BVerwG Urteil v. - 7 C 1/23

Leitsatz

1. Die Klagebegründungsfrist des § 6 Satz 1 UmwRG kann nur unter den Voraussetzungen des § 6 Satz 4 UmwRG verlängert werden. Eine außerhalb dieser Vorschrift durch das Gericht gewährte Verlängerung ist wirkungslos.

2. Verlängert das Gericht die Klagebegründungsfrist des § 6 Satz 1 UmwRG, obwohl die Voraussetzungen des § 6 Satz 4 UmwRG nicht vorliegen, so kann eine im Vertrauen auf die richterliche Verfügung erst verspätet eingereichte Klagebegründung im Sinne des § 6 Satz 2 UmwRG i. V. m. § 87b Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls zur Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) entschuldigt sein.

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern Az: 5 K 448/21 OVG Urteil

Tatbestand

1Die klagende Gemeinde wendet sich gegen eine der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen erteilte Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von zwei Windenergieanlagen (WEA).

2Einer beantragten Abweichung von der Abstandsflächenregelung stimmte die Klägerin, die Eigentümerin benachbarter Grundstücke ist, nicht zu. Ebenso verweigerte sie die Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens.

3Mit Bescheid vom genehmigte der Beklagte die Errichtung und den Betrieb der WEA, ersetzte das gemeindliche Einvernehmen und ließ eine Abweichung von der Abstandsflächenregelung zu. Den hiergegen erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin nach erfolgter Akteneinsicht im Juni 2018. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom zurück. Der durch die Beigeladene erhobene und auf bestimmte "Sachverhalte" beschränkte Widerspruch vom ist noch nicht beschieden.

4Mit der Klageerhebung vom hat die Klägerin Einsicht in die Verwaltungsvorgänge beantragt. Am hat der Berichterstatter die Frist zur Begründung der Klage zunächst fernmündlich und sodann unter dem auch schriftlich auf vier Wochen ab Übersendung der Verwaltungsvorgänge verlängert. Am hat die Klägerin die Klage begründet. Der Klägerin ist am Akteneinsicht gewährt worden.

5Die Klage ist ohne Erfolg geblieben. Das Oberverwaltungsgericht hat zur Begründung der Klageabweisung ausgeführt, die Klägerin sei wegen Nichteinhaltung der zehnwöchigen Klagebegründungsfrist mit ihrem gesamten Vorbringen gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 UmwRG ausgeschlossen. Die Vorschrift sei auch bei Streitigkeiten über die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens anwendbar. Die Frist habe nicht verlängert werden können, sodass die tatsächlich erfolgte Verlängerung wirkungslos geblieben sei. Die Klage sei selbstständig tragend auch der Sache nach nicht begründet. Die Erreichbarkeit des Vorhabenstandorts während der Bauphase sei keine Frage der gesicherten Erschließung. Die Errichtung der WEA außerhalb der Eignungsgebiete sei nach dem geltenden Raumordnungsplan ausnahmsweise zulässig, weil das Vorhaben der Erforschung und Erprobung der Windenergietechnik diene. Der Artenschutz sei im Hinblick auf verschiedene Vogelarten durch die Anordnung von Lenkungsflächen hinreichend gewahrt. Schädliche Umwelteinwirkungen würden auch nicht durch Lärm und Schattenwurf verursacht. Die Abstandsregelungen seien eingehalten; dem Vorhaben komme keine bedrängende Wirkung zu.

6Mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, dass das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz auf die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens keine Anwendung finde. Im Übrigen sei das Oberverwaltungsgericht zumindest verpflichtet gewesen, sich mit den im Ausgangsbescheid und im Widerspruchsbescheid angesprochenen Einwendungen der Klägerin zu befassen. Die Klagebegründungsfrist sei zudem grundsätzlich verlängerbar. Das von der Klägerin versagte Einvernehmen sei zu Unrecht durch den Beklagten ersetzt worden. Zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage komme es insoweit auf den Zeitpunkt der Versagung des Einvernehmens und nicht auf denjenigen seiner Ersetzung durch den Beklagten an. Die Erschließung sei nicht gesichert und das Vorhaben verursache unwirtschaftliche Aufwendungen. Das Vorhaben verstoße gegen das Tötungsverbot im Hinblick auf den Rotmilan. Dabei sei maßgeblich auf das von der Klägerin herangezogene Helgoländer Papier abzustellen, das einen Mindestabstand von 1 500 m von den Bruthorsten verlange. Hinsichtlich Mäusebussard und Fledermäusen seien der Klägerin bei der Versagung des Einvernehmens die Lenkungsflächen und Abschaltzeiten, die deren Schutz dienten, noch nicht bekannt gewesen. Gleiches gelte für Abschaltzeiten, die den Schattenwurf beträfen. Bei der Lärmbelastung sei eine Wochenendhaussiedlung nicht berücksichtigt worden. Die Klägerin gehe bezüglich des Abstands zur Wohnbebauung von einer Tabuzone von 1 000 m aus, die nicht eingehalten sei. Schließlich sei der innovative Charakter des Vorhabens nicht erkennbar. Der Hilfsantrag sei erforderlich, weil dem Hauptantrag womöglich das Rechtsschutzbedürfnis fehle. Die Genehmigung sei zwischenzeitlich erloschen, weil die Beigeladene die WEA nicht fristgerecht in Betrieb genommen habe.

7Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben,

hilfsweise

das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom zu ändern und festzustellen, dass der Bescheid des Beklagten vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom rechtswidrig war.

8Der Beklagte und die Beigeladene beantragen jeweils,

die Revision zurückzuweisen.

9Sie verteidigen das angegriffene Urteil. Insbesondere sei die Genehmigung noch nicht erloschen, weil die Beigeladene hiergegen Widerspruch erhoben und damit ihre Unanfechtbarkeit hinausgeschoben habe.

Gründe

10Die zulässige Revision hat keinen Erfolg. Die Klage ist mit dem Hauptantrag zulässig (1.), aber unbegründet (2.). Der Hilfsantrag ist unzulässig (3.).

111. Der Klägerin kommt im Hinblick auf den Hauptantrag das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis zu. Dieses setzt voraus, dass die Klägerin mit der Klage ihre Position verbessern kann. Das wäre etwa dann nicht der Fall, wenn die streitgegenständliche Genehmigung bereits erloschen wäre und die Klägerin damit bereits auf andere Weise ihr Rechtsschutzziel erreicht hätte. Das ist indes nicht der Fall. Die streitgegenständliche Genehmigung ist noch nicht erloschen.

12Gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG erlischt eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung, wenn innerhalb einer von der Genehmigungsbehörde gesetzten angemessenen Frist nicht mit der Errichtung oder dem Betrieb der Anlage begonnen worden ist. Hierdurch soll verhindert werden, dass mit der Errichtung einer Anlage erst zu einem Zeitpunkt begonnen wird, in dem sich die tatsächlichen Verhältnisse, die der Genehmigung zugrunde gelegen haben, wesentlich verändert haben. Auch soll der Erteilung einer Genehmigung "auf Vorrat" entgegengewirkt werden. Für längere Verzögerungen aus wichtigem Grund sieht die Regelung mit Absatz 3 die Möglichkeit der Verlängerung vor (BT-Drs. 7/179 S. 37, zu § 17 BImSchG-E). Vor diesem Hintergrund hat der Beklagte in Ziffer 1.5 des Genehmigungsbescheids geregelt, dass die Genehmigung erlischt, wenn innerhalb von zwei Jahren nach Unanfechtbarkeit für den Adressaten nicht mit dem bestimmungsgemäßen Betrieb der Anlage begonnen worden ist.

13Der Genehmigungsbescheid vom ist trotz seiner fortbestehenden Vollziehbarkeit für die Beigeladene noch nicht unanfechtbar geworden. Das beruht auf ihrem Widerspruch vom . Dieser hemmt den Eintritt der Bestandskraft des Bescheids. Der Widerspruch ist auch nicht nur gegen einzelne Nebenbestimmungen gerichtet. Das könnte zur Bestandskraft der eigentlichen Genehmigung führen, wenn die angegriffenen Nebenbestimmungen aufgehoben werden könnten, ohne dass die Genehmigung an sich ihre Sinnhaftigkeit und Rechtmäßigkeit verlöre (vgl. 11 C 2.00 - BVerwGE 112, 221 <223 f.>). Der Widerspruch wendet sich hier zwar nur gegen einzelne "Sachverhalte" des Genehmigungsbescheids. Hierzu gehört mit der angegriffenen Ziffer 1.2 aber ein Teil der Genehmigung selbst, die damit noch keine Bestandskraft erlangt hat. Dies ergibt sich aus dem Aufbau des Bescheids. Während dieser in Ziffer 1 in insgesamt sechs Unterpunkten die eigentliche Genehmigung nach § 4 BImSchG enthält und auch so überschrieben ist, sind Nebenbestimmungen in Ziffer 3 enthalten. Dadurch wird der vom Adressaten des Bescheids erkennbare Wille der Behörde deutlich, dass die Regelungen der Ziffer 1 den Genehmigungsumfang als solchen beschreiben. So haben der Beklagte und die Beigeladene ihr Verständnis des Bescheids auch übereinstimmend in der mündlichen Verhandlung geschildert. Der Senat ist diesbezüglich nicht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO an tatsächliche Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts gebunden, da das Revisionsgericht die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage jederzeit von Amts wegen zu prüfen hat ( 3 C 6.94 - Buchholz 451.512 MGVO Nr. 110 S. 83). Systematisch steht die Ziffer 1.2 zudem vor der in Ziffer 1.5 enthaltenen Regelung über das Erlöschen der Genehmigung. Auch dadurch wird deutlich, dass Ziffer 1.2 einen Teil der Genehmigung selbst darstellt.

14Der Senat hat nicht zu entscheiden, ob eine angemessene Frist im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG sinnvollerweise an die Unanfechtbarkeit der Genehmigung für den Adressaten anknüpfen sollte. Denn der Adressat hat es so in der Hand, durch Erhebung des ggf. begrenzten Widerspruchs die Unanfechtbarkeit deutlich länger hinauszuzögern, als es das in § 18 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG zum Ausdruck kommende Aktualitätsbedürfnis (s. o. Rn. 12) vorgibt. Hier besteht jedenfalls kein Zweifel, dass die Fristsetzung in Ziffer 1.5 des Bescheids jedenfalls wirksam und vollziehbar ist. Durch den erhobenen und noch nicht beschiedenen Widerspruch der Beigeladenen bleibt die Bestandskraft für die Beigeladene gehemmt und der Fristlauf zum Erlöschen der Genehmigung aufgeschoben.

152. Das Oberverwaltungsgericht hat seine Annahme der Unbegründetheit der Klage selbstständig tragend auf zwei Argumentationsstränge gestützt. Die hiergegen gerichtete Revision kann nur dann Erfolg haben, wenn im Hinblick auf beide Argumentationsstränge Bundesrechtsverstöße vorliegen, auf denen das Urteil beruht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat zwar durch die Annahme, dass die Klägerin aufgrund der Nichteinhaltung der Klagebegründungsfrist des § 6 Satz 1 UmwRG mit sämtlichem Vortrag ausgeschlossen ist, gegen Bundesrecht verstoßen (a). Die weitere, selbstständig tragende Erwägung, dass die Klage auch der Sache nach unbegründet ist, verstößt hingegen nicht gegen Bundesrecht (b).

16a) Gemäß § 6 Satz 1 UmwRG hat eine Person innerhalb einer Frist von zehn Wochen ab Klageerhebung die zur Begründung ihrer Klage gegen eine Entscheidung im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 UmwRG dienenden Tatsachen und Beweismittel anzugeben.

17aa) Ohne Bundesrechtsverstoß ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz und damit die in § 6 Satz 1 UmwRG enthaltene Klagebegründungsfrist Anwendung findet. Dabei kann die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob die Ersetzung des Einvernehmens durch den Beklagten eine Zulassungsentscheidung im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 UmwRG ist, offenbleiben. Den Gegenstand des Rechtsstreits bildet nicht isoliert die Ersetzung des Einvernehmens der Klägerin gemäß § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB. Vielmehr richtet sich die Klage auch ausweislich des gestellten Antrags gegen die immissionsschutzrechtliche Genehmigung von zwei WEA. Bei dieser handelt es sich um eine Zulassung im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 UmwRG.

18bb) Die zehnwöchige Klagebegründungsfrist des § 6 Satz 1 UmwRG setzt an der Klageerhebung als Fristbeginn an. Ohne Bundesrechtsverstoß hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass diese Frist mit dem abgelaufen ist (§ 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 1 und 2 BGB).

19cc) Zu Recht ist das Oberverwaltungsgericht auch davon ausgegangen, dass die Frist nicht wirksam verlängert werden konnte. Gemäß § 57 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 224 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO können richterliche und gesetzliche Fristen abgekürzt oder verlängert werden, wenn erhebliche Gründe glaubhaft gemacht sind; gesetzliche Fristen jedoch nur in den besonders bestimmten Fällen.

20§ 6 Satz 1 UmwRG enthält eine gesetzliche Frist. Eine gesetzliche Bestimmung zur Verlängerung dieser Frist enthält allein § 6 Satz 4 UmwRG. Danach ist eine Verlängerung der Frist durch den Vorsitzenden oder den Berichterstatter möglich, wenn die Person oder die Vereinigung in dem Verfahren, in dem die angefochtene Entscheidung ergangen ist, keine Möglichkeit der Beteiligung hatte (vgl. auch 9 A 8.17 - BVerwGE 163, 380 Rn. 13; Fellenberg/​Schiller, in: Landmann/​Rohmer, Umweltrecht, Stand März 2024, § 6 UmwRG Rn. 41). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Die Klägerin hatte zuvor die Möglichkeit der Beteiligung, die sie auch genutzt hat. Sie hat im Rahmen des Widerspruchsverfahrens am Einsicht in die Verwaltungsvorgänge genommen. Die daraufhin gefertigte Widerspruchsbegründung vom enthält eine substantielle Begründung.

21Daneben sieht das Gesetz keine weitere Möglichkeit der Verlängerung der Klagebegründungsfrist vor. Die gleichwohl durch den Berichterstatter zunächst fernmündlich und sodann schriftlich gewährte Fristverlängerung war wirkungslos. Der Zweck der Klagebegründungsfrist des § 6 Satz 1 UmwRG besteht darin, das Gerichtsverfahren zu straffen und den Prozessstoff zu einem frühen Zeitpunkt handhabbar zu machen. Die innerprozessuale Präklusion tritt kraft Gesetzes und als zwingende Rechtsfolge ein und hängt nicht von einer richterlichen Ermessensentscheidung ab (BT-Drs. 18/12146 S. 16; vgl. 9 A 8.17 - BVerwGE 163, 380 Rn. 14 f. und vom - 7 C 5.18 - BVerwGE 166, 321 Rn. 28; Beschluss vom - 9 B 7.23 - UPR 2023, 527 Rn. 7). Das Gesetz geht davon aus, dass die zehnwöchige Frist ungeachtet der Frage einer Akteneinsicht regelmäßig ausreichend bemessen ist ( 9 B 7.23 - UPR 2023, 527 Rn. 8). Sie greift kraft Gesetzes ein; über sie muss nicht belehrt werden ( 9 A 8.17 - BVerwGE 163, 380 Rn. 15).

22Soweit die zitierte Regierungsbegründung zum Entwurf des § 6 UmwRG auch ausführt, dass ein Fristverlängerungsgrund insbesondere dann vorliegt, wenn einem rechtzeitig gestellten Antrag auf Akteneinsicht nicht rechtzeitig entsprochen wird (BT-Drs. 18/12146 S. 16), ergibt sich aus dem Textzusammenhang, dass dies nur den Fall erfasst, dass eine Möglichkeit zur Beteiligung zuvor (überhaupt) nicht bestanden hat, was sich wiederum auf die gesetzlich gegebene Verlängerungsmöglichkeit des § 6 Satz 4 UmwRG, aber auch nur auf diese bezieht. Erfasst werden demnach Fälle, in denen im Verwaltungsverfahren keine Akteneinsicht gewährt wurde (Marquard, NVwZ 2019, 1162 <1165, bei Fn. 48>), ein Umstand, der hier nicht gegeben ist.

23Auch überzeugt die Ansicht des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts nicht, das davon ausgeht, dass auch im Fall des § 6 Satz 1 UmwRG eine richterliche Fristverlängerung wirksam, selbst wenn sie verfahrensfehlerhaft ergangen sein sollte; eine äußerste Grenze gelte nur bei besonders schweren Verfahrensfehlern (OVG Lüneburg, Beschluss vom - 12 LA 150/19 - ZUR 2020, 545 <547>). Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht verkennt dabei, dass die von ihm zur Begründung herangezogene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ( 6 C 15.01 - Buchholz 310 § 67 VwGO Nr. 101 S. 8 f., m. w. N. zu entsprechender Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs), die eine Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist gemäß § 124a Abs. 3 Satz 3 VwGO für wirksam erachtete, obwohl der Antrag hierzu gegen den Vertretungszwang verstoßen hatte, eine Frist betrifft, die grundsätzlich auf gesetzlicher Grundlage im Ermessen des Gerichts verlängerbar ist. Lediglich die auf Seiten des Beteiligten zu erfüllenden formellen Voraussetzungen waren nicht gegeben. Bei § 6 Satz 1 UmwRG handelt es sich demgegenüber um eine dem Grundsatz nach nicht verlängerbare Frist; lediglich § 6 Satz 4 UmwRG sieht unter einer hier nicht gegebenen Voraussetzung eine Verlängerungsmöglichkeit vor.

24dd) Mit der Annahme, die Versäumung der Frist sei nicht zu entschuldigen, verstößt das Oberverwaltungsgericht allerdings gegen Bundesrecht. § 6 Satz 2 UmwRG i. V. m. § 87b Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO sieht eine Entschuldigungsmöglichkeit für die Versäumung der Klagebegründungsfrist vor, deren Voraussetzungen hier gegeben sind. Gemäß § 6 Satz 2 UmwRG sind Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der Frist vorgebracht werden, nur zuzulassen, wenn die Voraussetzung des § 87b Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO erfüllt sind. Nach dieser Vorschrift können verspätete Erklärungen und Beweismittel zurückgewiesen werden, wenn der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt. Im vorliegenden Einzelfall ist von einer genügenden Entschuldigung der verspäteten Vorlage der Klagebegründung auszugehen.

25(1) Dies ergibt sich allerdings nicht aus dem Umstand, dass der Klägerin während des Klageverfahrens nicht innerhalb der Klagebegründungsfrist Akteneinsicht gewährt worden ist. Das Gesetz geht vielmehr regelmäßig davon aus, dass die zehnwöchige Klagebegründungsfrist auch ungeachtet der Gewährung von Akteneinsicht ausreichend bemessen ist (s. o. Rn. 21). Ein Kläger wird regelmäßig bis zum Ablauf der Klagebegründungsfrist all das vorzutragen haben, was ihm aufgrund seiner bisherigen Beteiligung am Verfahren möglich ist. Für den Fall, dass er bislang keine Möglichkeit der Beteiligung hatte, sieht § 6 Satz 4 UmwRG ohnehin die mögliche Verlängerung der Frist vor. Im konkreten Fall waren der Klägerin die Verwaltungsvorgänge aus der ihr gewährten Akteneinsicht im Widerspruchsverfahren bekannt. Tatsächlich hat sie ihre Klagebegründung auch vorgelegt, bevor ihr im Klageverfahren erneut Akteneinsicht gewährt wurde. Die Klägerin hat hiernach keinen neuen Vortrag unterbreitet, sondern lediglich vorhandenen Vortrag vertieft.

26(2) Die Fristsäumnis ist aber zu entschuldigen, weil die Klägerin bei Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls auf die zweifache Fristverlängerung durch den Berichterstatter vertrauen durfte.

27Grundsätzlich darf sich ein Prozessbevollmächtigter bei klarer Rechtslage nicht auf eine falsche Auskunft durch das Gericht verlassen ( - BVerfGE 110, 339 <344>). Hier bestehen allerdings schon Zweifel an einer eindeutigen Rechtslage zum Zeitpunkt der Fristversäumung. Sowohl die Beteiligten als auch im Anschluss daran das Oberverwaltungsgericht gingen - irrtümlich - davon aus, dass es bei der Einordnung der maßgeblichen Entscheidung zur Eröffnung des Anwendungsbereichs des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes um die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB und nicht um die angefochtene immissionsschutzrechtliche Genehmigung ging. Zu der Frage, ob die Ersetzungsentscheidung als solche § 1 Abs. 1 Satz 1 UmwRG unterfällt, lag und liegt soweit ersichtlich noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vor.

28Ungeachtet dessen können die Umstände des Einzelfalls auch bei klarer Rechtslage ein Vertrauen auf eine falsche richterliche Auskunft entschuldigt erscheinen lassen. Dies folgt aus dem in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Recht auf ein faires Verfahren, wonach bei falscher richterlicher Auskunft die Anforderungen an eine Entschuldigung nicht überspannt werden dürfen ( - BVerfGE 110, 339 <342 ff.>). Hier ist neben der womöglich unklaren Rechtslage zur Anwendbarkeit des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes vor allem zu berücksichtigen, dass der Berichterstatter die Frist nicht nur fernmündlich auf den Antrag der Klägerin hin verlängert, sondern diese Verlängerung nach einer Woche möglicher Reflexion schriftlich bestätigt hat. Angesichts der wiederholten gerichtlichen Verfügung und unter Berücksichtigung der übrigen Umstände musste die Klägerin nicht "schlauer" als das Gericht sein, sondern durfte auf die Fristverlängerung vertrauen und diese damit ausschöpfen.

29Rechtlich geschützte Belange der übrigen Verfahrensbeteiligten sind nicht betroffen. Die Vorschrift des § 87b Abs. 3 VwGO entfaltet keinen Drittschutz zu deren Gunsten ( 4 C 1.22 - BVerwGE 178, 371 Rn. 81).

30b) Das Urteil beruht nicht auf diesem Bundesrechtsverstoß (§ 137 Abs. 1 VwGO). Ohne einen Verstoß gegen revisibles Recht hat das Oberverwaltungsgericht angenommen, dass der Beklagte das Einvernehmen der Klägerin gemäß § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB ersetzen durfte.

31Gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB darf die Gemeinde ihr Einvernehmen nur aus den sich aus §§ 31, 33, 34 und 35 ergebenden Gründen versagen, hier also aus den Gründen des § 35 BauGB, weil es sich um ein Vorhaben im Außenbereich handelt. Auf das Rechtsmittel der Gemeinde sind die Voraussetzungen der genannten Vorschriften voll nachzuprüfen ( 4 C 7.09 - BVerwGE 137, 74 Rn. 34 und vom - 4 C 1.19 - BVerwGE 169, 207 Rn. 26).

32Nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben im Außenbereich zulässig, wenn öffentliche Belange nicht entgegenstehen, die ausreichende Erschließung gesichert ist und wenn es einen Privilegierungstatbestand erfüllt. Das Fehlen dieser Voraussetzungen darf die Gemeinde rügen ( 4 C 5.15 - BVerwGE 156, 1 Rn. 14). Zur Sicherung der planerischen Handlungsfreiheit trifft § 36 Abs. 1 BauGB Vorsorge dafür, dass die Gemeinde als sachnahe und fachkundige Behörde in Ortsteilen, in denen sie noch nicht geplant hat, an der Beurteilung der bebauungsrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen mitentscheidend beteiligt wird ( 4 C 5.99 - NVwZ 2000, 1048 <1049> Rn. 20).

33Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist - entgegen der Auffassung der Klägerin - derjenige des Erlasses des mit der Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens verbundenen Bescheids ( 4 C 1.19 - BVerwGE 169, 207 Rn. 26). Erweist sich danach die Ersetzung als rechtswidrig, hat die Anfechtungsklage der Gemeinde Erfolg.

34aa) Das Oberverwaltungsgericht ist ohne Bundesrechtsverstoß davon ausgegangen, dass von dem Vorhaben keine schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinne von § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB ausgehen.

35(1) Im Hinblick auf das Lärmgutachten macht die Revision geltend, dass die Lärmbelastung bei der Wochenendhaussiedlung V. außer Acht gelassen worden sei. Damit dringt die Revision der Sache nach auf weitere tatsächliche Feststellungen, ohne im Sinne des § 137 Abs. 2 VwGO eine Verfahrensrüge zu erheben. Dem kann das Revisionsgericht, das an die tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts gemäß der genannten Vorschrift gebunden ist, nicht nachgehen.

36(2) Ein Bundesrechtsverstoß liegt auch nicht im Hinblick auf die Schattenwurfproblematik vor. Gemäß Ziffer 3.11.2 der Auflagen zum Genehmigungsbescheid sind die WEA mit einem Abschaltkonzept zu betreiben, das sicherstellt, dass an allen von Schattenwurf betroffenen Immissionsorten Schattenwurf nicht mehr als 30 Minuten täglich und/​oder 8 Stunden pro Jahr hervorgerufen wird. Dies entspricht einer sog. Faustformel, die auf Grundlage der "Hinweise zur Ermittlung und Beurteilung der optischen Immissionen von WEA" der Bund-/Länderarbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz (LAI) als fachlich begründeter Orientierungswert angewendet wird (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom - 8 S 534/15 - juris Rn. 50 ff.).

37Diese Faustformel wird von der Revision nicht in Zweifel gezogen. Die Revision macht aber geltend, dass die Auflage 3.11.2 der Klägerin zum Zeitpunkt der Versagung des Einvernehmens noch nicht bekannt und dieses damit zum Entäußerungszeitpunkt rechtmäßig gewesen sei. Darauf kommt es indes nicht an. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des angefochtenen Genehmigungsbescheids ist derjenige seines Erlasses (s. o. Rn. 33). Die Genehmigungsbehörde darf das gemeindliche Einvernehmen ersetzen, wenn zum Zeitpunkt der mit der Ersetzung verbundenen Genehmigungserteilung die Voraussetzungen für eine Versagung des Einvernehmens nicht (mehr) vorliegen. Das Einvernehmenserfordernis schützt den planerischen Handlungsspielraum der Gemeinde (s. o. Rn. 32). Dieser soll nicht durch rechtswidrige Bauvorhaben eingeschränkt werden. Verstößt ein Vorhaben zum Zeitpunkt der Erteilung der Genehmigung nicht gegen geltendes Recht, besteht jedoch kein berechtigtes Interesse der Gemeinde, das Vorhaben zu verhindern. Das entspricht auch der Konzeption, dass eine Gemeinde, die die Frist des § 36 Abs. 2 BauGB verstreichen lässt und deren Einvernehmen damit gemäß § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB fingiert wird, sich vor Gericht noch auf solche Umstände berufen kann, die erst nach dieser Fiktion, aber vor Erlass des Genehmigungsbescheids entstanden sind (vgl. 4 C 1.19 - BVerwGE 169, 207 Rn. 22, 25).

38(3) Im Hinblick auf Abstandsflächen kann kein Bundesrechtsverstoß vorliegen, weil diese sich nach nicht revisiblem Landesrecht (hier § 6 i. V. m. § 67 der Landesbauordnung Mecklenburg-Vorpommern) richten.

39(4) Ohne Verstoß gegen Bundesrecht ist das Oberverwaltungsgericht auch davon ausgegangen, dass von den WEA keine optisch bedrängenden Wirkungen ausgehen. Eine optisch bedrängende Wirkung durch Gebäude stellt eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots dar. Ob eine optisch bedrängende Wirkung vorliegt, ist eine Frage des Einzelfalls (BVerwG, Beschlüsse vom - 4 B 72/06 - NVwZ 2007, 336 Rn. 4 und vom - 7 B 15.21 - NVwZ 2022, 1634 Rn. 17).

40Soweit sich das Oberverwaltungsgericht zur Bewertung des optisch bedrängenden Charakters des Vorhabens auf die Faustformel bezieht, dass bei einem Abstand wenigstens vom Dreifachen der Gesamtanlagenhöhe (Nabenhöhe + halber Rotordurchmesser) eine optisch bedrängende Wirkung nicht besteht, handelt es sich hierbei um eine Erfahrungstatsache, die als tatsächliche Feststellung gemäß § 137 Abs. 2 VwGO für den Senat bindend ist und nicht mit einer Verfahrensrüge angegriffen worden ist. Zu unterscheiden ist eine Erfahrungstatsache von einem - revisiblen - allgemeinen Erfahrungssatz dadurch, dass sie Ausnahmen zulässt, während ein allgemeiner Erfahrungssatz insoweit starr ist ( 4 B 36.10 - ZfBR 2011, 275).

41Das Oberverwaltungsgericht hat der Faustformel keinen so unbedingten Charakter zugewiesen, sondern konstatiert, dass bei ihrer Einhaltung "die vorzunehmende Einzelfallprüfung überwiegend zu dem Ergebnis kommen muss, dass von einer solchen Anlage keine optisch bedrängende Wirkung zu Lasten der Wohnnutzung ausgeht". Es hat deshalb mit der Faustformel keinen Rechtssatz aufgestellt, der den Gegenstand des Revisionsverfahrens bilden könnte, sondern eine Erfahrungstatsache festgestellt. Es hat zudem festgestellt, dass weitere Umstände des Einzelfalls, die gleichwohl die Annahme einer optisch bedrängenden Wirkung rechtfertigen könnten, nicht vorgetragen seien. Dem gegenüber bleibt die Klägerin jegliche Erklärung schuldig, worauf sie die von ihr für richtig erachtete 1 000 m-Tabuzone stützt und wie sie zu der Erkenntnis gelangt, dass grundsätzlich die von ihr hier angenommene kleinere offene Landschaftsfläche automatisch dazu führen müsse, dass die bedrängende Wirkung der WEA vergleichsweise größer ausfalle.

42Soweit sich die Klägerin auch auf das in ihrem Eigentum stehende Grundstück Flur ... Flurstück ... beruft, ist dies für die bedrängende Wirkung unbeachtlich, weil es unbebaut ist.

43bb) Auch im Hinblick auf unwirtschaftliche Aufwendungen im Sinne des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 BauGB ist mangels entsprechender tatsächlicher Feststellungen durch das Oberverwaltungsgericht kein Bundesrechtsverstoß festzustellen. Die Klägerin beruft sich in ihrer Revisionsbegründung auf unwirtschaftliche Aufwendungen für Straßen und andere Verkehrseinrichtungen im Sinne der o. g. Vorschrift. Es sei nicht ausgeschlossen, dass infolge des Vorhabens Erschließungskosten auf sie zukämen. Das Oberverwaltungsgericht hat sich in dem angegriffenen Urteil nicht mit dieser Problematik befasst. Das Urteil enthält entsprechend keinerlei tatsächliche Feststellungen zu diesem Komplex. Die Klägerin hat diesen Umstand nicht mit einer Verfahrensrüge beanstandet.

44cc) Ein Bundesrechtsverstoß besteht auch nicht im Hinblick auf den Artenschutz.

45(1) Das Oberverwaltungsgericht hat angenommen, dass aufgrund der angeordneten Einrichtung von Lenkungsflächen als Vermeidungsmaßnahmen sich das Tötungs- und Verletzungsrisiko für Rotmilane nicht signifikant erhöht. Dabei stützt es sich, wie der Beklagte, auf die Artenschutzrechtliche Arbeits- und Beurteilungshilfe für die Errichtung und den Betrieb von Windenergieanlagen (AAB-WEA), Teil Vögel und Fledermäuse, Stand . Diese beruhe auf landesweiten fachlichen Erkenntnissen und Erfahrungen. Ihr komme deshalb eine besondere Bedeutung im Land Mecklenburg-Vorpommern zu.

46Die Revision sieht hingegen das Tötungsverbot als verletzt an. Sie ist der Auffassung, dass für dessen Beurteilung die Empfehlungen der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarte (sog. Helgoländer Papier) maßgeblich sind. Die vom Beklagten herangezogene AAB-WEA, nach welcher in der Zone zwischen 1 und 2 km Abstand zu den Brutstätten der Rotmilane WEA zulässig sein können, wenn dort vorgesehene Lenkungsmaßnahmen ergriffen werden, sei rechtsfehlerhaft. Es sei nicht belegt, dass diese Lenkungsmaßnahmen ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko ausschlössen. Das zeige letztlich auch der Umstand, dass der Beklagte zusätzlich ein Monitoring angeordnet habe.

47Gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG ist es verboten, wild lebende Tiere der besonders geschützten Arten zu töten. Nach dem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Signifikanzansatz ist der Tatbestand des Tötungsverbots erst dann erfüllt, wenn das Vorhaben dieses Risiko in einer für die betroffene Tierart signifikanten Weise erhöht. Umstände, die für die Beurteilung der Signifikanz eine Rolle spielen, sind insbesondere artspezifische Verhaltensweisen und die Wirksamkeit vorgesehener Schutzmaßnahmen ( 9 A 8.17 - Buchholz 406.254 UmwRG Nr. 29 Rn. 98). Der Gesetzgeber hat den Signifikanzansatz durch das Gesetz zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes vom (BGBl. I S. 3434) in die Neufassung des § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BNatSchG aufgenommen. Danach liegt ein Verstoß gegen das Tötungs- und Verletzungsverbot nicht vor, wenn die Beeinträchtigung durch den Eingriff oder das Vorhaben auch unter Berücksichtigung von Vermeidungsmaßnahmen das Tötungs- und Verletzungsrisiko für Exemplare der betroffenen Art nicht signifikant erhöht und diese Beeinträchtigung unvermeidbar ist. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/11939 S. 17) soll der in der Praxis bewährte Signifikanzansatz des Bundesverwaltungsgerichts mit der Regelung bestätigt werden. Aus Sicht des Artenschutzes macht es keinen Unterschied, ob die durch ein Vorhaben verursachten Beeinträchtigungen von vornherein als artenschutzverträglich einzustufen sind oder ob sie diese Eigenschaft erst dadurch erlangen, dass entsprechende Schutzvorkehrungen angeordnet und getroffen werden ( 7 C 4.21 - BVerwGE 176, 313 Rn. 23 f.).

48Im Hinblick auf die danach erforderlichen naturschutzfachlichen Einschätzungen sind zunächst sogenannte Fachkonventionen maßgeblich, die hier jedoch nicht vorliegen. Stützt sich die Behörde in Ermangelung solcher Fachkonventionen auf andere fachwissenschaftliche Expertise, ist diese vom Gericht auf die konkrete Kritik der Kläger hin zu überprüfen, ob die herangezogenen Untersuchungen sowohl in ihrem methodischen Vorgehen als auch in ihrer Ermittlungstiefe ausreichen, um die Behörde in die Lage zu versetzen, die Voraussetzungen der artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände sachgerecht zu prüfen ( 9 B 5.20 - NVwZ 2021, 254 Rn. 18). Entscheidet sich die Behörde für eine von mehreren wissenschaftlichen Herangehensweisen, so muss sie ihre Methodenwahl nachvollziehbar begründen ( 9 A 20.05 - BVerwGE 128, 1 Rn. 109).

49Vor diesem Hintergrund dringt die Revision mit ihrem Einwand, dass es zwingend auf die von der Klägerin für maßgeblich gehaltene fachwissenschaftliche Expertise ankomme, nicht durch. Denn das Oberverwaltungsgericht hat für den Senat bindend (§ 137 Abs. 2 VwGO) festgestellt, dass die AAB-WEA auf landesweiten fachlichen Erkenntnissen und Erfahrungen beruht und ihr deshalb eine besondere Bedeutung im Land Mecklenburg-Vorpommern zukommt. Demgegenüber hätten sich die im Helgoländer Papier enthaltenen Abstandsempfehlungen nicht auch mit Blick auf länderspezifische Gegebenheiten bundesweit als allgemein anerkannter Stand der Wissenschaften durchgesetzt. Diese Feststellungen sind nicht mit einer Verfahrensrüge angegriffen worden. Entsprechend ist es nicht zu beanstanden, dass der Beklagte und in der Folge auch das Oberverwaltungsgericht bei der fachwissenschaftlichen Beurteilung auf die "bessere Erkenntnis" in der AAB-WEA abgestellt haben, weil das Helgoländer Papier länderspezifische Gegebenheiten gerade nicht berücksichtigt. Dass die AAB-WEA im Übrigen ungeeignet sei, legt die Revision nicht substantiiert dar und ist auch sonst nicht ersichtlich.

50(2) Im Hinblick auf den Mäusebussard und Fledermäuse sieht das Oberverwaltungsgericht aufgrund der in den Nebenbestimmungen angeordneten Abschaltzeiten keinen Verstoß gegen das Verletzungs- und Tötungsverbot. Dem tritt die Revision nicht inhaltlich entgegen. Sie beanstandet lediglich, dass ihr die Stellungnahme der unteren Naturschutzbehörde, auf die das Abschaltkonzept zurückgeht, bei der Versagung des Einvernehmens und bei der Anhörung zu dessen Ersetzung nicht bekannt gewesen sei. Auch insoweit gilt, dass es nicht auf den Zeitpunkt der Versagung des gemeindlichen Einvernehmens, sondern auf denjenigen des Erlasses des mit der Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens verbundenen Bescheids ankommt (s. o. Rn. 33).

51dd) Es liegt auch kein Verstoß gegen die Ziele der Raumordnung im Sinne des § 35 Abs. 3 Satz 2 und 3 BauGB vor. Nach der Revision liegt der Standort der beiden WEA nicht innerhalb eines der durch den geltenden Raumordnungsplan RREP MM/R (2011) ausgewiesenen Eignungsgebiete. Außerdem diene das Vorhaben nicht der Erforschung und Erprobung der Windenergietechnik.

52Das Oberverwaltungsgericht ist zunächst ohne Verstoß gegen Bundesrecht davon ausgegangen, dass aufgrund der Übergangsregelung des § 245e Abs. 1 Satz 1 BauGB die Rechtswirkungen eines Raumordnungs- oder Flächennutzungsplans gemäß § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB in der bis zum geltenden Fassung für Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB, die der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Windenergie dienen, vorbehaltlich des § 249 Abs. 5 Satz 2 BauGB fortgelten, wenn der Plan bis zum wirksam geworden ist. Hierdurch sollen Bestandsplanungen geschützt werden (BT-Drs. 20/2355 S. 31). Das gilt auch für den hier maßgeblichen Raumordnungsplan aus dem Jahr 2011. Nach den insoweit nicht streitigen tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts liegt das Vorhaben außerhalb der durch das Ziel Z (1) in Nr. 6.5 RREP MM/R (2011) festgelegten Eignungsgebiete. Nach dem Ziel Z (3) des Raumordnungsplans kann das Vorhaben gleichwohl zulässig sein, wenn die Anlage überwiegend der Erforschung und Erprobung der Windenergietechnik dient und wenn dies durch besondere Standortanforderungen begründet ist.

53Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat das Oberverwaltungsgericht für den Senat bindend (§ 137 Abs. 2 VwGO) festgestellt. Im Einzelnen hat es festgestellt, dass das Vorhaben der Entwicklung und Erprobung von Technologien zur weiteren Umwandlung und Zwischenspeicherung von Elektrizität aus Windenergie dient und geeignet ist, die Nutzung der Windenergie mehr als nur unerheblich zu verbessern. Allerdings müsse die Gesamtanlage praktisch erprobt werden. Über mit dem Vorhaben vergleichbare Bestandsanlagen verfüge die Beigeladene nicht. Zudem besteht nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts das Besondere der geplanten Gesamtanlage darin, dass beide WEA direkt mit einem Wärmespeicher verbunden werden, ohne dass ein Stromversorgungsnetz dazwischengeschaltet ist. Dabei ist ein Dauertest beabsichtigt und es ist hinreichend sichergestellt, dass die Forschung über die gesamte Nutzungsdauer fortbesteht. Das Vorhaben soll auch der Erforschung der Schwarzstartfähigkeit dienen. Außerdem seien die besonderen Standortanforderungen begründet. So bestehe eine Nähe zum Wärmeabnehmer und zum Umspannwerk, die höhere Leitungsverluste vermeide. Durch die Nähe zur Hansestadt Rostock könne eine energetische Einbindung in die dortige Infrastruktur erfolgen. Das Umspannwerk verfüge auch über eine direkte Verbindung zum Kraftwerk der Hansestadt Rostock, was für die Erforschung der Schwarzstartfähigkeit besondere Bedeutung habe.

54Die Revision setzt dem lediglich ihre eigene Bewertung der festgestellten Tatsachen bzw. weitere Tatsachen, die das Oberverwaltungsgericht nicht festgestellt hat, entgegen, ohne eine Verfahrensrüge zu erheben.

55c) Auch die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, dass die Erschließung des Vorhabens ausreichend gesichert ist, verstößt nicht gegen Bundesrecht. Die Revision beanstandet, dass keine hinreichenden Vorkehrungen für zumindest in der Bauphase entstehenden Verkehr mit schweren Baufahrzeugen und Schwertransporten getroffen worden sei. Dabei verkennt sie, dass es für die Sicherung der Erschließung nicht auf die Bauphase ankommt. Vielmehr ist die Erschließung bereits im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BauGB gesichert, wenn damit gerechnet werden kann, dass sie bis zur Herstellung des Bauwerks (spätestens bis zur Gebrauchsabnahme) funktionsfähig angelegt ist, und wenn ferner damit zu rechnen ist, dass sie auf Dauer zur Verfügung stehen wird ( 4 C 48.81 - NVwZ 1986, 38 Rn. 20 und vom - 4 C 7.09 - BVerwGE 137, 74 Rn. 40). Entsprechend sind Fragen, die die Zugänglichkeit der Baustelle für schwere Fahrzeuge während der Bauzeit betreffen, solche der Baudurchführung, aber nicht der von § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB erfassten bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit.

56d) Die notwendige Privilegierung für den Außenbereich ergibt sich aus § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB, weil das Vorhaben der Erforschung, Entwicklung und Nutzung der Windenergie dient.

573. Der auf Feststellung gerichtete Hilfsantrag konnte ohne Verstoß gegen § 142 Abs. 1 Satz 1 VwGO erst im Revisionsverfahren gestellt werden, weil es sich hierbei nicht um eine Klageänderung, sondern um eine Beschränkung der Klage im Sinne des § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 264 Nr. 2 ZPO handelt. Der Klägerin fehlt insoweit aber das Rechtsschutzbedürfnis, weil der Gegenstand des Hilfsantrags vollständig mit dem Hauptantrag abgedeckt ist. Er muss der Sache nach aus denselben Gründen wie der Hauptantrag erfolglos bleiben.

58Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:230524U7C1.23.0

Fundstelle(n):
OAAAJ-75046