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BVerwG Beschluss v. - 3 BN 4/24

Antragsänderung im Normenkontrollverfahren; Auslegung des Rechtsschutzbegehrens

Gesetze: § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO, § 133 Abs 6 VwGO, § 88 VwGO

Instanzenzug: Sächsisches Oberverwaltungsgericht Az: 3 C 17/21 Urteil

Gründe

I

1Die Antragstellerin, Betreiberin eines Sonnenstudios, wendet sich gegen Betriebsschließungen während der Covid-19-Pandemie. Sie hat am beim Oberverwaltungsgericht einen Antrag gemäß § 47 Abs. 1 VwGO mit dem Ziel gestellt, die Unwirksamkeit von § 4 Abs. 2 Nr. 5 der Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt zum Schutz vor dem Coronavirus SARS-CoV-2 und COVID-19 (Sächsische Corona-Schutz-Verordnung - SächsCoronaSchVO) vom (SächsGVBl. S. 213) feststellen zu lassen. Nach dieser Vorschrift waren die Öffnung und der Betrieb von Dampfbädern, Dampfsaunen, Saunen, Solarien und Sonnenstudios untersagt. Die Sächsische Corona-Schutz-Verordnung vom trat nach ihrem § 12 Abs. 2 mit Ablauf des außer Kraft. Die im Anschluss in Kraft getretene Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt zum Schutz vor dem Coronavirus SARS-CoV-2 und COVID-19 (Sächsische Corona-Schutz-Verordnung - SächsCoronaSchVO) vom (SächsGVBl. S. 287) enthielt in ihrem § 4 Abs. 2 Nr. 3 eine entsprechende Regelung.

2Mit Schriftsatz vom hat die Antragstellerin mitgeteilt, dass sie "hinsichtlich der zwischenzeitlich in Kraft getretenen neuen Verordnung ebenfalls eine Antragsänderung" erkläre. Der Normenkontrollantrag richte sich "jetzt gegen die Regelung aus der SächsCoronaSchVO vom , konkret § 4 Abs. 2 Nr. 3". Der Antragsgegner hat mit Schriftsatz vom mitgeteilt, dass er der Antragsänderung nicht zustimme. Mit Schriftsatz vom hat die Antragstellerin ausgeführt, dass sie die am vorgenommene Antragsänderung für sachdienlich erachte. Beide Regelungen seien inhaltsgleich. Jedenfalls bleibe die ursprüngliche Norm Antragsgegenstand. In der mündlichen Verhandlung am hat sie beantragt, festzustellen, dass § 4 Abs. 2 Nr. 3 SächsCoronaSchVO vom und § 4 Abs. 2 Nr. 5 SächsCoronaSchVO vom unwirksam waren.

3Das Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom die Anträge abgelehnt. Sie seien unzulässig. Die mit Schriftsatz vom erklärte Antragsänderung sei unzulässig, weil die Voraussetzungen des § 91 Abs. 1 oder 2 VwGO nicht vorlägen. Der Antragsgegner habe der Änderung weder zugestimmt noch sich rügelos eingelassen. Sie sei auch nicht sachdienlich, weil die pandemische Lage im Freistaat Sachsen und damit die tatsächlichen Verhältnisse während der Geltungszeiträume der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnungen vom und und somit auch der Streitstoff in tatsächlicher Hinsicht unterschiedlich gewesen seien. Darüber hinaus hätten sich auch die rechtlichen Rahmenbedingungen in erheblicher Form geändert. Die Antragsänderung habe die Rechtshängigkeit des auf Feststellung der Unwirksamkeit von § 4 Abs. 2 Nr. 5 SächsCoronaSchVO vom gerichteten Antrags vom entfallen lassen. Die anwaltlich verfasste Erklärung vom biete keinen Anhaltspunkt dafür, dass der ursprüngliche Antrag aufrechterhalten werden sollte. Seine Rechtshängigkeit sei mit Eingang der Erklärung entfallen; hierfür habe es nicht der Zulässigkeit der Antragsänderung bedurft. Am Wegfall der Rechtshängigkeit änderten auch die Ausführungen der Antragstellerin im Schriftsatz vom nichts, wonach es auch - zumindest hilfsweise - beim ursprünglichen Antragsgegenstand bleiben solle; die Rechtshängigkeit hinsichtlich des Antrags zur Verordnung vom könne nicht wieder aufleben. Ausgehend davon sei der am (erneut) gestellte Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit von § 4 Abs. 2 Nr. 5 SächsCoronaSchVO vom unzulässig, weil er nicht innerhalb der Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO erhoben worden sei.

4Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 VwGO gestützten Beschwerde.

II

5Die Beschwerde hat Erfolg. Zwar ist die Revision nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen (1.). Es sind aber die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gegeben, denn es liegt ein Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung beruhen kann (2.). Das führt unter Anwendung des § 133 Abs. 6 VwGO zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht (3.).

61. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zukommt.

7Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Dies ist gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO darzulegen und setzt die Formulierung einer bestimmten, jedoch fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts voraus, deren noch ausstehende höchstrichterliche Klärung zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint und im Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr, vgl. etwa 3 B 48.16 - juris Rn. 3 m. w. N.).

8Mit der Frage,

ob es dem Antragsteller nicht möglich sein muss, nach dem zeitlichen Ablauf der Gültigkeit einer Corona-Schutzverordnung deren Rechtswidrigkeit feststellen zu lassen, um gegebenenfalls Schadensersatzansprüche geltend zu machen,

9zeigt die Beschwerde keine grundsätzliche Bedeutung auf. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass unter bestimmten Voraussetzungen ein auf Feststellung der Unwirksamkeit einer außer Kraft getretenen Verordnungsbestimmung gerichteter Normenkontrollantrag zulässig sein und sich das erforderliche besondere Feststellungsinteresse aus der präjudizierenden Wirkung für die Geltendmachung von Entschädigungs- oder Schadensersatzansprüchen ergeben kann (vgl. 4 N 1.83 - BVerwGE 68, 12 <15>, Urteil vom - 7 CN 1.03 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 164 S. 131). Ob die jeweiligen Voraussetzungen vorliegen, ist eine Frage des Einzelfalls und damit einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich.

10Soweit die Beschwerde zur Begründung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache weiter auf "die schon aufgeworfenen Fragen" verweist, fehlt es bereits an der Formulierung einer bestimmten Frage.

112. Es liegt ein Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vor.

12a) Allerdings greift die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe die Sachdienlichkeit der Antragsänderung zu Unrecht verneint und dadurch § 91 Abs. 1 VwGO verletzt, nicht durch.

13Ob eine zu Unrecht verneinte Sachdienlichkeit einen Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO begründen kann (offengelassen von BVerwG, Beschlüsse vom - 9 B 20.09 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 37 Rn. 6 und vom - 3 B 41.15 - Buchholz 451.74 § 5 KHG Nr. 1 Rn. 15), bedarf keiner Entscheidung. Die Beurteilung, ob eine Antrags- oder Klageänderung sachdienlich ist, liegt im Ermessen der darüber entscheidenden Instanz. Das Revisionsgericht darf nur prüfen, ob das Tatsachengericht den Rechtsbegriff der Sachdienlichkeit verkannt und damit die Grenze seines Ermessens überschritten hat. Eine Änderung ist in der Regel als sachdienlich anzusehen, wenn sie der endgültigen Beilegung des sachlichen Streits zwischen den Beteiligten im laufenden Verfahren dient und der Streitstoff im Wesentlichen derselbe bleibt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 9 B 20.09 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 37 Rn. 6 und vom - 3 B 41.15 - Buchholz 451.74 § 5 KHG Nr. 1 Rn. 15 m. w. N.). Hiervon ist auch das Oberverwaltungsgericht ausgegangen. Es hat darauf abgestellt, dass eine Änderung des Antrags nicht sachdienlich sei, weil der Streitstoff sich in tatsächlicher Hinsicht unterscheide und sich die rechtlichen Rahmenbedingungen geändert hätten. In dieser Begründung ist eine Verletzung des § 91 Abs. 1 VwGO nicht erkennbar. Der Einwand, durch die Verneinung der Sachdienlichkeit sei die Antragstellerin rechtsschutzlos gestellt worden, weil sie angesichts der kurzen Geltungsdauern der Verordnungen gar keine andere Möglichkeit als die Antragsänderung gehabt habe, übersieht, dass es ihr möglich gewesen wäre, ein neues Normenkontrollverfahren gegen die Verordnung vom anhängig zu machen.

14b) Die Antragstellerin rügt weiter, das Oberverwaltungsgericht habe zu Unrecht angenommen, der gegen die Verordnung vom gerichtete Normenkontrollantrag sei nicht aufrechterhalten worden. Der damit geltend gemachte Verstoß gegen die aus § 88 VwGO folgende Pflicht zur sachgemäßen Auslegung von Anträgen und Prozesserklärungen liegt vor.

15Gemäß § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Es hat vielmehr das tatsächliche Rechtsschutzbegehren zu ermitteln. Hierbei gelten die Grundsätze für die Auslegung von Willenserklärungen (§§ 133, 157 BGB). Für die Auslegung des Rechtsschutzbegehrens sind neben dem Antrag insbesondere die Begründung sowie das gesamte übrige Beteiligtenvorbringen zu berücksichtigen, ferner die Interessenlage des Klägers bzw. Antragstellers, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und die übrigen Beteiligten als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt. Dem Antrag kommt bei anwaltlicher Vertretung gesteigerte Bedeutung zu (stRspr, vgl. 3 C 11.16 - Buchholz 451.74 § 8 KHG Nr. 18 Rn. 14 m. w. N., Beschlüsse vom - 3 B 12.20, 3 PKH 1.20 - juris Rn. 4 und vom - 7 B 16.20 - juris Rn. 7).

16Diesen Grundsätzen wird die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die Antragstellerin habe den ursprünglich gestellten Antrag nicht weiter verfolgen wollen, nicht gerecht. Das Oberverwaltungsgericht hat im Wesentlichen auf den Schriftsatz vom abgestellt. Das Vorbringen im Schriftsatz vom , wonach die ursprüngliche Norm - jedenfalls hilfsweise - Antragsgegenstand bleiben solle, hat es demgegenüber unberücksichtigt gelassen und die gegen § 4 Abs. 2 Nr. 5 SächsCoronaSchVO vom gerichtete Antragstellung in der mündlichen Verhandlung als erneuten - verfristeten - Antrag gewertet. Damit hat es entgegen der Pflichten aus § 88 VwGO nicht das gesamte Beteiligtenvorbringen zur Ermittlung des Rechtsschutzziels der Antragstellerin in den Blick genommen und ihr Begehren unzutreffend erfasst. Das Abstellen allein auf den Schriftsatz vom war nicht deshalb ausreichend, weil die Erklärung für sich genommen eindeutig gewesen wäre. Die Formulierung, der Normenkontrollantrag solle sich "jetzt gegen" § 4 Abs. 2 Nr. 3 SächsCoronaSchVO vom richten, ließ Raum für Zweifel, ob sie im Sinne eines "jetzt auch" oder eines "jetzt nur noch" zu verstehen war; ausdrückliche Ausführungen zum ursprünglichen Antrag fehlten. Der Schriftsatz vom nahm Bezug auf den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO und dessen bereits erfolgte Umstellung mit Schriftsatz vom , korrigiert durch nachfolgenden Schriftsatz vom selben Tage (OVG 3 B 53/21 Bl. 32 und 34). Im dortigen Verfahren hatte die Antragstellerin nach Außerkrafttreten von § 4 Abs. 2 Nr. 5 SächsCoronaSchVO vom den Antrag dahin umgestellt, die entsprechende Vorschrift in § 4 Abs. 2 Nr. 3 SächsCoronaSchVO vom hinsichtlich Sonnenstudios vorläufig außer Vollzug zu setzen; der Erlass einer einstweiligen Anordnung für die Vergangenheit kam nicht in Betracht. Der Schriftsatz vom diente erkennbar dem Ziel, auch in der Hauptsache deutlich zu machen, dass die Schließung von Sonnenstudios durch das Außerkrafttreten der Verordnung vom aus Sicht der Antragstellerin nicht erledigt war, sie also weiter eine Sachentscheidung begehrte. Ihre Interessenlage in der damaligen prozessualen Lage sprach gegen die Aufgabe des ursprünglichen Antrags. Warum sie ihren zulässig gestellten Normenkontrollantrag gegen die Schließung von Sonnenstudios durch § 4 Abs. 2 Nr. 5 SächsCoronaSchVO vom nach Außerkrafttreten der Verordnung nicht jedenfalls hilfsweise mit einem Feststellungsantrag hätte weiterverfolgen, sondern ihren Anspruch auf eine Sachentscheidung über die Rechtmäßigkeit der Schließung davon abhängig hätte machen sollen, dass der Antragsgegner der Umstellung des Antrags auf die inhaltsgleiche Regelung der Nachfolgeverordnung zustimmt oder das Oberverwaltungsgericht die Umstellung für sachdienlich hält, ist nicht ersichtlich. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die Rechtshängigkeit des ursprünglichen Antrags entfalle bei einer Klageänderung spätestens im Zeitpunkt des Eingangs der Klageänderungserklärung, wenn das ursprüngliche Begehren nicht aufrechterhalten werde, entband das Gericht nicht davon, zu klären, ob die Antragstellerin ihr ursprüngliches Begehren jedenfalls hilfsweise aufrechterhalten hatte und insoweit zur Bestimmung des Inhalts der Erklärung sämtliches, auch späteres Vorbringen zu berücksichtigen. Der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtswirkungen der Erklärung erlaubt insoweit keine zwingenden Rückschlüsse auf die Frage, welche Umstände zur Auslegung der Erklärung heranzuziehen sind.

17Hat das Oberverwaltungsgericht damit unter Verletzung von § 88 VwGO angenommen, dass die Antragstellerin ihr ursprüngliches Antragsbegehren nicht mehr verfolgen wollte, so beruht die Entscheidung auch auf diesem Mangel. Das Oberverwaltungsgericht hätte nicht den Wegfall der Rechtshängigkeit des gegen § 4 Abs. 2 Nr. 5 SächsCoronaSchVO vom gerichteten Normenkontrollantrags vom und die Verfristung des in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrags auf Feststellung der Unwirksamkeit dieser Norm annehmen dürfen, sondern über Zulässigkeit und gegebenenfalls Begründetheit des am anhängig gemachten Antrags entscheiden müssen.

18c) Ob ein Verfahrensmangel auch deshalb zu bejahen ist, weil das Oberverwaltungsgericht angenommen hat, dass mangels Aufrechterhaltung die Rechtshängigkeit des ursprünglichen Antrags der Antragstellerin trotz der Unzulässigkeit der Klageänderung entfallen ist (a. A. zu § 81 Abs. 3 ArbGG 5 PB 5.22 - juris Rn. 19; zu § 263 ZPO - NJW 1988, 128 <128>), kann damit dahinstehen.

193. Der Senat macht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung von der Befugnis nach § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

20Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2025:030225B3BN4.24.0

Fundstelle(n):
VAAAJ-86288