Kindergeld | Keine Bindung an eine den Verlust des Freizügigkeitsrechts feststellende Entscheidung der Ausländerbehörde (BFH)
Bei Kindergeldfestsetzungen für nach dem beginnende Zeiträume besteht eine uneingeschränkte Prüfungskompetenz der Familienkasse für die in § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG vorausgesetzte Freizügigkeitsberechtigung des Anspruchstellers. Sie besteht auch dann, wenn die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts gem. § 5 Abs. 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern festgestellt hat. Der Bescheid der Ausländerbehörde entfaltet bei der Prüfung des Kindergeldanspruchs keine (echte) Tatbestandswirkung. Eine teleologische Reduktion des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG kommt nicht in Betracht (, veröffentlicht am ).
Hintergrund: Nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG (i. d. F. v. , eingeführt durch das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom , BGBl 2019 I 1066) ist der Kindergeldanspruch eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der seit mehr als drei Monaten im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, u. a. dann ausgeschlossen, wenn dieser die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU nicht erfüllt.
Sachverhalt: Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige und lebt seit April 2019 in Deutschland. Hier wurden auch ihre beiden Kinder geboren, für die die Familienkasse zunächst Kindergeld festsetzte. Ab November 2021 war die Klägerin als Arbeitnehmerin beschäftigt, wobei sie in den Monaten November und Dezember 2021 einen deutlich geringeren Lohn als in den folgenden Monaten erhielt, weil sie sich zeitweise als Ungeimpfte in unbezahlter Quarantäne befand. Die Ausländerbehörde stellte im November 2021 den Verlust des Freizügigkeitsrechts der Klägerin fest, da sie sich weniger als fünf Jahre in Deutschland aufgehalten hat und keine Erwerbstätigkeit ausübt. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Die Familienkasse hob daraufhin die Kindergeldfestsetzung ab Dezember 2021 gegenüber der Klägerin auf. Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein. Nachdem die Ausländerbehörde den Bescheid über den Verlust des Freizügigkeitsrechts ab April 2022 wieder aufgehoben hatte, gewährte die Familienkasse ihr ab April 2022 wieder Kindergeld. Für die übrigen Zeiträume (November 2021 bis März 2022) wies sie den Einspruch zurück, da insoweit der Verlust der Freizügigkeit festgestellt worden ist und auch die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG nicht vorgelegen haben.
Die dagegen erhobene Klage vor dem FG war erfolgreich (, vgl. hierzu unsere News v. 18.12.2023).
Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt die Beklagte die Verletzung von Bundesrecht und beantragt, das Urteil des FG Münster aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Richter des BFH wiesen die Revision als unbegründet zurück:
Der Kindergeldanspruch ist nicht durch § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ausgeschlossen. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin als rumänische Staatsangehörige im Streitzeitraum innerhalb der Europäischen Union (EU) für Zwecke der Kindergeldfestsetzung freizügigkeitsberechtigt war.
Die Vorschrift ist zeitlich anwendbar. § 62 Abs. 1a EStG in dieser am geltenden Fassung ist für Kindergeldfestsetzungen anzuwenden, die wie im vorliegenden Fall Zeiträume betreffen, die nach dem beginnen (§ 52 Abs. 49a Satz 1 EStG).
Der Kindergeldanspruch ist nur an die materiellen Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts geknüpft, die die Familienkasse und im Klageverfahren das FG nach der Einführung des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG in eigener Zuständigkeit zu prüfen haben.
Zwar möge es zutreffen, dass der Gesetzgeber bei Einführung des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG nur den Fall im Blick hatte, dass die Ausländerbehörde noch keinerlei Feststellungen über das Freizügigkeitsrecht getroffen hat (vgl. BT-Drucks 19/8691 S. 64). Der Wille, ausschließlich diesen Fall zu regeln, habe aber in der Norm keinen Niederschlag gefunden. Nach dem Wortlaut ist davon auszugehen, dass das Gesetz den Familienkassen bei der Prüfung eines Kindergeldanspruchs die Prüfung der Freizügigkeit nach § 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU in allen Fällen überlassen will.
§ 62 Abs. 1a Satz 4 EStG ist auch nicht im Wege einer teleologischen Reduktion dahingehend einzuschränken, dass eine eigenständige Prüfungskompetenz nicht mehr besteht, wenn der Verlust der Freizügigkeit durch die Ausländerbehörde festgestellt worden ist. Voraussetzung wäre eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes, die nicht gegeben ist. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich nicht, dass nur die Fälle der fehlenden Feststellung der ausländerrechtlichen Freizügigkeitsberechtigung von der Prüfungskompetenz der Familienkassen erfasst werden sollten.
Die in § 18f AZRG geregelte automatisierte Übermittlung der Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach dem FreizügG/EU bleibt entgegen der Ansicht der Familienkasse weiterhin sinnvoll und erforderlich, befreit die Familienkasse aber nicht von Ihrer Prüfungspflicht.
Die Entscheidung der Ausländerbehörde zur Feststellung des Verlustes der Freizügigkeitsberechtigung gem. § 5 Abs. 4 FreizügG/EU hat bei der Prüfung des Kindergeldanspruchs auch keine (echte) Tatbestandswirkung. Eine solche Feststellung kann zwar regelmäßig ausreichen, um Zweifel an dem Bestehen der Freizügigkeit zu begründen. Aufgrund der eigenen Prüfungskompetenz der Familienkasse kann diese eine Versagung des Kindergeldanspruchs aber nicht allein auf die Entscheidung der Ausländerbehörde stützen.
Quelle: ; NWB Datenbank (sti)
Fundstelle(n):
AAAAJ-69768