BVerwG Beschluss v. - 2 B 26/23

Reichweite der Bindungswirkung

Leitsatz

Die Bindungswirkung nach § 144 Abs. 6 VwGO umfasst die für die Aufhebungsentscheidung kausal ausschlaggebenden Gründe und die hierfür notwendigen Voraussetzungen.

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: 6 A 383/20 Urteilvorgehend VG Minden Az: 4 K 8494/17 Urteil

Gründe

1Der Kläger strebt seine Einstellung in das Beamtenverhältnis auf Probe an.

21. Der 1989 geborene Kläger beansprucht seine Einstellung in den gehobenen Polizeivollzugsdienst als Beamter auf Probe beim beklagten Land. Am ernannte der Beklagte den Kläger unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf zum Kommissaranwärter. Im März 2013 legte der Kläger ein Schriftstück mit der Unterschrift zweier Prüfer vor, in dem ihm bescheinigt wurde, einen 3 000 m Lauf in 12:55 Minuten erfolgreich absolviert zu haben. Nach Befragung der vermeintlichen Prüfer erstattete das Land Strafanzeige wegen des Verdachts der Urkundenfälschung und teilte dem Kläger mit, es sei beabsichtigt, ihn wegen erheblicher Zweifel an seiner charakterlichen Eignung aus dem Beamtenverhältnis zu entlassen. Mit Bescheid vom entließ das Polizeipräsidium den Kläger wegen charakterlicher Ungeeignetheit mit Ablauf des aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf. Vor dem Amtsgericht wurde der Kläger Mitte März 2014 vom Vorwurf der Urkundenfälschung freigesprochen. Die gegen die Entlassungsverfügung vom erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht erstinstanzlich ab. In der Berufungsverhandlung schlossen die Beteiligten am einen Vergleich. In diesem verpflichtete sich das Land zur Aufhebung der Entlassungsverfügung, um dem Kläger die Gelegenheit zu geben, seine Ausbildung für den gehobenen Polizeivollzugsdienst fortzusetzen und die noch ausstehenden Modulprüfungen abzulegen. Der Kläger verzichtete seinerseits auf eventuelle Ersatzansprüche, die im Zusammenhang mit dem streitigen Entlassungsbescheid stehen sowie auf die Nachentrichtung der Besoldung für die Zeit vom bis . Aufgrund dieses Vergleichs konnte der Kläger seine Ausbildung für den gehobenen Polizeivollzugsdienst erfolgreich abschließen.

3Nachdem ihm in einem Personalgespräch am mitgeteilt worden war, dass man ihn für eine Einstellung in das Beamtenverhältnis auf Probe nach Abschluss seiner Ausbildung für charakterlich ungeeignet halte, beantragte der Kläger seine Einstellung in das Beamtenverhältnis auf Probe. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom und der Begründung ab, der Kläger erfülle nicht die Anforderung der charakterlichen Eignung. Zur Begründung verwies das beklagte Land auf vier Sachverhalte, die nach seiner Einschätzung exemplarisch die persönliche und charakterliche Ungeeignetheit des Klägers belegen. Der Kläger hat beantragt, das beklagte Land unter Aufhebung des ablehnenden Bescheids zu verpflichten, ihn als Beamten auf Probe in den gehobenen Polizeivollzugsdienst einzustellen, hilfsweise, das beklagte Land zu verpflichten, über seinen Antrag auf Einstellung als Beamter auf Probe in den gehobenen Polizeivollzugsdienst unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht in einem ersten Berufungsurteil das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und das beklagte Land zur Neubescheidung des Antrags des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Dieses erste Berufungsurteil hat der Senat mit Beschluss vom - 2 B 48.21 - aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

4Im erneuten Berufungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Einstellung in das Beamtenverhältnis auf Probe. Eine entsprechende Zusicherung habe der Beklagte nicht abgegeben. Der Kläger habe aber auch keinen Anspruch darauf, dass das Land über seinen Antrag auf Einstellung in das Beamtenverhältnis auf Probe unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entscheide. Der ablehnende Bescheid sei formell und materiell rechtmäßig. Die Annahme des beklagten Landes, der Kläger sei für den Polizeivollzugsdienst charakterlich nicht geeignet, finde ihre tragfähige Grundlage in dem heimlichen Anfertigen einer Tonaufnahme ("Sachverhalt 3") sowie in der unterschiedlichen Darstellung eines Geschehens im Rahmen eines Verfahrens zur Anerkennung eines Ereignisses als Dienstunfall ("Sachverhalt 4"). Ob die weiteren in der Verfügung vom zur Begründung der charakterlichen Ungeeignetheit des Klägers geschilderten Sachverhalte zuträfen, müsse nicht geklärt werden. Denn die in der Verfügung beschriebenen Sachverhalte sollten lediglich exemplarisch die persönliche und charakterliche Ungeeignetheit des Klägers belegen.

52. Die allein auf Verfahrensmängel gestützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist unbegründet (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Die vom Kläger geltend gemachten Verfahrensmängel liegen nicht vor.

6a) Hinsichtlich der Frage, ob der Vorwurf, der Kläger habe vorsätzlich ein Gespräch mit einem Schwimmmeister ohne dessen Wissen auf Band aufgenommen, im Rahmen der Bewertung der charakterlichen Eignung des Klägers noch verwertet werden darf, rügt die Beschwerdebegründung zunächst, das Oberverwaltungsgericht sei zu Unrecht von einer Bindung an den zurückverweisenden Beschluss des Senats vom - 2 B 48.21 - nach § 144 Abs. 6 VwGO ausgegangen und habe damit gegen § 108 Abs. 1 VwGO verstoßen. Diese Rüge ist unbegründet.

7Die Bindungswirkung nach § 144 Abs. 6 VwGO gilt auch für zurückverweisende Beschlüsse nach § 133 Abs. 6 VwGO (BVerwG, Beschlüsse vom - 8 B 154.00 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 68 und vom - 2 B 76.12 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 80 Rn. 9 bis 11). Bei der Bestimmung der Reichweite der Bindungswirkung des Beschlusses nach § 133 Abs. 6 VwGO ist aber dessen beschränkter Gegenstand zu berücksichtigen ( 2 B 23.20 - Rn. 11).

8Nach § 144 Abs. 6 VwGO hat das Gericht, an das die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen. Das Berufungsgericht darf die bei der Aufhebung zum Ausdruck gebrachte Rechtsauffassung weder einer inhaltlichen Prüfung unterziehen noch sie in Frage stellen ( 5 CN 2.21 - NVwZ 2023, 268 Rn. 10). Diese Bindungswirkung umfasst die für die Aufhebungsentscheidung kausal ausschlaggebenden Gründe. Dies schließt die den unmittelbaren Zurückverweisungsgründen vorausgehenden Erwägungen jedenfalls insoweit ein, als diese die notwendige (logische) Voraussetzung für die unmittelbaren Aufhebungsgründe waren ( 8 C 159.72 - BVerwGE 42, 243 <247> und vom - 8 C 21.11 - BVerwGE 145, 122 Rn. 22; Beschluss vom - 8 B 151.97 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 65). Erfasst sind damit die Ausführungen des Revisionsgerichts, aus denen sich die Verletzung von revisiblem Recht ergibt (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 3 B 25.72 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 21 S. 9 und vom - 3 CB 30.84 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 46 S. 10).

9Unmittelbarer Grund für die Aufhebung des ersten Berufungsurteils war die mangelnde Konsequenz des Oberverwaltungsgerichts bei der Anwendung seines rechtlichen Ansatzes im Hinblick auf die Auslegung des Vergleichs vom hinsichtlich der Frage, ob bei der Bewertung der charakterlichen Eignung des Klägers auch solche Geschehnisse zu berücksichtigen sind, die sich vor dem Abschluss dieses Vergleichs ereignet haben und deshalb dem Land bekannt waren. Für diesen unmittelbaren Grund sind aber die Ausführungen des Senats zur rechtlich gebotenen Auslegung des Vergleichs in Rn. 24 des zurückverweisenden Beschlusses vom notwendige Voraussetzung und nehmen deshalb an der Bindungswirkung teil.

10Wegen der dargelegten Reichweite der Bindungswirkung ist auch die auf diese Bindung gestützte Ablehnung - mangelnde Entscheidungserheblichkeit - des unbedingten Beweisantrags zur Vernehmung der an dem Berufungsverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht 6 A 1961/14 beteiligten Berufsrichter rechtmäßig und verletzt § 86 Abs. 2 VwGO nicht.

11b) Die vorstehenden Darlegungen zur Reichweite der Bindungswirkung nach § 144 Abs. 6 VwGO gelten auch für die weitere Verfahrensrüge des Klägers, das Berufungsgericht habe sich zu Unrecht auch hinsichtlich der Frage, ob es bereits zur Rechtswidrigkeit der Einschätzung der charakterlichen Eignung des Klägers führt, wenn einzelne die Würdigung des Dienstherrn (mit)tragende Sachverhalte wegfallen, an die vom geäußerte Rechtsauffassung gebunden gefühlt und dementsprechend entgegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO keine eigene Überzeugung gebildet.

12Unmittelbarer Grund für die Aufhebung des ersten Berufungsurteils war die mangelnde Konsequenz des Berufungsgerichts bei der Anwendung seines rechtlichen Ansatzes im Hinblick auf die Frage, ob die Prognoseentscheidung des Dienstherrn hinsichtlich der charakterlichen Eignung des Klägers bereits dann als fehlerhaft zu werten ist, wenn nur eine der die Entscheidung (mit)tragenden Erwägungen - "Sachverhalte 1, 2, 3 und 4" - entfällt. Für diesen unmittelbaren Grund sind aber die Ausführungen des Senats zur Bewertung dieser Rechtsauffassung ausgehend von dem dem Dienstherrn zustehenden Beurteilungsspielraum in Rn. 25 des zurückverweisenden Beschlusses vom notwendige Voraussetzung und nehmen deshalb an der Bindungswirkung teil.

13c) Hinsichtlich der Ausführungen des Berufungsgerichts zu einem Teilaspekt des "Sachverhalts 4"- unterschiedliche Angaben des Klägers im Rahmen eines Verfahrens auf Anerkennung eines Ereignisses als Dienstunfall - liegt der in der Beschwerdebegründung geltend gemachte Verfahrensmangel des Verstoßes gegen § 86 Abs. 2 VwGO ebenfalls nicht vor.

14Den im Hinblick auf einen Teilaspekt des "Sachverhalts 4" in der Berufungsverhandlung gestellten unbedingten Antrag, zum Beweis der Tatsache, dass der Kläger im Rahmen des Dienstunfalls vom tatsächlich einen Schlag von innen gegen das rechte Knie erhalten hat, ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen, das die Behandlungsunterlagen des Klägers diesbezüglich auswertet, hat das Berufungsgericht wegen fehlender rechtlicher Entscheidungserheblichkeit der unter Beweis gestellten Tatsache abgelehnt. Die Vorgaben für die Wahrunterstellung einer unter Beweis gestellten Tatsache hat das Berufungsgericht dabei nicht verletzt.

15Der vom Untersuchungsgrundsatz bestimmte Verwaltungsprozess kennt die Möglichkeit, einen Beweisantrag durch "Wahrunterstellung" abzulehnen. Die Verfahrensweise der "Wahrunterstellung" setzt jedoch voraus, dass die behauptete Beweistatsache im Folgenden so behandelt wird, als wäre sie wahr (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 6 StPO). Dementsprechend kommt die "Wahrunterstellung" nur für nicht entscheidungserhebliche Tatsachen in Frage. Das Gericht darf sich im weiteren Verlauf nicht in Widerspruch zu der als wahr unterstellten Annahme setzen und muss sie "ohne jede inhaltliche Einschränkung" in ihrem mit dem Beteiligtenvorbringen gemeinten Sinn behandeln, als wäre sie nachgewiesen ( 9 C 47.85 - BVerwGE 77, 150 <155>; Beschlüsse vom - 4 B 125.93 - juris Rn. 7 und vom - 2 B 32.12 - juris Rn. 12). Die Wahrunterstellung einer unter Beweis gestellten Tatsache verpflichtet das Tatsachengericht, diese Tatsache der Sachverhalts- und Beweiswürdigung zugrunde zu legen (vgl. 6 B 134.18 - Buchholz 402.41 Allgemeines Polizeirecht Nr. 114 Rn. 8). Dabei entfaltet eine Wahrunterstellung jedoch keine Bindungswirkung für die rechtliche Würdigung des betreffenden Lebenssachverhalts. Sie verbietet nicht, aus diesem Sachverhalt unter Beachtung des Überzeugungsgrundsatzes bestimmte rechtliche Schlüsse zu ziehen, solange die als wahr unterstellten Tatsachen zugrunde gelegt werden (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 8 B 15.14 - ZOV 2014, 268 <268 f.>, vom - 6 B 134.18 - Buchholz 402.41 Allgemeines Polizeirecht Nr. 114 Rn. 8 und vom - 2 B 15.19 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 87 Rn. 21). Aus den Darlegungen des Klägers in der Beschwerdebegründung ergibt sich nicht, dass das Oberverwaltungsgericht gegen diese Grundsätze verstoßen hat.

16Das Berufungsgericht hat sich mit seiner Würdigung nicht in Widerspruch zu der als wahr unterstellten Tatsache gesetzt, dass der Kläger im Rahmen des Ereignisses vom tatsächlich einen Schlag von innen gegen sein rechtes Knie erhalten hat. Es hat aus dem Lebenssachverhalt lediglich rechtliche Schlüsse gezogen, die denkgesetzlich möglich sind, die vom Kläger aber nicht geteilt werden. Der Kläger wendet sich lediglich gegen die Würdigung des Oberverwaltungsgerichts, aus der variierenden Darstellung des Unfallhergangs durch den Kläger folgten erhebliche Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit, ungeachtet der Frage, ob die vom Kläger zuletzt gegebene Darstellung des Unfallgeschehens tatsächlich zutrifft. Mit Angriffen gegen die rechtliche Würdigung des Sachverhalts durch das Berufungsgericht, der die als wahr unterstellte Tatsche umfasst, kann ein Verfahrensfehler des Oberverwaltungsgerichts bei der Ablehnung eines unbedingten Beweisantrags nicht begründet werden.

173. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 40, 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 und § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:100424B2B26.23.0

Fundstelle(n):
NJW 2024 S. 10 Nr. 25
SAAAJ-67244