Pauschalreisevertrag: Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie
Leitsatz
Eine nach Abschluss des Reisevertrags eingetretene neue Situation fällt nicht unter den Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB, wenn sie sich im Rahmen dessen hält, womit schon im Zeitpunkt der Buchung zu rechnen war. Der Kausalverlauf, der zum Eintritt dieser Situation geführt hat, ist grundsätzlich unerheblich.
Gesetze: § 651h Abs 1 BGB, § 651h Abs 3 BGB, Art 3 Nr 12 EURL 2015/2302, Art 12 Abs 2 EURL 2015/2302
Instanzenzug: Az: 13 S 49/22vorgehend AG Westerburg Az: 23 C 116/22
Tatbestand
1Der Kläger beansprucht die Rückzahlung des für eine Pauschalreise gezahlten Reisepreises.
2Der Kläger buchte am bei der Beklagten eine Flugreise mit Hotelaufenthalt für zwei Personen nach Thailand, die vom 25. November bis zum stattfinden und 3.798 Euro kosten sollte. Der Kläger leistete eine Anzahlung auf den Reisepreis in Höhe von 949,50 Euro.
3Am stufte das Robert-Koch-Institut Thailand als Hochrisikogebiet ein. Am stornierte der Kläger die Reise.
4Die Beklagte behielt die Anzahlung (25 % des Reisepreises) als Stornierungsgebühr ein.
5Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 949,50 Euro nebst Zinsen und vorgerichtlicher Anwaltskosten verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen.
6Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Zahlungsanspruch in voller Höhe weiter.
7Die Beklagte war in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht vertreten.
Gründe
8Die zulässige Revision ist unbegründet.
9I. Obwohl die Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht vertreten war, ist durch streitiges Urteil zu entscheiden.
10Eine Revision ist auch bei Säumnis des Revisionsbeklagten durch streitiges Urteil zurückzuweisen, wenn sie sich als unbegründet erweist (, NJW 1993, 1788).
11Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt.
12II. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
13Der Beklagten stehe nach § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB ein Entschädigungsanspruch in Höhe von 949,50 Euro zu. Dieser sei nicht gemäß § 651h Abs. 3 BGB ausgeschlossen.
14Zwar sei bei der Covid-19-Pandemie grundsätzlich das Vorliegen von unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umständen am Urlaubsort zu bejahen. Im Streitfall fehle es aber an einer zu erwartenden erheblichen Beeinträchtigung der Reise.
15Bei der hierfür maßgeblichen objektiven Prognose zum Zeitpunkt des Rücktritts sei zu berücksichtigen, dass die Buchung nach Beginn der Pandemie erfolgt sei. Bei Vertragsschluss nach Ausbruch der Pandemie sei im Einzelfall unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände, insbesondere des Zeitpunkts der Buchung, darauf abzustellen, ob durchschnittlich informierte und verantwortungsbewusste Reisende und Veranstalter bei zumutbaren Bemühungen davon ausgehen mussten, dass auch bei der beabsichtigten Reise weiterhin mit Beeinträchtigungen sowie wechselnden Maßnahmen zur Eindämmung des wellenförmigen Pandemieverlaufs zu rechnen sei.
16Im Streitfall lägen gemessen hieran keine erheblichen Beeinträchtigungen vor, die über das erwartbare Maß im Buchungszeitpunkt hinausgingen. Die Gefahr einer Reisewarnung oder einer Einstufung als Risikogebiet, Hochinzidenzgebiet oder Hochrisikogebiet sei für den Kläger vorhersehbar gewesen. Im Zeitpunkt der Buchung sei auch in Niedersachsen mit erheblichen Einschränkungen auf die Pandemie bei fortschreitenden Virusmutationen und ansteigender Infektionszahlen reagiert worden. Auch eine Gesamtabwägung aller Umstände ergebe keine für den Kläger günstige Rücktrittsprognose.
17III. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung stand.
181. Die Beklagte hat gemäß § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB ihren Anspruch auf den Reisepreis verloren, weil der Kläger nach § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam von dem Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist.
192. Rechtsfehlerfrei ist das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Beklagte dem Klagebegehren einen Entschädigungsanspruch aus § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB entgegenhalten kann.
20a) Zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Covid-19-Pandemie im Streitfall einen unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstand im Sinne von § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB darstellt.
21Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, ist es in der Regel nicht zu beanstanden, dass ein Tatrichter die Covid-19-Pandemie als Umstand bewertet, der grundsätzlich geeignet ist, die Durchführung der Pauschalreise erheblich zu beeinträchtigen (vgl. etwa , NJW-RR 2023, 828 Rn. 21 = RRa 2023, 118). Dies steht in Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (, RRa 2023, 183 Rn. 45 - UFC; Urteil vom - C-584/22 Rn. 48 - Kiwi Tours).
22Dieser Grundsatz gilt auch für den im Streitfall maßgeblichen Reisezeitraum im November/Dezember 2021.
23b) Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht entschieden, dass die Durchführung der Reise im Streitfall nicht erheblich beeinträchtigt war.
24aa) Zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass für die Frage, ob eine erhebliche Beeinträchtigung besteht, von Bedeutung sein kann, ob die mit der Durchführung verbundenen Risiken bei Buchung der Reise bereits bestanden oder zumindest absehbar waren.
25Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Urteils entschieden hat, kann eine erhebliche Beeinträchtigung jedenfalls dann zu verneinen sein, wenn bei Vertragsschluss Umstände vorliegen oder absehbar sind, die der Durchführung der Reise zwar nicht zwingend entgegenstehen, aber doch so gravierend sind, dass nicht jeder Reisende die damit verbundenen Risiken auf sich nehmen möchte. Einem Reisenden, der in einer solchen Situation eine Reise bucht, ist es in der Regel zumutbar, die Reise auch dann anzutreten, wenn die im Zeitpunkt der Buchung bestehenden oder absehbaren Risiken zum Zeitpunkt des Reisebeginns fortbestehen (, NJW-RR 2023, 1540 Rn. 41; Urteil vom - X ZR 31/23).
26Dies steht in Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, nach der Risiken, die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses für den Reisenden bestanden haben oder vorhersehbar waren, grundsätzlich nicht als außergewöhnliche und unvermeidbare Umstände geltend gemacht werden können ( Rn. 73 ff. - Tez Tour).
27Wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat, ist ein Risiko in diesem Sinn nicht nur dann vorhersehbar, wenn es im Zeitpunkt der Buchung nahezu unausweichlich erscheint, dass sich das Risiko bis zum geplanten Beginn der Reise verwirklichen wird. Ausreichend ist vielmehr, wenn im Zeitpunkt der Buchung ungewiss ist, wie sich die Situation weiterentwickeln wird, und eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass es innerhalb kurzer Zeit zu gravierenden Veränderungen kommt (, MDR 2024, 152 Rn. 28).
28bb) Vor diesem Hintergrund ist die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts, dass die im Streitfall vorliegenden Umstände nicht zu einer erheblichen Beeinträchtigung im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB geführt haben, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
29(1) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt dem Umstand, dass die Gesundheitsrisiken in Deutschland im Reisezeitraum ähnlich hoch waren, grundsätzlich keine Bedeutung bei (, NJW 2022, 3707 = RRa 2022, 283 Rn. 25; Beschluss vom - X ZR 80/21, RRa 2023, 72 Rn. 21; Urteil vom - X ZR 78/22, NJW-RR 2023, 828 = RRa 2023, 118 Rn. 40). Auch dies steht in Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. Rn. 89, 93 ff. - Tez Tour).
30(2) Die angefochtene Entscheidung lässt aber hinreichend deutlich erkennen, dass das Berufungsgericht die Verhältnisse in Niedersachsen lediglich als Beleg dafür angesehen hat, dass aus Sicht des Klägers im Zeitpunkt der Buchung aufgrund des weltweiten Pandemiegeschehens und dessen wellenartiger Entwicklung damit zu rechnen war, dass es auch im Reisezeitraum und auch am Reiseziel zu pandemiebedingten Beeinträchtigungen kommt.
31Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht sich damit nicht auf eine pauschalierte Bewertung beschränkt. Es hat vielmehr - entsprechend dem im angefochtenen Urteil formulierten Obersatz - auf die konkreten Umstände des Streitfalls abgestellt.
32(3) Diese Beurteilung genügt auch den Anforderungen, die der Gerichtshof der Europäischen Union nach Erlass des angegriffenen Urteils formuliert hat.
33(a) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein Entschädigungsanspruch des Reiseveranstalters ausgeschlossen sein, wenn sich die Situation aufgrund ihrer Unbeständigkeit nach Abschluss des Vertrags dermaßen verändert hat, dass eine neue Situation entstanden ist, die als solche unter die Definition des Begriffs "unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände" im Sinne dieser Bestimmung fallen könnte ( Rn. 83 - Tez Tour).
34Im Streitfall ist es zwar erst geraume Zeit nach der Buchung zur Einstufung als Hochrisikogebiet gekommen. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts, musste der Kläger aber bereits im Zeitpunkt der Buchung damit rechnen, dass es zu einer solchen Entwicklung kommen kann. Damit fehlt es an einer wesentlichen Veränderung im Sinne der aufgezeigten Rechtsprechung.
35(b) Entgegen der Auffassung der Revision kommt dem Vortrag des Klägers, wonach der erhebliche Anstieg der Infektionszahlungen nach der Buchung durch neu aufgetretene Virusvarianten und Rekombinate verursacht worden ist, keine ausschlaggebende Bedeutung zu.
36Wie der Gerichtshof unter Bezugnahme auf die Ausführungen der Generalanwältin aufgezeigt hat, ist entscheidend, ob sich die Situation nach Vertragsschluss erheblich verändert hat ( Rn. 80 - Tez Tour). In der in Bezug genommenen Passage hat die Generalanwältin ausgeführt, dass hierzu ein Vergleich angestellt werden kann zwischen den Umständen und der Kenntnis, die der Reisende davon und von den Folgen für die Durchführung der Reise zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses hatte (Punkt A), und den Umständen und der Kenntnis, die der Reisende von diesen Umständen und ihren Folgen zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag hatte (Punkt B). Für diesen Vergleich kommt es nicht darauf an, wie viele Tage zwischen Punkt A und Punkt B verstrichen sind. Maßgeblich ist vielmehr, ob sich die tatsächlichen Umstände und die Kenntnis des Reisenden erheblich geändert haben (Schlussanträge Rn. 62).
37Angesichts dessen ist für die Entscheidung des Streitfalls lediglich von Bedeutung, dass ein erheblicher Anstieg der Infektionszahlen und eine Einstufung als Hochrisikogebiet nach den fehlerfreien Feststellungen des Berufungsgerichts sich im Rahmen dessen hält, womit aufgrund der ungewissen Ausgangslage schon im Zeitpunkt der Buchung zu rechnen war. Der Kausalverlauf, der zum Eintritt dieser Situation geführt hat, ist demgegenüber grundsätzlich unerheblich.
38IV. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union ist nicht veranlasst.
39Wie oben aufgezeigt wurde, hat der Gerichtshof die für die Entscheidung des Streitfalls relevanten Fragen entschieden. Die Frage, ob die im Zeitpunkt des Rücktritts bestehenden Risiken im Zeitpunkt der Buchung bereits vorhersehbar waren, haben die Gerichte der Mitgliedstaaten aus der Perspektive eines durchschnittlichen, normal informierten und angemessen aufmerksamen Reisenden aufgrund der Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu würdigen ( Rn. 82 - Tez Tour).
40V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:230424UXZR58.23.0
Fundstelle(n):
NJW 2024 S. 9 Nr. 29
NJW-RR 2024 S. 987 Nr. 15
AAAAJ-70198