BSG Beschluss v. - B 1 KR 45/20 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Bestellung eines besonderen Vertreters für einen nicht prozessfähigen Beteiligten - Teilnahme an Leistungen der integrierten Versorgung - Ablehnung der Teilnahmebedingungen aus datenschutzrechtlichen Gründen - keine offensichtliche Haltlosigkeit des Rechtsmittels

Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 71 Abs 1 SGG, § 72 Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 4 ZPO, § 104 Nr 2 BGB, § 140a SGB 5, Art 4 Nr 11 EUV 2016/679, Art 7 Abs 4 EUV 2016/679

Instanzenzug: SG Mainz Az: S 7 KR 503/15 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Az: L 5 KR 253/18 Urteil

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten über die Teilnahme an Leistungen der integrierten Versorgung.

2Der bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich versicherte Kläger bat diese im Oktober 2014, seine Teilnahme am "NetzWerk psychische Gesundheit", einem Angebot im Rahmen eines Vertrages zur integrierten Versorgung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, vorzubereiten. Nachfolgend teilte der Kläger der Beklagten mit, er sei mit dem Formular "Teilnahmeerklärung und Einverständnis zur Datenverarbeitung" nicht einverstanden. Die Beklagte lehnte eine Änderung des Formulars nach den Wünschen des Klägers ab und entschied, dass ohne seine uneingeschränkte Zustimmung zu der Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung, wie sie die Teilnahmeerklärung vorsehe, eine Teilnahme an der integrierten Versorgung nicht möglich sei (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ). Das SG hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen. Es bestünden keine Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers. Die Beklagte mache die Teilnahme an der integrierten Versorgung zulässigerweise davon abhängig, dass der Kläger den notwendigen Datenschutzbestimmungen zustimme und die Teilnahmeerklärung unterschreibe. Hinsichtlich der weiteren von dem Kläger geltend gemachten Klagebegehren sei die Klage unzulässig (Gerichtsbescheid vom ). Der Kläger hat im Berufungsverfahren unter anderem geltend gemacht, die Frage der Prozessfähigkeit und ordnungsgemäßen Vertretung sei nicht geklärt. Das LSG hat einen Termin zur mündlichen Verhandlung am bestimmt und das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet. Der Kläger hat um Umwandlung des Termins in einen Erörterungstermin und Prüfung seiner Prozessfähigkeit gebeten und darauf hingewiesen, dass er sich aktuell nicht selbst voll vertreten könne. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger abermals geltend gemacht, er sei nur teilweise prozessfähig. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Es könne offenbleiben, ob der Kläger prozessunfähig sei. Der Bestellung eines besonderen Vertreters habe es nicht bedurft, weil sein Begehren offensichtlich haltlos sei. Er habe aus den vom SG ausgeführten Gründen keinen Anspruch auf Teilnahme an dem integrierten Versorgungsangebot der Beklagten zu den von ihm vorgegebenen Bedingungen (Urteil vom ).

3Der Kläger, für den der Senat Rechtsanwalt B als besonderen Vertreter bestellt und unter Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) beigeordnet hat, wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil und rügt einen Verfahrensmangel sowie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.

4II. 1. Dem Kläger war ungeachtet seiner Prozessunfähigkeit jedenfalls deshalb gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren, weil er fristgerecht einen Antrag auf Gewährung von PKH gestellt und die Nichtzulassungsbeschwerde nach der Bewilligung von PKH fristgerecht eingelegt und begründet hat.

52. Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet. Das LSG-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG; dazu b), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet (dazu a).

6a) Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Der Kläger bezeichnet den Verfahrensmangel der nicht wirksamen Vertretung (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO) hinreichend.

7b) Der zulässig gerügte Verfahrensfehler des LSG liegt auch vor. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 SGG, weil das LSG zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters für den Kläger abgesehen hat. Dieser war in der mündlichen Verhandlung am nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO). Hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des LSG auf ihm beruht.

8Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich gemäß § 104 Nr 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (vgl - juris RdNr 6 mwN). Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer partiellen Prozessunfähigkeit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess ( - SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65 = juris RdNr 9).

9Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter iS des § 72 Abs 1 SGG fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und das Amtsgericht keinen Betreuer bestellt hat. Bei gewichtigen Bedenken gegen die Prozessfähigkeit hat das Gericht grundsätzlich von der Prozessunfähigkeit auszugehen, wenn sich auch nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht feststellen lässt, dass der betreffende Beteiligte prozessfähig (§ 71 Abs 1 SGG) ist. Dies gilt schließlich auch dann, wenn die (partielle) Prozessunfähigkeit des Beteiligten als ernsthafte Möglichkeit im Raum steht und das Gericht sich (noch) nicht die Überzeugung bilden kann, dass der Beteiligte prozessfähig ist, aber unter dem Gesichtspunkt der Beschleunigung des Verfahrens den Rechtsstreit fortsetzen will. Insoweit muss das Gericht den verfahrensrechtlichen Maßstab anlegen, der gilt, wenn der Beteiligte prozessunfähig ist (vgl - SozR 4-1500 § 56a Nr 1 RdNr 8 mwN). Würde in einem solchen Fall das Erfordernis einer Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 72 Abs 1 SGG keine Beachtung finden, wäre dies mit dem Regelungszweck der Norm unvereinbar, das rechtsstaatliche Gebot des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 Satz 1 GG; vgl dazu BVerfG <Kammer> vom - 1 BvR 1584/17 - juris RdNr 3), rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) und ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) auch bei fehlender oder zweifelhafter Prozessfähigkeit zu gewährleisten. Dies gilt in jedem Falle dann, wenn der Kläger wie hier selbst geltend macht, er sei nicht uneingeschränkt prozessfähig .

10Das LSG durfte nicht davon absehen, einen besonderen Vertreter zu bestellen, ohne zuvor festgestellt zu haben, dass der Kläger prozessfähig ist. Es hat hingegen ausdrücklich offengelassen, ob der Kläger prozessunfähig ist. Es hätte in diesem Fall nur nach Bestellung eines besonderen Vertreters iS von § 72 Abs 1 SGG über den Rechtsstreit entscheiden dürfen.

11Hiervon ist das LSG im Ergebnis auch ausgegangen. Zu Unrecht hat es jedoch angenommen, es liege ein Ausnahmefall vor, bei dem von der Bestellung eines besonderen Vertreters abgesehen werden könne.

12Von der Vertreterbestellung kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen "offensichtlich haltlos" ist (vgl - BSGE 5, 176, 178 f). Dies ist insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, der Beteiligte nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht von sich gibt oder wenn sein Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war (vgl - SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 10). Gleiches gilt aber auch dann, wenn das Rechtsmittel unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Erfolg haben kann, weil es schlechterdings nicht statthaft ist (vgl - juris RdNr 4; - juris RdNr 5).

13Das LSG legt diesen Maßstab seiner Entscheidung zwar zugrunde, richtet seine Prüfung aber nicht daran aus. Dem Kläger ging es nach den Feststellungen des LSG insbesondere darum, an dem integrierten Versorgungsangebot der Beklagten "NetzWerk psychische Gesundheit" teilnehmen zu können, ohne den Teilnahmebedingungen - gegen die er datenschutzrechtliche Einwände erhebt - uneingeschränkt zustimmen zu müssen. Hierbei handelt es sich nicht um ein offensichtlich haltloses Klagebegehren ohne jeglichen Rückhalt im Gesetz. Allein der Umstand, dass der geltend gemachte Anspruch aus Sicht des LSG nicht besteht, macht das Begehren nicht haltlos. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die zwingende Verknüpfung der Teilnahme an einer besonderen Versorgungsform mit der Zustimmung zur Datenübermittlung im Hinblick auf die von Art 4 Nr 11 und Art 7 Abs 4 Datenschutz-Grundverordnung geforderte Freiwilligkeit der Einwilligung schwierige rechtliche Fragen aufwerfen kann (vgl dazu etwa Michels in Becker/Kingreen, SGB V, 7. Aufl 2020, § 295a RdNr 3; Bieresborn/Giesberts-Kaminski, SGb 2018, 449, 452 f; Rombach in Hauck/Noftz, SGB X, Stand 10/2018, § 67b RdNr 48 mwN).

143. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

15Dabei bedarf keiner Entscheidung, ob die Rechtssache auch - wie von der Beschwerde zusätzlich geltend gemacht - grundsätzliche Bedeutung hat. Selbst bei Bejahung einer grundsätzlichen Bedeutung und Zulassung der Revision wäre voraussichtlich mit einer Zurückverweisung zu rechnen, da das Urteil des LSG aufgrund des Verfahrensfehlers, bei dem der Einfluss auf die Sachentscheidung zudem unwiderleglich vermutet wird, keinen geeigneten Gegenstand für eine revisionsrechtliche Überprüfung bildet (vgl - SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 13; - juris RdNr 10; Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 160a SGG, Stand , RdNr 221, jeweils mwN). Der Kläger macht zudem geltend, mit der pauschalen Unterstellung, er habe die Teilnahme- und Datenschutzerklärung nicht unterzeichnen wollen, hätten das SG und das LSG sein tatsächliches Begehren nicht zutreffend erfasst. Er verlange lediglich, diejenigen Teile, die seiner Auffassung nach rechtswidrig seien, aus der Erklärung zu entfernen, und stütze sich dabei auf § 295a SGB V. Auf diesen Aspekt sind weder das SG noch das LSG eingegangen. Insofern erscheint auch offen, welche tatsächlichen Feststellungen das LSG bei der gebotenen Bestellung eines besonderen Vertreters getroffen hätte (vgl auch - zu § 133 Abs 6 VwGO - - juris RdNr 6).

164. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2020:271020BB1KR4520B0

Fundstelle(n):
PAAAH-64406