Ausweichoptionen schützen vor Verfassungswidrigkeit nicht, oder doch?
Erteilt der VIII. Senat des BFH dem BVerfG eine Lektion in Verfassungsrecht?
Das Thema „Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe“ schien endlich ausdiskutiert zu sein. Ich glaubte sogar, dass ich das BVerfG richtig verstanden hatte und dass hinsichtlich der Zinshöhe bei Aussetzungszinsen (§ 237 AO) keine verfassungsrechtlichen Bedenken mehr bestehen könnten. Das BVerfG hatte ja (nebenbei) formuliert: „Steuerpflichtige haben daher – anders als bei der Vollverzinsung – grundsätzlich die Wahl, ob sie den Zinstatbestand verwirklichen und den in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelten Zinssatz hinnehmen oder ob sie die Steuerschuld tilgen und sich im Bedarfsfall die erforderlichen Geldmittel zur Begleichung der Steuerschuld anderweitig zu zinsgünstigeren Konditionen beschaffen“ (, 1 BvR 2422/17, NWB TAAAH-87096, Rz. 243).
Seit dem ist das Thema leider wieder aktuell. Der VIII. Senat des BFH hat die Frage, ob der Zinssatz gem. § 237 i. V. mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO von 0,5 % pro Monat für Zinsen bei der Aussetzung der Vollziehung (AdV) im Zeitraum vom bis zum mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und verfassungswidrig ist, dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt (, NWB OAAAJ-73666). Denn Nachzahlungszinsen (§ 233a AO) werden seit dem nur noch mit einem Zinssatz von 0,15 % für jeden Monat berechnet (§ 238 Abs. 1a AO). Der VIII. Senat ist der Meinung, dass die Ungleichbehandlung nicht deshalb entfällt, weil die Steuerpflichtigen den Aussetzungszinsen im Prinzip ausweichen können; wörtlich: „Ausweichoptionen von Grundrechtsträgern beseitigen eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung aber grundsätzlich nicht“ (Rz. 76).
Das Wort „Ausweichoption“ ist ein selten verwendetes Wort. Aber die vom VIII. Senat erwähnten Probleme, die ein Ausweichen erschweren, sind Allgemeinwissen. Nicht jeder Mensch hat so viel Eigenkapital, dass er seine Schulden (auch die Steuer) sofort aus der eigenen Tasche bezahlen kann. Nicht jedermann verfügt über eine Bonität, die ihn sofort zum Darlehensnehmer einer Bank werden lässt. Dem Praktiker im Steuerrecht ist außerdem bekannt, dass Finanzämter die Stundung einer Steuerschuld selten aussprechen und nach der Ablehnung der Stundung wird der Rechtsschutz suchende (vermögenslose) Bürger zum Vollstreckungsschuldner und (noch schlimmer) es fallen 1 % Säumniszuschläge für jeden angefangenen Monat an.
Ich vermute, dass diese Alltagsprobleme nicht nur vom VIII. Senat erkannt und ausgiebig beschrieben wurden (in Rz. 82 bis 84), sondern auch vom BVerfG wortlos gesehen wurden (in Rz. 242 ff.). Und ich hoffe darauf, dass das BVerfG in seiner Antwort auf die Vorlagefrage bei seiner bisherigen Sicht der Dinge bleibt. Das BVerfG sollte dem VIII. Senat eine entsprechende Lektion in Verfassungsrecht erteilen und klarstellen, dass hier die Grenzen einer wirksamen Ausweichoption nicht überschritten sind (z. B. , NWB CAAAC-80313, Rz. 134).
Christof Lindwurm
Fundstelle(n):
NWB 2024 Seite 2449
JAAAJ-74109