BSG Urteil v. - B 7 AS 3/23 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für Ausländer in den ersten drei Monaten des Aufenthalts - Anwendbarkeit auf nicht erwerbsfähige Familienangehörige eines erwerbsfähigen leistungsberechtigten Ausländers

Gesetze: § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB 2, § 7 Abs 2 SGB 2, § 8 Abs 2 SGB 2, § 19 Abs 1 SGB 2 vom

Instanzenzug: Az: S 117 AS 3604/15 Urteilvorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 3 AS 50/20 Urteil

Tatbestand

1Die Kläger begehren im Rahmen eines Zugunstenverfahrens Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 20.10. bis .

2Die Kläger sind tunesische Staatsangehörige. Die 1978 geborene Klägerin zu 1) ist die Mutter der im Jahre 2010 und 2012 geborenen Kläger zu 2) und zu 3). Die Klägerin zu 1) ist auch Mutter eines am 2015 geborenen Kindes, das die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der drei Kinder (im Folgenden: E) ist ebenfalls tunesischer Staatsangehöriger. Er wohnt seit Jahren in Deutschland und war auch in Deutschland beschäftigt. Ihm wurde 1999 zunächst eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und 2008 eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erteilt. Im streitbefangenen Zeitraum ging er weder einer selbstständigen noch einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nach.

3Die Kläger reisten am aus Tunesien mit einem Besuchsvisum, das keine Erwerbstätigkeit gestattete, nach Deutschland ein. Sie zogen zu E in dessen Wohnung. E erhielt im streitbefangen Zeitraum Alg II. Am beantragten auch die Kläger Leistungen nach dem SGB II. Das beklagte Jobcenter lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Kläger seien als tunesische Staatsangehörige nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen (bindender Bescheid vom ). Nachdem die Ausländerbehörde den Klägern am eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs 3 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ausgestellt hatte, bewilligte der Beklagte auch den Klägern Leistungen nach dem SGB II ab diesem Zeitpunkt, zunächst bis zum , später auch darüber hinaus. Der Antrag der Kläger auf Überprüfung des Ablehnungsbescheides mit dem Ziel, auch Leistungen für den Zeitraum vom 20.10. bis zu erhalten, blieb erfolglos (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ).

4Das SG hat den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom aufgehoben und den Beklagten verurteilt, den Klägern unter Rücknahme des Ablehnungsbescheides vom für den Zeitraum vom 20.10. bis zum Leistungen nach dem SGB Il in gesetzlicher Höhe zu gewähren (Urteil vom ). Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage(n) abgewiesen (Urteil vom ). Die Kläger hätten keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II in der Zeit vom 20.10. bis zum , denn sie unterlägen dem Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II.

5Mit ihren vom LSG zugelassenen Revisionen rügen die Kläger die Verletzung von § 7 SGB II.

6Die Kläger beantragen,das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

7Der Beklagte beantragt,die Revisionen zurückzuweisen.

Gründe

8Die zulässigen Revisionen der Kläger sind begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung des Beklagten zurückzuweisen. Das SG hat den Beklagten zu Recht gemäß dem Antrag der Kläger verurteilt. Die Kläger haben Anspruch auf Sozialgeld auch für die Zeit vom 20.10. bis , sodass der Beklagte die rechtswidrige Leistungsablehnung zurückzunehmen und den Klägern Leistungen nach dem SGB II zu erbringen hat.

9Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid des Beklagten vom in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom , durch den der Beklagte es abgelehnt hat, den bindenden Ablehnungsbescheid vom zurückzunehmen und den Klägern für die Zeit vom 20.10. bis zum Leistungen nach dem SGB II zu bewilligen. Weitergehende Ansprüche haben die Kläger nach der Leistungsbewilligung durch den Beklagten für spätere Zeiträume ausdrücklich nicht mehr geltend gemacht.

10Der Sachentscheidung entgegenstehende prozessuale Hindernisse bestehen nicht. Die geltend gemachten Ansprüche verfolgen die Kläger zutreffend im Wege der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGG iVm § 56 SGG), gerichtet auf die Aufhebung des Bescheides vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom , die Verpflichtung des Beklagten zur Aufhebung des Bescheides vom und Gewährung von SGB II-Leistungen dem Grunde nach (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG) für die Zeit vom 20.10. bis zum (zur statthaften Klageart in sogenannten Zugunstenverfahren vgl nur - BSGE 134, 45 = SozR 4-1100 Art 1 Nr 20, RdNr 13).

11Der angefochtene Überprüfungsbescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom ist rechtswidrig. Der Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, den Bescheid vom zurückzunehmen und SGB II-Leistungen für den Zeitraum 20.10. bis zu bewilligen.

12Rechtsgrundlage in verfahrensrechtlicher Hinsicht für den Anspruch auf Rücknahme des Ablehnungsbescheides vom ist § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II (idF der Neubekanntmachung vom , BGBl I 850; Geltungszeitraumprinzip - vgl - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f) iVm § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt auch nach seiner Unanfechtbarkeit mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. So liegt der Fall hier. Die Kläger erfüllten die Anspruchsvoraussetzungen für Sozialgeld und waren auch nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Demzufolge hat der Beklagte mit der Leistungsablehnung durch Bescheid vom das Recht unrichtig angewandt und Sozialleistungen in Form von Sozialgeld zu Unrecht nicht erbracht.

13Materiell-rechtliche Grundlagen für die geltend gemachten Ansprüche auf Sozialgeld sind § 19 Abs 1 Satz 2 SGB II (idF der Neubekanntmachung vom ) und § 7 Abs 2 Satz 1, Abs 3 Nr 4 SGB II (idF des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom , BGBl I 2854). Nach § 7 Abs 2 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. § 19 Abs 1 Satz 2 SGB II bestimmt, dass nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben, Sozialgeld erhalten, soweit sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches haben. Die Kläger, die keine Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB XII im Alter und bei Erwerbsminderung hatten, waren nach diesen Vorschriften im streitbefangenen Zeitraum leistungsberechtigt.

14Wer Sozialgeld beanspruchen kann, bestimmt sich allein über den Begriff der Erwerbsfähigkeit. Inhalt des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II ist eine Legaldefinition des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. § 7 Abs 2 Satz 1 SGB II enthält den Begriff "Leistungsberechtigter" nicht, sondern spricht nur von "Personen", die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Über die fehlende Erwerbsfähigkeit hinausgehende Anspruchsvoraussetzungen sind auch § 19 Abs 1 Satz 2 SGB II nicht zu entnehmen (vgl - BSGE 117, 186 = SozR 4-4200 § 7 Nr 39, RdNr 16).

15Dass die Klägerin zu 1) nicht erwerbsfähig war, folgt aus § 8 Abs 1 iVm Abs 2 Satz 1 SGB II (idF des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom , BGBl I 453). Nach § 8 Abs 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (sog gesundheitliche Erwerbsfähigkeit). Im Sinne von § 8 Abs 1 SGB II können Ausländerinnen und Ausländer nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte (§ 8 Abs 2 SGB II; sog rechtliche Erwerbsfähigkeit). Nach § 4 Abs 3 Satz 1 AufenthG (idF der Bekanntmachung der Neufassung vom , BGBl I 162) durften Ausländer eine Erwerbstätigkeit nur ausüben, wenn der Aufenthaltstitel sie dazu berechtigte. Im streitbefangenen Zeitraum war rechtliche Grundlage des Aufenthalts der Klägerin zu 1) in Deutschland ein (Besuchs-)Visum, das ihr eine Erwerbstätigkeit nicht gestattete. Die Kläger zu 2) und 3) waren schon aufgrund ihres Alters (2 und 4 Jahre) nicht erwerbsfähig.

16Die Kläger lebten im streitbefangenen Zeitraum auch mit einem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten - dem E - in einer Bedarfsgemeinschaft. Zur Bedarfsgemeinschaft gehören neben dem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (§ 7 Abs 3 Nr 1 SGB II) nach § 7 Abs 3 Nr 3Buchst a SGB II als Partnerin eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin und nach § 7 Abs 3 Nr 4 SGB II die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können. Die Klägerin zu 1) ist die Ehefrau des E, die Kläger zu 2) und 3) sind deren gemeinsame minderjährige Kinder. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG waren die Kläger nach dem Einzug in die Wohnung des E mangels Einkommens und Vermögens auch nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt selbst zu sichern.

17E selbst war erwerbsfähig und Inhaber einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis, die ihm die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gestattete (§ 9 Abs 1 Satz 2 AufenthG idF vom ). Von Leistungen nach dem SGB II war er nicht ausgeschlossen, sondern bezog Alg II. Er vermochte deshalb als "Kopf" der Bedarfsgemeinschaft den Klägern Ansprüche auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in Form von Sozialgeld nach § 7 Abs 2 SGB II iVm § 19 Abs 1 Satz 2 SGB Il zu vermitteln.

18Dem Anspruch der Kläger steht, anders als das LSG meint, § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II nicht entgegen. Anknüpfend an § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II, der regelt, wer erwerbfähige Leistungsberechtigte sind, bestimmt § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II: Ausgenommen, sind Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch auf Grund des § 2 Abs 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts.

19Zum Verhältnis der Anspruchsvoraussetzungen für Alg II nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II und den Anspruchsvoraussetzungen für Sozialgeld nach § 7 Abs 2 Satz 1 SGB II zueinander hat das BSG bereits entschieden, dass nach Wortlaut und Systematik dieser Vorschriften die Voraussetzungen eines Leistungsanspruchs für nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht um die Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II für erwerbsfähige Leistungsberechtigte zu erweitern sind ( - BSGE 117, 186 = SozR 4-4200 § 7 Nr 39, RdNr 17 ff). Dies gilt in gleicher Weise für den Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II (vgl Leopold in jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 7 RdNr 89, Stand ; Jüttner in Adolph, SGB II, SGB XII, AsylbLG, § 7 SGB II RdNr 49, Stand Juni 2024; im Ergebnis auch Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, § 7 RdNr 161, Stand März 2024: Keine weiteren Voraussetzungen als die fehlende Erwerbsfähigkeit; G. Becker in Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl 2024, § 7 RdNr 79: Hinsichtlich der Geldleistungen keine Einschränkungen).

20§ 7 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 SGB II enthalten nebeneinander und für sich stehende Anspruchsgrundlagen für Alg II einerseits und Sozialgeld andererseits. Dies schließt es systematisch aus, § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II als ergänzende Voraussetzungen anzusehen, die auch für den Anspruch auf Sozialgeld nach § 7 Abs 2 Satz 1 SGB II iVm § 19 Abs 1 Satz 2 SGB II erfüllt sein müssten. Zudem passen die in § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II genannten Tatbestandmerkmale nicht auf Leistungsberechtigte, die nicht erwerbsfähig sind, soweit sie nicht bereits in den in § 19 Abs 1 Satz 2 SGB II oder § 7 Abs 2 Satz 1 SGB II genannten Merkmalen enthalten sind (vgl zum Ganzen - BSGE 117, 186 = SozR 4-4200 § 7 Nr 39, RdNr 18).

21Bei diesem Befund bedarf es besonderer Gründe, um eine gegen Wortlaut und Systematik gerichtete erweiternde Auslegung vorzunehmen und die Ausschlusstatbestände des § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II auch auf Sozialgeldansprüche anzuwenden (ähnlich bereits - SozR 4-4200 § 7 Nr 14 RdNr 17).

22Bezogen auf den seit dem in § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II (idF des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien <RL> der Europäischen Union vom - BGBl I 1970) geregelten Ausschlusstatbestand für Leistungsberechtigte nach § 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) hatte das BSG zu der entsprechenden Vorgängerregelung (§ 7 Abs 1 Satz 2 SGB II aF) solche Gründe angenommen und daraus gefolgert, dass der Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG auch gelte für nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige, die mit einem Leistungsempfänger nach dem SGB II in Bedarfsgemeinschaft leben ( - SozR 4-4200 § 7 Nr 14 RdNr 17 ff; bestätigt durch - SozR 4-4200 § 7 Nr 56 - RdNr 16 ff, bereits zu § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II). Trotz entgegenstehender systematischer Gesichtspunkte würden die Entstehungsgeschichte dieses Ausschlusstatbestandes sowie sein Sinn und Zweck für einen Leistungsausschluss auch bei nicht erwerbfähigen Leistungsberechtigten sprechen. Der historische Gesetzgeber habe mit dem AsylbLG ein eigenständiges und abschließendes Regelungssystem schaffen wollen, das für die Berechtigten solcher Leistungen als vorrangig zu gelten habe ( - SozR 4-4200 § 7 Nr 14 RdNr 17 f).

23Diese an die Abgrenzung der Grundsicherungssysteme, also an eine gesetzesübergreifende Systematik, anknüpfende Argumentation ist indes auf den Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II nicht übertragbar. Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck dieses zum durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher RLen der Europäischen Union vom (BGBl I 1970) eingefügten Ausschlusstatbestandes für die ersten drei Monate eines Aufenthalts unterscheiden sich wesentlich vom Ausschluss (aller) Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG. Mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher RLen der Europäischen Union war beabsichtigt, lediglich auf die Neuordnung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger zu reagieren und nicht zugleich die Leistungsberechtigung anderer Ausländer über die bisherige Regelung hinaus einzuschränken (vgl - SozR 4-4200 § 7 Nr 33 RdNr 22). Gleiches gilt im Übrigen für den bereits zum eingefügten Ausschlusstatbestand bei einem Aufenthaltsrecht, das sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt (§ 7 Abs 1 Satz 2 Alt 1 SGB II aF, eingefügt durch das Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom - BGBl I 558; jetzt § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II; vgl dazu BT-Drucks 16/688 S 13).

24Ausweislich der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 16/5065 S 234) soll der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II "vor allem Unionsbürger" betreffen. Die Gesetzesänderung beruht darauf, dass die RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (sog "Unionsbürger-Richtlinie", ABl EU Nr L 158,77, berichtigt ABl EU Nr L 229, 35), umgesetzt und von der Option des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG Gebrauch gemacht werden sollte. Auf die Personengruppe der Drittstaatsangehörigen und insbesondere die Situation des Familiennachzugs eines Drittstaatsangehörigen gehen die Gesetzesmaterialien nicht ein. Zweck der Gesetzesänderung war es vielmehr, einen denkbaren Leistungsanspruch von Unionsbürgern auszuschließen, die sich drei Monate lang voraussetzungslos im Bundesgebiet aufhalten dürfen (vgl BT-Drucks 16/5065 S 234; dazu im Einzelnen - SozR 4-4200 § 7 Nr 33 RdNr 22). Es ist danach bereits zweifelhaft, ob die Regelung trotz des Wortlauts, der sich ohne weitere Einschränkung auf Ausländerinnen und Ausländer bezieht, nach ihrem Sinn und Zweck auf Drittstaatsangehörige - wie die Kläger - überhaupt Anwendung findet.

25Vor diesem Hintergrund vermag der Senat nicht zu erkennen, dass es - dem Ausschluss von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG entsprechend - eine gesetzesübergreifende Systematik erforderlich macht oder es vom Gesetzgeber beabsichtigt gewesen sein könnte, nichterwerbsfähige Personen aus Drittstaaten vom Sozialgeldbezug auszuschließen. Vielmehr ist das Verhältnis von § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II und § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II zu § 7 Abs 2 Satz 1 SGB II allein eine Frage der Binnensystematik der Norm und deshalb nicht anders zu bestimmen als das Verhältnis von § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II zu § 7 Abs 2 Satz 1 SGB II. Danach findet der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II keine Anwendung bei Ansprüchen auf Sozialgeld nach § 7 Abs 2 SGB II iVm § 19 Abs 1 Satz 2 SGB Il.

26Nichts anderes folgt im Übrigen daraus, dass in § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II neben "Ausländerinnen und Ausländer" auch deren Familienangehörige aufgeführt werden (vgl Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, § 7 RdNr 134, Stand März 2024; Leopold in jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 7 RdNr 112, Stand ). Denn auch insoweit bietet die Entstehungsgeschichte keine Anhaltspunkte dafür, dass über die Umsetzung der RL 2004/38/EG hinaus, in der Familienangehörige ebenfalls genannt sind, § 7 Abs 2 SGB II modifiziert werden sollte. Ausdrücklich werden in den Gesetzesmaterialien zur Einfügung des Ausschlusstatbestandes in Fällen des Aufenthalts nur zur Arbeitsuche (jetzt § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst b SGB II) auf die Definition des Begriffs "Familienangehöriger" in § 3 Abs 2 FreizügG/EU abgestellt, als Zielgruppe der Vorschrift erwerbsfähige Ausländer genannt, bei denen die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen vorliegen, und zudem ausgeführt, dass der Leistungsausschluss schon dann nicht Platz greifen soll, falls Unionsbürger einem deutschen Familienangehörigen nachziehen (BT-Drucks 16/688 S 13; vgl auch - SozR 4-4200 § 7 Nr 33 RdNr 22).

27Dem Umstand, dass "Familienangehörige" in den Ausschlusstatbeständen § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und 2 SGB II aufgeführt sind, kommt deshalb sowohl in Bezug auf § 7 Abs 2 SGB II als eigenständige Rechtsgrundlage für Sozialgeld, als auch für dessen systematische Verknüpfung zur Definition der Bedarfsgemeinschaft in § 7 Abs 3 SGB II keine Bedeutung zu. Es gilt, dass § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II zuvörderst erwerbsfähige Ausländer betrifft und erst im Verhältnis zu diesen - gleichsam im Nachgang - deren Familienmitglieder. Hier sind die Kläger jedoch nicht erwerbsfähig. Sie sind auch nicht Familienangehörige einer ausgeschlossenen erwerbsfähigen Person, sondern des erwerbsfähigen leistungsberechtigten E.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:170724UB7AS323R0

Fundstelle(n):
IAAAJ-78658