BFH  v. - X R 13/23

Wirksame förmliche Ersatzzustellung durch Einlegen in einen Briefkasten setzt den vorherigen Versuch einer Übergabe des Schriftstücks voraus

Leitsatz

1. NV: Eine wirksame Ersatzzustellung durch Einlegen in einen Briefkasten (§ 180 der ZivilprozessordnungZPO—) setzt voraus, dass zuvor ein erfolgloser Versuch der Ersatzzustellung in der Wohnung oder den Geschäftsräumen des Adressaten (§ 178 Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO) unternommen wurde (Anschluss an Senatsurteil vom  - X R 14/21, BFHE 277, 88, BStBl II 2023, 588).

2. NV: Auch bei einer Zustellung in Geschäftsräumen an Samstagen muss zunächst versucht werden, die Zustellung durch persönliche Übergabe zu bewirken. Es kommt nicht darauf an, ob in dem Geschäftsraum tatsächlich eine Person anwesend war, die das Schriftstück persönlich hätte entgegennehmen können. Entscheidend ist vielmehr, dass die Zustellperson einen Sachverhalt (vorheriger Versuch einer persönlichen Übergabe) beurkundet hat, der nicht dem tatsächlichen Geschehensablauf entspricht.

Gesetze: ZPO § 177; ZPO § 178 Abs. 1 Nr. 1, 2; ZPO § 180 Satz 1; ZPO § 182 Abs. 1 Satz 2; ZPO § 189; ZPO § 418 Abs. 1, 2; FGO § 53 Abs. 2; FGO § 97; FGO § 124

Instanzenzug: (EFG 2023, 1560)

Tatbestand

I.

1 Das angefochtene Urteil des Finanzgerichts (FG) wurde ausweislich der Zustellungsurkunde am , einem Samstag, in den Briefkasten der Kanzlei der vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten (P) des Klägers und Revisionsklägers (Kläger), einer Steuerberatungs-GmbH, eingelegt. In der Zustellungsurkunde hat die Zustellerin vermerkt, sie habe das Schriftstück zu übergeben versucht. Weil die Übergabe des Schriftstücks in der Wohnung oder in dem Geschäftsraum nicht möglich gewesen sei, habe sie das Schriftstück in den zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten eingelegt. Die —vom FG zugelassene— Revision ging am beim Bundesfinanzhof (BFH) ein.

2 Auf einen Hinweis der Senatsvorsitzenden, dass die Revision verspätet eingelegt worden sein dürfte, hat der Kläger vorgetragen, die Kanzlei der P sei am nicht besetzt gewesen. Am darauffolgenden Montag () habe die stets zuverlässig arbeitende Bürovorsteherin der P dem Kanzleibriefkasten zwei gewöhnliche Briefumschläge entnommen. Einer davon habe die angefochtene Entscheidung des FG enthalten. Er sei in keiner Weise als Zustellungsnachricht erkennbar oder mit einem Zustellungsdatum versehen gewesen. Das Fehlen des Zustellungsdatums auf dem Briefumschlag stelle nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung einen Zustellungsmangel dar, der zur Unwirksamkeit der Zustellung führe und erst im Zeitpunkt der tatsächlichen Kenntnisnahme —hier am Montag, dem — geheilt werde. Damit sei die Revision fristgerecht eingelegt worden.

3 Auf eine Bitte des Senats, den Briefumschlag vorzulegen, hat der Kläger erklärt, dieser sei von P nicht aufbewahrt worden, da keine atypisch lange Postlaufzeit vorgelegen habe.

4 Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung Beweis erhoben durch Vernehmung der Postzustellerin. Diese hat unter anderem ausgesagt, dass sie am fraglichen Zustellungstag nicht an der Kanzlei geklingelt habe. Sie habe den Briefumschlag direkt in den Briefkasten eingelegt. Dies sei so vorgesehen bei Unternehmen, die am Samstag geschlossen seien, aber einen von außen zugänglichen Briefkasten hätten.

5 Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung die Revision zurückgenommen, soweit sie sich auch auf den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den bezogen hatte, und beantragt nunmehr, das angefochtene Urteil und die Einspruchsentscheidung vom aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 2019 vom dahingehend zu ändern, dass ein Investitionsabzugsbetrag in Höhe von 85.000 € für die beabsichtigte Errichtung einer Photovoltaikanlage berücksichtigt wird.

6 Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt) beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.

7 Es sei nicht plausibel, dass die Entscheidung des FG in einem gewöhnlichen, nicht als förmliche Zustellung erkennbaren Briefumschlag übersandt worden sein soll. Die Zustellungsurkunde und der zugehörige „gelbe Briefumschlag“ seien schon durch die Einschubtasche aufeinander abgestimmt und würden im Rahmen eines Zustellungsauftrags stets gemeinsam verwendet. Da die Zustellungsurkunde dem FG vorliege, müsse die Zustellerin diese Urkunde ausgefüllt und an das FG zurückgesandt haben. Dann hätte sie aber bemerken müssen, wenn die zuzustellende Entscheidung —entsprechend dem Vorbringen des Klägers— nicht in einen gelben Briefumschlag eingelegt worden wäre.

Gründe

II.

8 Der Senat entscheidet über die Frage der Zulässigkeit der Revision durch Zwischenurteil gemäß § 121 Satz 1, § 97 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

9 Nach § 97 FGO kann über die Zulässigkeit der Klage durch Zwischenurteil vorab entschieden werden. Diese Regelung ist gemäß § 121 Satz 1 FGO auch in Bezug auf die Zulässigkeit der Revision anzuwenden, sofern die Revision nicht unzulässig ist und daher gemäß § 126 Abs. 1 FGO zwingend durch Beschluss verworfen werden muss (Senatsurteil vom  - X R 14/21, BFHE 277, 88, BStBl II 2023, 588, Rz 11, m.w.N.).

10 Der Erlass eines Zwischenurteils ist im vorliegenden Verfahren sachgerecht. Hierdurch wird die zwischen den Beteiligten bestehende Ungewissheit über die Zulässigkeit der Revision beseitigt, so dass sich der Rechtsstreit im weiteren Verlauf auf die eigentlichen Streitfragen konzentrieren kann.

III.

11 Die Revision ist zulässig. Insbesondere hat der Kläger die einmonatige Frist für die Einlegung der Revision gewahrt.

12 Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme ist der Senat davon überzeugt, dass die Zeugin in ihrer Eigenschaft als Postzustellerin am vor der Einlegung der förmlich zuzustellenden Sendung mit dem vorinstanzlichen Urteil in den Briefkasten der P keinen Versuch einer persönlichen Übergabe in den Geschäftsräumen der Kanzlei unternommen hat (dazu unten 1.). Ohne einen solchen Übergabeversuch ist die Zustellung wegen Verstoßes gegen § 180 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) unwirksam (unten 2.). Der Zustellungsmangel ist erst am geheilt worden, so dass mit dem Eingang der Revisionsschrift beim BFH am die hierfür geltende einmonatige Frist gewahrt worden ist (unten 3.).

13 1. Die Zeugin hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor der Einlegung der Sendung in den Kanzleibriefkasten der P keinen Versuch einer persönlichen Übergabe unternommen.

14 a) Wenn es um die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Revision (§ 124 FGO) geht, ist auch das Revisionsgericht zu eigenen Tatsachenfeststellungen einschließlich einer Beweisaufnahme berechtigt und gegebenenfalls verpflichtet, wobei das Freibeweisverfahren ausreichen kann (Senatsurteil vom  - X R 14/21, BFHE 277, 88, BStBl II 2023, 588, Rz 16, m.w.N.).

15 b) Eine Zustellungsurkunde begründet gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 418 Abs. 1 ZPO wie eine öffentliche Urkunde —weiterhin— den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, obwohl die Postdienstleistungen mittlerweile durch private Unternehmen erbracht werden und Zustellungsurkunden lediglich aus vorgedruckten und anzukreuzenden Textbausteinen bestehen. Der Beweis der Unrichtigkeit der in der Urkunde bezeugten Tatsachen ist allerdings zulässig (§ 418 Abs. 2 ZPO). Dieser Gegenbeweis erfordert die volle Überzeugung des Gerichts von einem anderen als dem beurkundeten Sachverhalt (vgl. , Neue Juristische Wochenschrift 2017, 2285, Rz 18, m.w.N.). Ein solcher Gegenbeweis ist hier erbracht.

16 c) Der Senat ist davon überzeugt, dass die Zeugin am nicht versucht hat, die Sendung mit dem vorinstanzlichen Urteil vor dem Einlegen in den Kanzleibriefkasten persönlich zu übergeben, insbesondere nicht die zu den Kanzleiräumen gehörende Klingel betätigt hat.

17 aa) Die Zeugin hat ausgesagt, sie habe am fraglichen Zustellungstag nicht an der Kanzlei geklingelt. So sei es bei Unternehmen, die am Samstag geschlossen seien, aber einen von außen zugänglichen Briefkasten hätten, auch vorgesehen.

18 bb) Der Senat ist von der Glaubwürdigkeit der Zeugin überzeugt und hält ihre Aussage für glaubhaft. Die Zeugin ist eine langjährig erfahrene Zustellerin. Sie hat alle von der Richterbank und den Vertretern der Beteiligten gestellten Fragen ohne Zögern, selbstbewusst und offen beantwortet. Auch auf nachdrückliche, insistierende Fragen hat sie sich nicht in inhaltliche Widersprüche verwickelt.

19 Hinzu kommt, dass die Aussage durch sog. Realkennzeichen (vgl. hierzu , BGHSt 45, 164, unter B.II.1.b aa (1), und vom  - 1 StR 47/22, Rz 22) geprägt war. Die Zeugin hat von sich aus Randgeschehen angeführt (der Zettel am Briefkasten, mit dem das Kanzleipersonal sie kurz nach der hier in Rede stehenden Zustellung um ein Gespräch gebeten hatte) und war in der Lage, zwischen den Zeitebenen zu springen.

20 Die Vertreter der Beteiligten haben in der mündlichen Verhandlung über das Ergebnis der Beweisaufnahme ebenfalls keine Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugin und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage geäußert.

21 2. Eine Ersatzzustellung gemäß § 180 Satz 1 ZPO durch Einlegen in den Briefkasten, bei der nicht zuvor der Versuch einer persönlichen Übergabe des Schriftstücks vorgenommen wird, ist unwirksam.

22 a) Finanzgerichtliche Urteile werden von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung zugestellt (§ 53 Abs. 2 FGO). Nach dem Wortlaut des § 180 Satz 1 ZPO setzt die Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten voraus, dass die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO nicht ausführbar ist. Daher ist nach allgemeiner Meinung eine Ersatzzustellung nach § 180 ZPO erst dann zulässig, wenn eine —vorrangige— Ersatzzustellung in der Wohnung oder im Geschäftsraum (§ 178 Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO) nicht erfolgen konnte, insbesondere weil dort keiner der in diesen Vorschriften bezeichneten Ersatzempfänger persönlich angetroffen wurde. Sofern die Zustellperson förmlich beurkundet, sie habe zunächst den Versuch unternommen, das Schriftstück persönlich zu übergeben, obwohl diese von ihr abgegebene Erklärung nicht der Wahrheit entspricht, ist die Zustellung unwirksam. Wenn die als Zeugin vernommene Zustellerin —wie im Streitfall— aussagt, sie unternehme bei Betrieben, die am Samstag geschlossen seien, grundsätzlich nicht den Versuch einer persönlichen Übergabe, sondern lege die Sendung sogleich in den Briefkasten ein, ist der in § 418 Abs. 2 ZPO zugelassene Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen geführt (zum Ganzen —in Bezug auf einen vergleichbaren Fall— Senatsurteil vom  - X R 14/21, BFHE 277, 88, BStBl II 2023, 588, Rz 26 ff.).

23 b) Hierfür kommt es auch nicht darauf an, ob am in der Kanzlei der P tatsächlich eine Person anwesend war, die das Schriftstück persönlich hätte entgegennehmen können. Entscheidend ist nicht, ob eine persönliche Übergabe objektiv möglich gewesen wäre, sondern dass die Zustellerin einen Sachverhalt (vorheriger Versuch einer persönlichen Übergabe vor dem Einlegen in den Briefkasten) beurkundet hat, der nicht dem tatsächlichen Geschehensablauf entspricht. Dem kann auch nicht entgegnet werden, es wäre eine bloße Förmelei, an einem Samstag in einem Geschäftshaus die Klingel der Kanzleiräume betätigen zu müssen. Denn gerade bei Freiberuflern ist es durchaus nicht ausgeschlossen, dass sie und/oder ihre Beschäftigten in Zeiten hoher Arbeitsbelastung auch an Samstagen arbeiten und sich zu diesem Zweck in ihren Geschäftsräumen aufhalten, also die persönliche Übergabe des Schriftstücks (§ 177 ZPO) oder eine Ersatzzustellung an einen Beschäftigten (§ 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) durchführbar wäre (vgl. auch hierzu bereits Senatsurteil vom  - X R 14/21, BFHE 277, 88, BStBl II 2023, 588, Rz 30).

24 3. Verstößt eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gegen zwingende Zustellungsvorschriften, tritt eine Heilung nach § 189 ZPO erst in dem Zeitpunkt ein, in dem der Empfänger das Schriftstück tatsächlich in die Hand bekommt (Beschluss des Großen Senats des , BFHE 244, 536, BStBl II 2014, 645, Rz 65 ff.). Dies war hier mit der Leerung des Briefkastens am Morgen des der Fall. Die dadurch ausgelöste einmonatige Frist für die Einlegung der Revision (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) endete am . Mit dem Eingang der Revisionsschrift beim BFH am ist diese Frist gewahrt worden.

25 4. Da der Senat lediglich ein Zwischenurteil erlässt, bleibt die Kostenentscheidung dem Endurteil vorbehalten.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2024:U.250624.XR13.23.0

Fundstelle(n):
BB 2024 S. 2453 Nr. 43
DStR-Aktuell 2024 S. 9 Nr. 42
JAAAJ-77194