BVerfG Beschluss v. - 2 BvR 1177/20

Erfolglose Rechtssatzverfassungsbeschwerde gegen § 6 Abs 1 S 1 Nr 1 EuWG (Mindestwahlalter) - Unzulässigkeit mangels Wahrung der Jahresfrist des § 93 Abs 3 BVerfGG - keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Gesetze: § 90 BVerfGG, § 93 Abs 2 BVerfGG, § 93 Abs 3 BVerfGG, § 6 Abs 1 S 1 Nr 1 EuWG vom , § 6 Abs 1 S 1 Nr 1 EuWG vom , § 6 Abs 1 S 1 Nr 1 EuWG vom

Gründe

A.

I.

1Die minderjährigen Beschwerdeführenden wenden sich gegen die Bestimmung des Wahlalters für die Europawahl und den damit verbundenen Ausschluss von der Wahl. Die Beschwerdeführenden sind im August 2009 (Beschwerdeführerin zu 1.), Juli 2010 (Beschwerdeführerin zu 2.) und Januar 2008 (Beschwerdeführer zu 3.) geboren.

2Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Gesetzes über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz - EuWG -) in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl I S. 423, 555, 852), in Kraft getreten am (nachfolgend: § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG a.F.), waren zur Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments zunächst nur Personen berechtigt, die am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet hatten. Diese Altersgrenze fand sich schon im ursprünglichen Europawahlgesetz vom (BGBl I S. 709). Sämtliche nachfolgende Änderungen des Europawahlgesetzes ließen die Festsetzung des Mindestwahlalters unberührt. Dies gilt auch für solche Änderungen, die zumindest teilweise § 6 EuWG in redaktioneller Hinsicht betrafen (vgl. insbesondere das Gesetz vom , das am in Kraft trat, BGBl I S. 834). Mit am in Kraft getretener Gesetzesänderung vom (BGBl I Nr. 11) ist das Mindestwahlalter für die Europawahl in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG auf 16 Jahre herabgesetzt worden.

II.

3Die Beschwerdeführenden legten gegen die 9. Europawahl am unter dem Einspruch ein. Dieser wurde vom Deutschen Bundestag mit Beschluss vom (BTPlenProt 19/140, S. 17505) entsprechend der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses (BTDrucks 19/16350, Anlage 17) zurückgewiesen.

B.

I.

4Mit am eingegangener Verfassungsbeschwerde haben sich die Beschwerdeführenden unmittelbar gegen § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG a.F. gewandt, da dieser ihnen die Teilnahme an der Europawahl verwehre, weil sie das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten. Zugleich haben sie gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom Wahlprüfungsbeschwerde erhoben. Wegen der näheren Einzelheiten wird insoweit auf den Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom heutigen Tag im Verfahren 2 BvC 15/20 verwiesen.

51. "Die Beschwerden" seien zulässig. Der Rechtsweg sei erschöpft. "Die Beschwerde" sei jedenfalls gemäß § 90 Abs. 2 BVerfGG zulässig. Den Beschwerdeführenden sei es "schon auf Grund ihres Lebensalters objektiv unmöglich, die Norm binnen Jahresfrist anzugreifen". Es folgen Ausführungen zur Zulässigkeit der Wahlprüfungsbeschwerde, hinsichtlich derer auch ein Antrag auf Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist gestellt wird.

62. Die Verfassungsbeschwerde sei auch begründet. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG a.F. sei unionsrechts- und verfassungswidrig.

II.

7Mit Berichterstatterschreiben vom wurden die Beschwerdeführenden auf die Herabsenkung des Wahlalters für die Europawahl in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG auf 16 Jahre hingewiesen und vor diesem Hintergrund um Mitteilung gebeten, ob an der Verfassungsbeschwerde festgehalten werde.

III.

8Mit am eingegangenem Schriftsatz hat die gesetzliche Vertreterin der Beschwerdeführerin zu 1. sowie Bevollmächtigte der Beschwerdeführenden zu 2. und 3. mitgeteilt, dass die "Verfassungs- und Wahlprüfungsbeschwerden für die Beschwerdeführerinnen zu 1. und 2." aufrechterhalten würden und sich auch nach der Gesetzesänderung "unmittelbar gegen § 6 Abs. 1 [Satz 1] Nr. 1 EuWG in der Fassung der Bekanntmachung vom […], zuletzt geändert durch [Gesetz] vom " richteten. Den Beschwerdeführerinnen zu 1. und 2. werde die Teilnahme an der Europawahl verwehrt, weil sie das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten.

9Überdies hat die Beschwerdeführerin zu 1. den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt beantragt, § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG für die kommende Europawahl am für nicht anwendbar zu erklären. Der Ausschluss von 14-Jährigen wie ihr sei nicht nachvollziehbar. Sie sei aufgrund ihrer Interessen und Bildung auf die Wahlentscheidung vorbereitet. Die vorläufige Außervollzugsetzung des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG sei zur Abwehr schwerer Nachteile geboten. "Die Beschwerde" sei weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

C.

10Das Verfassungsbeschwerdeverfahren ist hinsichtlich des Beschwerdeführers zu 3. einzustellen (I.), im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, da sie unzulässig ist (II.).

I.

11Ausweislich des Schriftsatzes vom wird die Verfassungsbeschwerde nur noch von den Beschwerdeführerinnen zu 1. und 2. fortgeführt. Dies ist im Hinblick auf das Berichterstatterschreiben vom dahingehend zu werten, dass der - mittlerweile 16 Jahre alte - Beschwerdeführer zu 3. die Verfassungsbeschwerde zurückgenommen hat. Damit ist das Verfahren insoweit einzustellen (vgl. BVerfGE 106, 210 <211, 213>).

II.

12Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig.

131. Soweit sie sich gegen § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG a.F. wendet, ist sie schon nicht fristgerecht erhoben worden (a). Darüber hinaus fehlt es nach der Änderung der Norm am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis (b).

14a) Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG a.F. nicht fristgerecht erhoben worden.

15aa) Gemäß § 93 Abs. 3 BVerfGG kann eine Verfassungsbeschwerde, die sich gegen ein Gesetz richtet, nur binnen eines Jahres seit dem Inkrafttreten des Gesetzes erhoben werden.

16Diese Frist ist vorliegend nicht gewahrt. Dabei kann dahinstehen, ob für den Fristbeginn auf das Inkrafttreten des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG a.F. am oder sogar bereits auf die ursprüngliche Fassung des Europawahlgesetzes vom abzustellen ist, weil die Neubekanntmachung vom für die Bestimmung des Wahlalters keine inhaltlichen Änderungen zur Folge hatte (vgl. BVerfGE 137, 108 <140 Rn. 73>). Die Erhebung der Verfassungsbeschwerde am erfolgte jedenfalls offensichtlich nicht innerhalb eines Jahres seit dem .

17bb) Es ist entgegen dem Beschwerdevorbringen auch keine andere Bewertung deshalb geboten, weil die Beschwerdeführerinnen zu 1. und 2. erst nach Ablauf der an das Inkrafttreten des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG a.F. anknüpfenden Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG geboren wurden.

18Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spielt es für den Fristlauf grundsätzlich keine Rolle, wann ein Beschwerdeführer durch eine Norm erstmalig beschwert wird (vgl. BVerfGE 23, 153 <164>; 30, 112 <126>; BVerfGK 16, 396 <401>), weil die Ausschlussfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG sonst ihren Zweck, Rechtssicherheit zu schaffen, verfehlen würde (vgl. BVerfGE 11, 255 <260>; BVerfGK 16, 396 <401 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1862/96 -, juris, Rn. 7). Lediglich dann, wenn nach dem Willen des Gesetzgebers eine Norm generell erst zu einem späteren Zeitpunkt als dem des Inkrafttretens belastende Wirkung entfalten soll, etwa weil sie hierzu der landesrechtlichen oder untergesetzlichen Umsetzung bedarf, kommt es für den Beginn der Frist des § 93 Abs. 3 BVerfGG auf den späteren Zeitpunkt des Inkrafttretens der Ausführungsbestimmung an (vgl. BVerfGE 34, 165 <178 f.>; 64, 323 <350>; BVerfGK 16, 396 <402>).

19cc) Die Beschwerdeführerinnen zu 1. und 2. haben im Hinblick auf die Verfassungsbeschwerde auch keinen Antrag auf Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist gestellt. Der gestellte Wiedereinsetzungsantrag bezieht sich ausschließlich auf die mit derselben Beschwerdeschrift anhängig gemachte Wahlprüfungsbeschwerde 2 BvC 15/20. Unabhängig davon handelt es sich bei der in § 93 Abs. 2 BVerfGG vorgesehenen Möglichkeit der Wiedereinsetzung nach dem Wortlaut und der Gesetzessystematik dieser Norm sowie dem Zweck der in § 93 Abs. 3 BVerfGG vorgesehenen Ausschlussfrist um eine Möglichkeit, die für das Verfahren der Rechtssatzverfassungsbeschwerde von vornherein nicht besteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1443/08 -, Rn. 4).

20b) Überdies fehlt es der gegen § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG a.F. gerichteten Verfassungsbeschwerde am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis, das auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben sein muss (vgl. BVerfGE 50, 244 <247 f.>; 91, 125 <133>; 99, 129 <138>; 106, 210 <214>; 119, 309 <317 f.>; 134, 33 <54 Rn. 52>; 163, 43 <70 Rn. 76 f.> - Bundesverfassungsschutzgesetz - Übermittlungsbefugnisse).

21Vorliegend ist das Rechtsschutzbedürfnis entfallen, weil durch die Änderung des angegriffenen § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG a.F. mit Wirkung vom die von dieser Regelung ausgehende Beschwer weggefallen ist (vgl. BVerfGE 87, 181 <194>; 100, 271 <281 f.>; 155, 119 <158 Rn. 68> - Bestandsdatenauskunft II; 163, 43 <70 Rn. 76>). Allenfalls von der Neuregelung kann - vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an - eine, insoweit neue, Beschwer ausgehen (vgl. BVerfGE 106, 210 <214>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1443/08 -, Rn. 2; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1781/18 -, Rn. 6; vgl. auch BVerfGE 155, 119 <158 f. Rn. 68>; 163, 43 <70 Rn. 76>). Diese kann durch Umstellung zum Gegenstand der bereits anhängigen Verfassungsbeschwerde gemacht (vgl. BVerfGE 87, 181 <194>; 155, 119 <158 Rn. 67>; 158, 170 <183 Rn. 24> - IT-Sicherheitslücken; 163, 43 <69 f. Rn. 75>) oder es kann gegen sie mit einer neuen Verfassungsbeschwerde vorgegangen werden (vgl. BVerfGE 106, 210 <214>; 163, 43 <70 Rn. 76>).

22Ein ausnahmsweise fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG a.F. ist weder dargelegt noch ist dies sonst ersichtlich. Insbesondere unterbleibt auf diese Weise nicht etwa die Klärung verfassungsrechtlicher Fragen von grundsätzlicher Bedeutung (vgl. BVerfGE 81, 138 <140>; 100, 271 <281 f.>; 155, 119 <158 f. Rn. 68>; 163, 43 <70 Rn. 77>).

232. Betreffend die am in Kraft getretene Neuregelung des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG ist ebenfalls die Verfassungsbeschwerdefrist nicht gewahrt.

24Richtet sich eine Verfassungsbeschwerde gegen eine zwischenzeitlich aufgehobene Vorschrift, erstreckt sie sich nicht automatisch auf die an ihre Stelle getretene Norm; dies gilt selbst dann, wenn die Neuregelung - anders als vorliegend - inhaltsgleich zu der Vorgängerregelung ist (vgl. BVerfGE 87, 181 <194>; 155, 119 <158 Rn. 66>; 163, 43 <69 Rn. 74>). Beschwerdeführende haben zwar - jedenfalls dann, wenn die Verfassungsbeschwerde ursprünglich zulässig war - die Möglichkeit, ihre bereits gegen die vorherige Gesetzesfassung erhobene Verfassungsbeschwerde auf die Neufassung umzustellen. Dann muss aber die Umstellung ihrerseits die Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG wahren (vgl. BVerfGE 87, 181 <194>; 155, 119 <158 Rn. 67>; 158, 170 <183 Rn. 24>; 163, 43 <69 f. Rn. 75>). Dies ist vorliegend nicht der Fall.

D.

25Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag der Beschwerdeführerin zu 1. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

26Der auslegungsbedürftige Antrag der Beschwerdeführerin zu 1. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unter Beachtung ihres ausdrücklichen Antragsvorbringens einerseits und ihrer recht verstandenen Rechtsschutzinteressen andererseits (vgl. BVerfGE 122, 190 <198>) so zu deuten, dass er im Rahmen des vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahrens gestellt worden ist.

27Der Antrag kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass es sich um einen isolierten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu einer noch zu erhebenden weiteren Verfassungsbeschwerde handelt. Ausweislich der Überschrift der Antragsschrift vom wird der Antrag ausdrücklich zu dem vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren und dem parallelen Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren 2 BvC 15/20 gestellt, an denen anschließend festgehalten wird. Als Antragstellerin wird zudem die als solche bezeichnete Beschwerdeführerin zu 1. genannt. Überdies wäre ein isolierter Antrag gleichfalls offensichtlich unzulässig, da die in der Hauptsache noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde gegen die am in Kraft getretene Änderung des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EuWG aus den vorgenannten Gründen (vgl. oben Rn. 12 ff.) mangels Fristwahrung ihrerseits von vornherein unzulässig wäre (vgl. etwa BVerfGE 149, 374 <376 ff. Rn. 5 ff.>; 149, 378 <380 ff. Rn. 5 ff.>).

28Eine Auslegung des Antrags dergestalt, dass er sich auch auf die Wahlprüfungsbeschwerde 2 BvC 15/20 als Hauptsacheverfahren bezieht, scheidet aus. Zwar wird in der Überschrift der Antragsschrift vom allein das Aktenzeichen des Wahlprüfungsbeschwerdeverfahrens genannt. Dem kann aber keine maßgebliche Bedeutung beigemessen werden, da es dort zugleich "Verfassungs- und Wahlprüfungsbeschwerde" heißt. In der weiteren Begründung wird zudem nur von der "Beschwerde" gesprochen, womit in der ursprünglichen Beschwerdeschrift vom auch die Verfassungsbeschwerde gemeint war. Entscheidend ist jedoch, dass die Wahlprüfungsbeschwerde 2 BvC 15/20 als ein einer Wahl nachgelagerter Rechtsbehelf allein die zurückliegende Europawahl vom zum Gegenstand hat und nicht die kommende Wahl am betrifft, auf die sich hingegen der Eilantrag der Beschwerdeführerin zu 1. bezieht. Überdies besteht für den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens schon grundsätzlich kein Raum (vgl. nur BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom - 2 BvQ 26/24 -, Rn. 12 m.w.N.). Insoweit wäre auch ein isolierter Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu einer noch zu erhebenden weiteren Wahlprüfungsbeschwerde betreffend die anstehende Europawahl am nicht statthaft.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2024:rs20240605.2bvr117720

Fundstelle(n):
JAAAJ-68420