BSG Beschluss v. - B 1 KR 3/22 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Erforderlichkeit der Bestellung eines besonderen Vertreters - Anforderungen an das Vorliegen einer (partiellen) Prozessunfähigkeit - Prüfung der Prozessfähigkeit in jeder Lage des Verfahrens - keine Bindung an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz

Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 71 Abs 1 SGG, § 71 Abs 6 SGG, § 72 Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 56 Abs 1 ZPO, § 547 Nr 4 ZPO, § 104 Nr 2 BGB

Instanzenzug: SG Mainz Az: S 7 KR 151/14 Urteilvorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Az: L 5 KR 196/17 Urteil

Gründe

1I. Der bei der Beklagten krankenversicherte Kläger ist mit seinem Begehren auf Durchführung einer Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit persönlicher Untersuchung im Zusammenhang insbesondere mit einem Beratungsbedarf zu Therapiemöglichkeiten bei der Beklagten und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Im Klage- und Berufungsverfahren hat der Kläger geltend gemacht, er sei prozessunfähig und benötige Unterstützung. Das LSG ist von der Prozessfähigkeit des Klägers ausgegangen und hat die Bestellung eines besonderen Vertreters abgelehnt. Dabei hat es sich auf ein in einem anderen Verfahren vom SG Mainz (S 1 SO 127/17) eingeholtes medizinisches Sachverständigengutachten des D gestützt und dieses, die ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen sowie die Niederschrift über seine Anhörung in der mündlichen Verhandlung des SG Mainz vom im Wege des Urkundsbeweises verwertet. Eine ergänzende Anhörung des Sachverständigen hat das LSG abgelehnt. In der Sache hat das LSG unter Verweis auf die Entscheidungsgründe der erstinstanzlichen Entscheidung ausgeführt, es bestehe kein Anspruch des Klägers auf die begehrte Begutachtung durch den MDK. Durch den von der Beklagten eingeschalteten MDK sei ein umfassendes sozialmedizinisches Gutachten erstellt worden, das den Kriterien des (seit geltenden) § 17 Abs 2 SGB IX genüge; Anspruch auf ein bestimmtes Ergebnis der Begutachtung habe der Kläger nicht (Urteil vom ).

2Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

3II. Die Beschwerde ist unbegründet.

41. Einer abschließenden Entscheidung des Senats stehen keine von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernisse entgegen. Der Kläger ist prozessfähig. Ein besonderer Vertreter war deshalb nicht zu bestellen.

5a) Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter der Vorsitzende bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter iS des § 72 Abs 1 SGG fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und das Amtsgericht keinen Betreuer bestellt hat. Bei gewichtigen Bedenken gegen die Prozessfähigkeit hat das Gericht von der Prozessunfähigkeit auszugehen, wenn sich auch nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht feststellen lässt, dass der betreffende Beteiligte prozessfähig ist (vgl - SozR 4-1500 § 56a Nr 1 RdNr 8 mwN).

6b) Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 BGB ist, weil sie sich gemäß § 104 Nr 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (vgl - SozR 4-3500 § 67 Nr 1 RdNr 9; - SozR 4-1500 § 71 Nr 4 RdNr 9; - juris RdNr 4; IXa ZB 76/04 - juris RdNr 13, jeweils mwN). Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer partiellen Prozessunfähigkeit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess ( - SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65 = juris RdNr 9; - juris RdNr 8).

7An die Annahme einer Prozessunfähigkeit sind auch mit Blick auf den damit verbundenen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht (vgl 9/9a RVg 5/92 - SozR 3-1500 § 71 Nr 1 S 3) strenge Anforderungen zu stellen. Es reicht nicht aus, dass der Betroffene seit längerem an geistigen oder seelischen Störungen leidet (vgl - juris RdNr 7 mwN). Ebenso wenig genügen eine bloße Willensschwäche (vgl - juris RdNr 9) oder die bloße Unfähigkeit eines Beteiligten, seine Rechte in einer mündlichen Verhandlung selbst wahrzunehmen (vgl - juris RdNr 9; vgl zum Ganzen auch - juris RdNr 6; - SozR 4-1500 § 71 Nr 4 RdNr 8 ff).

8c) Die freie Willensbestimmung des Klägers ist danach weder ganz noch für bestimmte Lebensbereiche (partielle Geschäfts- bzw Prozessunfähigkeit) aufgehoben.

10Der erkennende Senat schließt sich diesen Ausführungen des 8. Senats nach eigener Prüfung und aufgrund eigener Überzeugungsbildung vollumfänglich an. Er stützt sich dabei auf die medizinischen Unterlagen aus den beigezogenen Gerichtsakten des Verfahrens L 1 SO 90/20, insbesondere auf das bei diesen Akten befindliche medizinische Sachverständigengutachten des D vom , dessen ergänzende Stellungnahme vom sowie die Niederschrift über seine Anhörung in der mündlichen Verhandlung des SG Mainz vom . Er verwertet diese Unterlagen im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 415 ff ZPO; vgl dazu - juris RdNr 4 ff; - juris RdNr 10; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 117 RdNr 6). Die Beteiligten sind hierauf vom Berichterstatter hingewiesen worden (vgl - SozR 4-1500 § 118 Nr 1 RdNr 4 f).

112. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB - SozR 1500 § 160a Nr 36 mwN; - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 16 mwN).

12a) Die Beschwerde ist jedenfalls insoweit zulässig, als der Kläger substantiiert behauptet (vgl dazu - juris RdNr 13), im Berufungsverfahren prozessunfähig oder zumindest partiell prozessunfähig gewesen zu sein. Insoweit hat der Kläger eine Verletzung des § 71 Abs 1 SGG hinreichend bezeichnet. Darlegungen dazu, dass die Entscheidung des LSG auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann, sind gemäß § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO entbehrlich (absoluter Revisionsgrund).

13b) Die danach zulässige Verfahrensrüge ist aber unbegründet. Der Kläger ist prozessfähig (siehe oben RdNr 4 ff); er war dies auch im Berufungsverfahren. Der Verfahrensmangel der fehlenden Vertretung im zweiten Rechtszug (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO) liegt daher nicht vor.

14c) Die weiteren vom Kläger gerügten Verfahrensmängel betreffen jeweils die Feststellung der Prozessfähigkeit durch das LSG. Ob diese Rügen zulässig erhoben sind, kann der Senat offenlassen. Sie sind jedenfalls unbegründet.

15Die Prozessfähigkeit ist nach § 71 Abs 6 SGG iVm § 56 Abs 1 ZPO in jeder Lage des Verfahrens, und damit auch vom erkennenden Senat, von Amts wegen zu prüfen (vgl - BSGE 86, 107 = SozR 3-1200 § 2 Nr 1, RdNr 11 mwN). Die höhere Instanz ist dabei an die Tatsachenfeststellungen der unteren Instanz zu den Prozessvoraussetzungen nicht gebunden und hat auch neues Tatsachenvorbringen zu berücksichtigen (vgl - BAGE 148, 206 RdNr 13; Althammer in Zöller, ZPO 34. Aufl 2022, § 56 RdNr 2 mwN). Da der erkennende Senat die Prozessfähigkeit des Klägers auf der Grundlage eigener Feststellungen selbst geprüft und bejaht hat (siehe RdNr 4 ff), können sich die behaupteten Verfahrensmängel des LSG bei der Feststellung der Prozessfähigkeit nicht auf die Entscheidung ausgewirkt haben. Die Entscheidung des LSG kann hierauf nicht beruhen.

16Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

17Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.Schlegel                Estelmann                Geiger

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2022:131222BB1KR322B0

Fundstelle(n):
RAAAJ-68089