsgründen erwähnten Vorhalte, die aufgrund der vom Landgericht gewählten Darstellungsweise einer (unwirksamen) Bezugnahme auf den Akteninhalt nicht nachvollziehbar sind, auf erhebliche Abweichungen hindeuten, die die tatgerichtliche Annahme einer hohen Aussagekonstanz zweifelhaft erscheinen lassen.
11bb) Soweit das Landgericht die abweichenden Angaben der Nebenklägerin im Fall II.A.6 der Urteilsgründe mit einem „erwartbaren Erinnerungsverlust“ für unbedenklich erklärt hat, vermag der Senat dies ohne nähere Erläuterung nicht nachzuvollziehen. Denn die Nebenklägerin hatte in der Hauptverhandlung angegeben, immer Angst davor gehabt zu haben, dass ihre Mutter etwas mitbekomme, dann etwas sagen würde und der Angeklagte sie oder auch ihre Mutter verprügeln würde. Vor diesem Hintergrund greift der Hinweis auf einen „erwartbaren Erinnerungsverlust“ zu kurz.
124. Dies zieht die Aufhebung des Urteils in den Fällen II.A.1 bis 6 der Urteilsgründe sowie die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich. Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung.
135. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass angesichts der Besonderheiten der Beweislage und des Aussageverhaltens der Nebenklägerin die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen angezeigt erscheint (vgl. KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl., § 261 Rn. 122).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:070125B6STR633.24.0
Fundstelle(n):
UAAAJ-90019