Gesetze: § 5a aF VVG, § 242 BGB, Art 267 Abs 3 AEUV
Instanzenzug: OLG Bamberg Az: 1 U 122/21vorgehend LG Coburg Az: 22 O 403/20
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt von der Beklagten die Rückabwicklung von vier fondsgebundenen Rentenversicherungsverträgen.
2 Den Abschluss dieser Versicherungsverträge beantragte er unter dem . Zu diesem Zeitpunkt lagen ihm bereits die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Beklagten und deren Verbraucherinformationen vor. Er erhielt sodann drei Versicherungsscheine vom und einen Versicherungsschein vom . Der Kläger zahlte fortan die Versicherungsbeiträge. Auf seinen Wunsch wurden bei allen vier Verträgen mehrfach Änderungen hinsichtlich der Versicherungsprämien vorgenommen und die Anlagefonds mehrfach umgeschichtet. Außerdem nahm er bei drei Verträgen Zuzahlungen vor. Bei einem Vertrag vereinbarte er mit der Beklagten nach einer Beitragserhöhung den Ausschluss der Beitragsfreistellung bei Berufsunfähigkeit. Im Juni 2018 beantragte er für alle vier Verträge Teilauszahlungen in maximaler Höhe, die ihm die Beklagte gewährte. Mit Schreiben vom27. November 2018 erklärte der Kläger die Kündigung aller vier Verträge. Er erhielt daraufhin von der Beklagten jeweils die Rückkaufswerte. Mit Schreiben vom erklärte der Kläger den Widerspruch gegen das Zustandekommen aller vier Verträge.
3 Der Kläger begehrt im Wege der Stufenklage die Verurteilung der Beklagten zur Auskunft darüber, wann und in welcher Höhe seine Zahlungen als Sparprämie dem Fondsvermögen der Verträge zugeflossen seien und welche Rückkaufswerte die Verträge zum Zeitpunkt des Zugangs des Kündigungsschreibens gehabt hätten. Auf der dritten Stufe begehrt er die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines nach den Auskünften zu beziffernden Betrages, mindestens aber 32.000 € nebst Zinsen. Die Klage hat in den Vorinstanzen keinen Erfolg gehabt. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Gründe
4 Die Revision führt zur Aufhebung der Berufungsentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
5 I. Dieses hat offengelassen, ob die Versicherungsverträge im Antrags- oder Policenmodell abgeschlossen wurden und ob der Kläger ausreichend über ein Rücktritts- oder Widerspruchsrecht belehrt wurde und die Verbraucherinformationen vollständig erhielt. Ein etwaiges Widerspruchs- bzw. Rücktrittrecht des Klägers sei jedenfalls verwirkt. Es lägen besonders gravierende Umstände vor, die dem Kläger auch im Falle nicht ordnungsgemäßer Belehrung oder fehlender oder unvollständiger Verbraucherinformationen die Berufung auf ein Widerspruchsrecht verwehrten. Bei der Vielzahl der Vertragsänderungen bzw. -einwirkungen handele es sich um jeweils gewichtige Indizien der Vertragsbestätigung, die über die reine Vertragsdurchführung weit hinausgingen. Das Landgericht habe zulässigerweise im Rahmen der Gesamtwürdigung berücksichtigt, dass der Widerspruch erst über ein Jahr nach der erfolgten Kündigung und Gesamtabwicklung erfolgt sei. Durch die Kündigung sei der positive Wille begründet worden, die Beklagte auf Leistungserfüllung aus diesem Vertrag in Anspruch zu nehmen und mit der vertragsbeendigenden Kündigung das Vertragsverhältnis abzuschließen. Auch die mehrfachen Sonderzahlungen auf drei der Verträge habe das Landgericht zutreffend als gewichtiges Indiz für eine Vertragsbestätigung gewertet. Besonders gewichtig sei, dass der Kläger hinsichtlich eines Vertrages den Ausschluss der Beitragsbefreiung für die Berufsunfähigkeit aufgrund der Prämienerhöhung verlangt habe, der Vertrag aber im Übrigen unverändert fortgesetzt worden sei. Auch damit habe er gegenüber der Beklagten zu erkennen gegeben, an dem Hauptvertrag festhalten zu wollen. Bei allen Verträgen habe der Kläger eine aktive Vertragsgestaltung durch mehrfache Beitragserhöhungen bzw. -senkungen sowie auch Fondsumschichtungen bzw. Änderungen der Anlagestrategie betrieben. Auch hiermit habe er wiederholt gegenüber der Beklagten zu erkennen gegeben, mit den Verträgen zufrieden zu sein und deren Bestand unabhängig von einem Lösungsrecht nicht in Zweifel zu ziehen. Durch die vorgezogenen maximalen Teilauszahlungen im Jahr 2018 habe der Kläger gleichfalls zu erkennen gegeben, im Übrigen an den Verträgen festhalten zu wollen.
6 II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Bereicherungsrechtliche Rückabwicklungsansprüche können dem Kläger mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht versagt werden.
7 1. Allerdings ist für das Revisionsverfahren von einem fortbestehenden Widerspruchsrecht des Klägers nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG in der bei Abschluss der Rentenversicherungsverträge maßgeblichen Fassung vom auszugehen, weil das Berufungsgericht offengelassen hat, ob die Verträge im Antragsmodell oder wegen unvollständiger Verbraucherinformation im Policenmodell abgeschlossen wurden und ob der Kläger ordnungsgemäß über sein Widerspruchsrecht belehrt wurde.
8 2. Die geltend gemachten Bereicherungsansprüche sind entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auf der Grundlage der bislang von ihm getroffenen Feststellungen nicht ausnahmsweise aufgrund des Vorliegens besonders gravierender Umstände nach Treu und Glauben ausgeschlossen.
9 a) Nach der Rechtsprechung des Senats kann der Versicherer bei einer nicht ordnungsgemäßen Belehrung zwar grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen für sich in Anspruch nehmen, weil er die Situation selbst herbeigeführt hat. Aber auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung kann die Geltendmachung des Widerspruchsrechts ausnahmsweise Treu und Glauben widersprechen und damit unzulässig sein, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind. Dementsprechend hat der Senat bereits tatrichterliche Entscheidungen gebilligt, die in Ausnahmefällen mit Rücksicht auf besonders gravierende Umstände des Einzelfalles auch dem nicht oder nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer die Geltendmachung eines Bereicherungsanspruchs nach § 242 BGB verwehrt haben (Senatsurteil vom - IV ZR 268/21, BGHZ 238, 32 Rn. 9 m.w.N.). Allgemein gültige Maßstäbe dazu, ob und unter welchen Voraussetzungen eine fehlerhafte Belehrung der Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Geltendmachung des Widerspruchsrechts entgegensteht, können nicht aufgestellt werden. Vielmehr obliegt die Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben im Einzelfall dem Tatrichter. Auch in Fällen eines fortbestehenden Widerspruchsrechts kann die Bewertung des Tatrichters in der Revisionsinstanz nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht, alle erheblichen Gesichtspunkte berücksichtigt und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder von einem falschen Wertungsmaßstab ausgeht (Senatsurteil vom aaO Rn. 10 m.w.N.).
10 b) Danach genügen die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht zur Annahme besonders gravierender Umstände. Im Rahmen der Gesamtwürdigung konnte zunächst nicht berücksichtigt werden, dass der Kläger den Widerspruch erst über ein Jahr nach der Kündigung und Gesamtabwicklung erklärte. Die vom Kläger ausgesprochene Kündigung des Versicherungsvertrages steht dem späteren Widerspruch nicht entgegen. Wenn ein Versicherungsnehmer über sein Widerspruchsrecht nicht ausreichend belehrt wurde, konnte er sein Wahlrecht zwischen Kündigung und Widerspruch nicht sachgerecht ausüben (vgl. Senatsurteil vom - IV ZR 76/11, BGHZ 201, 101 Rn. 36). Demgemäß kann der Versicherer aus einer Kündigung seitens des Versicherungsnehmers nicht darauf schließen, dieser wolle nach Beendigung des Vertragsverhältnisses keine weiteren Ansprüche, wie Bereicherungsansprüche aufgrund erklärten Widerspruchs, geltend machen. Im Übrigen kommt im Rahmen des § 5a VVG a.F. ein Erlöschen des Widerspruchsrecht nach beiderseits vollständiger Leistungserbringung nicht in Betracht (vgl. Senatsurteil vom - IV ZR 488/14, r+s 2016, 285 Rn. 19), so dass diese für sich genommen auch kein überwiegendes schutzwürdiges Vertrauen des Versicherers begründet, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat.
11 Auch - hier vom Berufungsgericht berücksichtigte - Sonderzahlungen und vom Versicherungsnehmer veranlasste Beitragserhöhungen sind in der Regel keine besonders gravierenden Umstände, die im Ausnahmefall auch dem nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer die Geltendmachung seines Widerspruchsrechts und daraus folgender Bereicherungsansprüche verwehren können, sondern gehören zu einer gewöhnlichen Vertragsdurchführung. Etwas anderes kann etwa dann gelten, wenn ein Versicherungsnehmer im Rahmen eines Vertrages über eine geförderte Altersrentenversicherung (sog. Riester-Rente) mit Beitragserhöhungen und Zuzahlungen das Ziel verfolgt hat, den Betrag der an ihn ausgekehrten Altersvorsorgezulage zu maximieren (vgl. Senatsbeschluss vom - IV ZR 365/22, juris Rn. 17). Allein die vertragsgemäße Durchführung eines Lebens- oder Rentenversicherungsvertrages ist ohne Hinzutreten weiterer Umstände kein besonders gravierender Umstand, der ein Vertrauen des Versicherers auf den Bestand des Vertrages begründen könnte (vgl. Senatsurteil vom - IV ZR 196/22, VersR 2024, 1192 Rn. 13). Demnach können auch die vom Berufungsgericht berücksichtigten Umschichtungen in den Fonds und die Teilauszahlungen weder für sich genommen noch im Rahmen einer Gesamtwürdigung als besonders gravierende Umstände anerkannt werden (vgl.Senatsurteil vom aaO Rn. 11 m.w.N.). Dies gilt weiterhin für den vom Berufungsgericht als besonders gewichtig gewürdigten Antrag des Klägers auf Ausschluss der Beitragsfreistellung bei Berufsunfähigkeit. Damit hat der Kläger nicht etwa, wie das Berufungsgericht meint, zu erkennen gegeben, an dem "Hauptvertrag" ungeachtet eines etwaigen Widerspruchsrechts festhalten zu wollen, zumal es sich um einen einheitlichen Rentenversicherungsvertrag handelte. Vielmehr ist auch insoweit eine Vertragsänderung vorgenommen worden, die sich im Rahmen der üblichen Vertragsdurchführung hält.
12 III. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Das Berufungsgericht hat zunächst auf der Grundlage der obigen Ausführungen im Rahmen der ihm obliegenden tatrichterlichen Würdigung festzustellen, ob dem Kläger ein Widerspruchsrecht hinsichtlich der streitgegenständlichen Rentenversicherungsverträge zusteht, und - nach Prüfung der Zulässigkeit der Stufenklage (vgl. für die private Krankenversicherung Senatsurteil vom - IV ZR 177/22, r+s 2023, 1059 Rn. 24 m.w.N.) - gegebenenfalls die Höhe der Ansprüche des Klägers zu klären.
13 Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zum Einwand von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ist im Streitfall auch angesichts der neueren Entscheidungen des Gerichtshofs (Urteile vom , A u.a. [Unit-Linked-Versicherungsverträge], C-143/20 und C-213/20, EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513; vom , Volkswagen Bank u.a., C-33/20, C-155/20 und C-187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40; vom , Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667) und des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz vom (VersR 2022, 1252) schon mangels abschließender Entscheidung des Senats nicht veranlasst (vgl. Senatsurteil vom - IV ZR 40/21, VersR 2023, 631 Rn. 25). Mit Urteil vom (IV ZR 268/21, BGHZ 238, 32) hat der Senat in diesem Zusammenhang zudem entschieden und im Einzelnen begründet, dass auch unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union daran festzuhalten ist, dass die Geltendmachung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung ausnahmsweise Treu und Glauben (§ 242 BGB) widersprechen und damit unzulässig sein kann, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind, und zu diesem Einwand eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht geboten ist (Senatsurteil vom aaO Rn. 9, 13 ff.).
Prof. Dr. Karczewski Harsdorf-Gebhardt Dr. Brockmöller
Dr. Bußmann Dr. Bommel
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:181224UIVZR368.21.0
Fundstelle(n):
RAAAJ-84960