Instanzenzug: Az: 14 Ks 2020 Js 62421/22
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Daneben hat es die mit Urteil des Amtsgerichts Montabaur vom angeordnete Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für gegenstandslos erklärt. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen geringfügigen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
2Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen fasste der Angeklagte nach einer verbalen Auseinandersetzung mit seinem Freund den Entschluss, diesen zu töten. Er stach daher mit einem Messer auf das Tatopfer ein, das infolge seiner Verletzungen am Tatort verstarb. Die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten war zur Überzeugung der sachverständig beratenen Strafkammer zum Tatzeitpunkt aufgrund seiner bipolaren affektiven Störung, seiner Alkoholabhängigkeit sowie seiner Persönlichkeits- und Verhaltensstörung infolge eines bereits eingetretenen hirnorganischen Abbaus und weiterer konstellativer Faktoren mit Sicherheit erheblich vermindert sowie nicht ausschließbar vollständig aufgehoben. Aus diesem Grund hat die Strafkammer den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. Sie hat allerdings die Voraussetzungen des § 63 StGB als erfüllt angesehen und deshalb die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
3Von einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 Abs. 1 StGB mit den im Urteil des Amtsgerichts Montabaur vom verhängten Einzelstrafen hat das Landgericht mit Blick auf den Freispruch des Angeklagten abgesehen. Jedoch hat es die mit vorbezeichnetem Urteil angeordnete Unterbringung in einer Entziehungsanstalt entsprechend § 55 Abs. 2 Halbsatz 2, § 72 Abs. 1 StGB für gegenstandslos erklärt. Zur Begründung hat die Strafkammer im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen der Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB mangels Erfolgsaussicht zum Urteilszeitpunkt nicht mehr vorlägen und eine Aufrechterhaltung der Maßregel den Angeklagten zusätzlich belaste.
II.
41. Die Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht ausgeführt und daher unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
52. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der erhobenen allgemeinen Sachrüge führt zur Aufhebung des Ausspruchs über die Gegenstandslosigkeitserklärung; diese entfällt. Die weitergehende Revision ist unbegründet.
6a) Das Rechtsmittel hat aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Erfolg, soweit die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet worden ist. Die getroffenen Feststellungen beruhen auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung. Darüber hinaus ist die sachverständig beratene Strafkammer ohne Rechtsfehler zu der Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte bei Begehung der Tat nicht ausschließbar ohne Schuld (§ 20 StGB), jedenfalls im dauerhaften Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) gehandelt habe. Ferner begegnet die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) keinen rechtlichen Bedenken. Die Strafkammer hat aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung seiner Person, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat rechtsfehlerfrei begründet, dass von ihm infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 229/23, StV 2024, 234 Rn. 19 mwN; vom - 3 StR 535/16, StV 2017, 575 Rn. 7). Zudem steht der von der Strafkammer bedachte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 62 StGB) der Anordnung der Maßregel nicht entgegen. Insbesondere hat die Strafkammer eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB rechtsfehlerfrei mangels Erfolgsaussicht abgelehnt. Auch die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Aussetzung der Maßregel zur Bewährung gemäß § 67b Abs. 1 Satz 1 StGB verneint hat, sind nicht zu beanstanden.
7b) Der Ausspruch des Landgerichts, die mit Urteil des Amtsgerichts Montabaur vom angeordnete Unterbringung in einer Entziehungsanstalt mangels Erfolgsaussicht für gegenstandslos zu erklären, begegnet hingegen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Denn § 55 Abs. 2 Halbsatz 2 StGB findet weder unmittelbare noch analoge Anwendung. Im Einzelnen:
8aa) Die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 Halbsatz 2 StGB liegen nicht vor.
9(1) Das Amtsgericht Montabaur hatte den Angeklagten mit Urteil vom , rechtskräftig geworden am selben Tag, wegen zahlreicher Diebstahlstaten sowie weiterer Straftaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, eine Einziehungsentscheidung getroffen, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und ihn von weiteren Tatvorwürfen wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit freigesprochen.
10(2) Zwar fand das dem angefochtenen Urteil zugrundeliegende Tötungsgeschehen vom vor dem Urteil des Amtsgerichts Montabaur vom statt. Jedoch sind die übrigen Voraussetzungen einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 Abs. 1 StGB nicht gegeben. Der Angeklagte ist im hier angefochtenen Urteil nicht verurteilt, sondern vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen worden. In derartigen Fällen scheidet eine unmittelbare Anwendung von § 55 Abs. 1 StGB und damit eine Aufrechterhaltung von Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen nach § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB gemäß § 55 Abs. 2 StGB wie auch eine Erklärung über deren Gegenstandslosigkeit aus (vgl. MüKoStGB/v. Heintschel-Heinegg, 4. Aufl., § 55 Rn. 45; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 55 Rn. 29; LK/Rissing-van Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., § 55 Rn. 50; Bringewat, Die Bildung der Gesamtstrafe, Rn. 302; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 55 Rn. 53). Denn § 55 Abs. 1 StGB setzt nach seinem eindeutigen Wortlaut voraus, dass der Angeklagte „wegen einer anderen Straftat verurteilt wird“ (vgl. MüKoStGB/v. Heintschel-Heinegg, 4. Aufl., § 55 Rn. 2; BeckOK StGB/v. Heintschel-Heinegg, 62. Ed., § 55 Rn. 45; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl., § 55 Rn. 18; LK/Rissing-van Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., § 55 Rn. 52; Bringewat, Die Bildung der Gesamtstrafe, Rn. 194; aA NK-StGB/Frister, 6. Aufl., § 55 Rn. 56; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 55 Rn. 53; s. auch für den Fall, dass § 66 StGB an die Stelle von § 63 StGB tritt: , BGHSt 42, 306, 307 ff.; MüKoStGB/van Gemmeren, 4. Aufl., § 63 Rn. 72).
11bb) Für eine analoge Anwendung von § 55 Abs. 2 Halbsatz 2 StGB ist kein Raum.
12(1) Hiergegen spricht zunächst der Normzweck des § 55 StGB. Die nachträgliche Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 Abs. 1 StGB hat zum Ziel, dem Angeklagten den Vorteil der Gesamtstrafe in demselben Umfang zu gewähren, wie er ihn bei gemeinsamer Aburteilung aller Taten im ersten Urteil gehabt hätte; er soll also so gestellt werden, wie es der Fall wäre, wenn sämtliche Taten in dem früheren Urteil abgeurteilt worden wären (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 561/19, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 2 Sachentscheidung 2 Rn. 9 - 11; vom - 2 StR 147/60, BGHSt 15, 66, 69). § 55 Abs. 2 StGB trägt damit dem Umstand Rechnung, dass mit der nachträglichen Gesamtstrafenentscheidung diese die alleinige Vollstreckungsgrundlage bildet (, BGHR StGB § 55 Abs. 2 Aufrechterhalten 13 Rn. 9; MüKoStGB/v. Heintschel-Heinegg, 4. Aufl., § 55 Rn. 45). Mithin wird bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 Abs. 2 StGB eine früher festgesetzte Nebenstrafe, Nebenfolge oder Maßnahme als fortgeltender Bestandteil der früheren Entscheidung aufrechterhalten und nicht durch das nach § 55 StGB entscheidende Gericht neu festgesetzt. Eine Durchbrechung der Rechtskraft findet insoweit gerade nicht statt (vgl. , NStZ-RR 2024, 228, 229; Urteil vom - 4 StR 87/79, NJW 1979, 2113; Matt/Renzikowski/Bußmann, StGB, 2. Aufl., § 55 Rn. 31; LK/Rissing-van Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., § 55 Rn. 51; SSW-StGB/Eschelbach, 6. Aufl., § 55 Rn. 40). Liegen jedoch die Voraussetzungen einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 Abs. 1 StGB als Ausnahmeregelung zur Durchbrechung der Rechtskraft nicht vor, ist es Folge der gesetzlichen Regelung, dass das frühere Urteil Grundlage der Vollstreckung der dort angeordneten Maßregel bleibt.
13(2) Überdies steht die historische Auslegung mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Norm einer analogen Anwendung entgegen.
14§ 76 StGB aF in der Fassung vom (RGBl I S. 995) bestimmte, dass Maßregeln der Besserung und Sicherung neben der Gesamtstrafe zu verhängen und anzuordnen sind. Die Rechtsprechung hat daraus gefolgert, dass die Festsetzung einer Nebenstrafe, Nebenfolge oder Maßregel mit der Aufhebung der Gesamtstrafe in Wegfall kommt. Das Gericht musste deshalb, wenn es über die Gesamtstrafe erneut zu entscheiden hatte, wiederum prüfen, ob es die Maßnahme neben der Gesamtstrafe verhängen wollte und gegebenenfalls eine entsprechende Anordnung im Urteil treffen (, NJW 1979, 2113; vom - 2 StR 221/60, BGHSt 14, 381, 382 f.). Diese Regelung hat der Gesetzgeber bewusst nicht in die durch das 1. und 2. StrRG bedingten Neufassungen des StGB übernommen. Er hat vielmehr in § 55 Abs. 2 StGB für die nachträgliche Gesamtstrafenbildung bestimmt, dass Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB, auf die in einer früheren Entscheidung erkannt worden war, bei der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe aufrechtzuerhalten sind. Der Gesetzgeber wich somit gezielt von der früheren Handhabung ab. Denn eine einmal festgesetzte Maßregel erscheint nach der jetzigen gesetzlichen Konzeption durch deren Aufrechterhaltung als fortgeltender Bestandteil des Rechtsfolgenausspruchs für die Einzeltat, die Anlass für die Anordnung war. Die Maßregel ist damit - anders als nach früherem Recht - nicht mehr Bestandteil des neu zu fassenden Gesamtstrafenausspruchs. Dem Tatgericht ist deshalb in dem Umfang, in dem eine frühere Maßnahme aufrechtzuerhalten ist, ein Eingriff in die Rechtskraft des früheren Urteils verwehrt (, NJW 1979, 2113 mwN).
15(3) Dieses am gesetzgeberischen Willen orientierte Auslegungsergebnis wird durch systematische Erwägungen gestützt. Denn § 67f StGB bestimmt, dass mit einer weiteren Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt eine frühere Anordnung dieser Maßregel erledigt ist. Ausweislich der Gesetzesmaterialien hat der Gesetzgeber diese Regelung insbesondere für den Fall geschaffen, dass § 55 Abs. 2 StGB mangels Vorliegens der Voraussetzungen der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nicht zur Anwendung kommt (BT-Drucks. 5/4094, S. 22 f.). Mithin hat der Gesetzgeber für den Fall der mehrfachen Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB eine Sonderbestimmung getroffen. Diese konkret auf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zugeschnittene gesetzliche Regelung ist jedoch auf andere stationäre Maßregeln nach § 63 StGB oder § 66 StGB nicht, auch nicht analog anwendbar ( u.a., juris Rn. 11; u.a., juris Rn. 16; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 67f Rn. 1; MüKoStGB/Groß/Veh, 4. Aufl., § 67f Rn. 2; LK/Peglau, StGB, 13. Aufl., § 67f Rn. 3).
16(4) Schließlich ist das Auslegungsergebnis mit § 72 Abs. 1 StGB vereinbar. Denn die Vorschrift regelt lediglich die Konkurrenz zwischen mehreren Maßregeln, deren Voraussetzungen wegen einer und derselben Anlasstat jeweils allesamt erfüllt sind (vgl. § 72 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StGB; s. auch LK/Valerius, StGB, 14. Aufl., § 72 Rn. 1; NK-StGB/Pollähne, 6. Aufl., § 72 Rn. 2). Eine solche Sachlage ist hier nicht gegeben, da es nach den Urteilsgründen für eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt an einer günstigen Behandlungsprognose nach § 64 Satz 2 StGB fehlt.
17(5) All dies spricht dafür, die bestehende gesetzliche Lücke durch das Regelungsgefüge des Vollstreckungsrechts zu schließen. Gemäß § 67a Abs. 1 StGB kann die Strafvollstreckungskammer (§ 462a Abs. 1 Satz 1, § 463 Abs. 1 und 6, § 462 StPO) bei angeordneter Unterbringung in einer Entziehungsanstalt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus nachträglich in den Vollzug der jeweils anderen Maßregel überweisen, wenn die Resozialisierung der untergebrachten Person dadurch besser erreicht werden kann (vgl. MüKoStGB/Veh, 4. Aufl., § 67a Rn. 2; LK/Peglau, StGB, 13. Aufl., § 67a Rn. 11, 18 ff.; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 67a Rn. 3). Auch hieraus wird deutlich, dass die Regelungen des Vollstreckungsrechts gegenüber denjenigen des Erkenntnisverfahrens im Fall der Rechtskraftdurchbrechung vorrangig Anwendung finden.
183. Der Angeklagte ist durch den Ausspruch, die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für gegenstandslos zu erklären, auch beschwert. Zwar stellt die Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB für sich gesehen eine dem Angeklagten nachteilige Maßnahme dar (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 5 StR 499/23, NStZ-RR 2024, 138; vom - 3 StR 6/16, NStZ-RR 2016, 169), die in Wegfall geriete. Jedoch kann mit Blick auf die den Angeklagten im Verhältnis hierzu noch stärker belastende, dann allein in Betracht kommende Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 1 StR 254/16, BGHR StGB § 72 Sicherungszweck 9; vom - 2 StR 283/97, BGHR StGB § 72 Sicherungszweck 3; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 72 Rn. 5; LK/Valerius, StGB, 14. Aufl., § 72 Rn. 18; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 72 Rn. 4c) eine Beschwer durch die hier inmitten stehende Anwendung von § 55 Abs. 2 StGB nicht ausgeschlossen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 358/17, juris Rn. 6; vom - 4 StR 170/24, juris Rn. 6; vom - 5 StR 330/23, juris Rn. 6).
194. Es obliegt somit der nach § 462a Abs. 1 Satz 1, § 463 Abs. 1 und 6, § 462 StPO zuständigen Strafvollstreckungskammer, nunmehr darüber zu entscheiden, ob die künftige Eingliederung des Angeklagten in die Gesellschaft besser durch die weiterhin bestehende Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB oder durch die daneben angeordnete Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB gefördert werden kann.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:210824B3STR119.24.0
Fundstelle(n):
UAAAJ-82399