BGH Urteil v. - VII ZR 536/21

Instanzenzug: Az: 5 U 6295/20vorgehend LG Ingolstadt Az: 61 O 2904/19

Tatbestand

1Der Kläger nimmt die Beklagte hinsichtlich eines von ihm im Januar 2019 als Gebrauchtwagen erworbenen und von der Beklagten hergestellten Fahrzeugs Audi A6 3.0 TDI in Anspruch. Eine Steuerungssoftware reduzierte die Harnstoffeinspritzung bei einer Restreichweite von unter 2.400 km. Schon vor dem Erwerb des Fahrzeugs durch den Kläger hatte das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) bei der Überprüfung von Motoren der entsprechenden Baureihe eine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt und einen verpflichtenden Rückruf angeordnet. Am gab das KBA hierzu eine Pressemitteilung heraus. Mit Pressemitteilung vom berichtete die Beklagte über den Rückruf und forderte mit Nachricht vom ihre sämtlichen Vertragshändler auf, Fahrzeuge ohne durchgeführtes Software-Update nur nach vorheriger Aufklärung unter Übergabe eines sogenannten Beipackzettels zu verkaufen. Auf Anordnung des KBA entwickelte die Beklagte ein Software-Update, das im Juli 2020 auf die Motorsteuerungssoftware des Klägerfahrzeugs aufgespielt wurde.

2Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte habe ihn im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als habe er den Kaufvertrag für das Fahrzeug nicht abgeschlossen.

3Das Landgericht hat die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen verurteilt, an den Kläger 31.768,48 € nebst Prozesszinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs zu zahlen und hat den Annahmeverzug der Beklagten festgestellt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Gründe

4Die Revision hat Erfolg.

I.

5Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, wie folgt begründet:

6Es könne dahinstehen, ob das im Fahrzeug verwendete Thermofenster und die beanstandete Steuerungssoftware zur Reduzierung der Harnstoffeinspritzung bei einer Restreichweite unter 2.400 km die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung erfüllen könnten. Jedenfalls sei das Verhalten der Beklagten im Zeitpunkt des Fahrzeugkaufs im Januar 2019 nicht mehr als sittenwidrig zu qualifizieren. Die Beklagte habe am eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der sie eingeräumt habe, dass es bei den V6-Dieselmotoren Auffälligkeiten gebe und in Absprache mit dem KBA ein Software-Update zur Verfügung gestellt werde. Das KBA selbst habe bereits am den das Klägerfahrzeug betreffenden verpflichtenden Rückruf veröffentlicht, nach dem in den betroffenen Fahrzeugen unzulässige Abschalteinrichtungen festgestellt worden seien. Dies sei geeignet gewesen, das Vertrauen potenzieller Käufer von Gebrauchtwagen mit den entsprechenden Motoren in eine vorschriftsmäßige Abgastechnik zu zerstören und ihre Arglosigkeit zu beseitigen. Damit habe die Beklagte ihre - unterstellte - strategische unternehmerische Entscheidung, im eigenen Kosten- und Gewinninteresse das KBA und letztlich die Käufer zu täuschen, ersetzt durch die Strategie, an die Öffentlichkeit zu treten, Unregelmäßigkeiten einzuräumen und in Zusammenarbeit mit den Zulassungsbehörden Lösungen zur Beseitigung des gesetzwidrigen Zustands zu entwickeln.

II.

7Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

81. Allerdings begegnet es auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen keinen revisionsrechtlichen Zweifeln, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 826, 31 BGB mangels vorsätzlichen und sittenwidrigen Verhaltens verneint hat. Zutreffend und im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat das Berufungsgericht festgestellt, dass der Beklagten im Verhältnis zum Kläger im Ergebnis kein sittenwidriges Verhalten (mehr) vorzuwerfen ist.

9a) Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (st. Rspr.; vgl. nur Rn. 11, WM 2021, 1609; Urteil vom - VI ZR 5/20 Rn. 29, ZIP 2020, 1715; Urteil vom - VI ZR 252/19 Rn. 15, BGHZ 225, 316; Urteil vom - VII ZR 236/19 Rn. 24, VersR 2020, 1120; jeweils m.w.N.). Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben ( Rn. 11, WM 2021, 1609; Urteil vom - VI ZR 5/20 Rn. 29, ZIP 2020, 1715; Urteil vom - VI ZR 252/19 Rn. 15, BGHZ 225, 316). Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht ( Rn. 12, VersR 2021, 661; Beschluss vom - VI ZR 433/19 Rn. 14, ZIP 2021, 297; Urteil vom - VI ZR 5/20 Rn. 29, ZIP 2020, 1715; Urteil vom - VI ZR 252/19 Rn. 15, BGHZ 225, 316).

10b) Nach diesen Grundsätzen reicht der Einbau einer nach dem revisionsrechtlich zu unterstellenden Vortrag des Klägers in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizierenden Einrichtung für die Begründung der objektiven Sittenwidrigkeit im Sinne des § 826 BGB nicht aus. Der darin liegende - revisionsrechtlich zu unterstellende - Gesetzesverstoß wäre für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz dieser Steuerungssoftware durch die für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Hierfür bedürfte es vielmehr weiterer Umstände (vgl. Rn. 13, VersR 2021, 1575; Urteil vom - VI ZR 128/20 Rn. 13, WM 2021, 1609; Beschluss vom - VI ZR 889/20 Rn. 26, VersR 2021, 661; Beschluss vom - VI ZR 433/19 Rn. 16, ZIP 2021, 297). So setzt die Annahme von Sittenwidrigkeit in diesen Fällen jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der die Abgasemissionen beeinflussenden Einrichtung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (vgl. Rn. 13, VersR 2021, 1575; Urteil vom - VI ZR 128/20 Rn. 13, WM 2021, 1609; Beschluss vom - VI ZR 889/20 Rn. 28, VersR 2021, 661; Beschluss vom - VI ZR 433/19 Rn. 19, ZIP 2021, 297). Dabei kommt es nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung darauf an, den Gesamtcharakter des Verhaltens zu ermitteln und der Bewertung das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen. Dies wird insbesondere dann bedeutsam, wenn - wie hier - die erste potenziell schadensursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens zeitlich auseinanderfallen und der Schädiger sein Verhalten zwischenzeitlich nach außen erkennbar geändert hat ( Rn. 30 m.w.N., ZIP 2020, 1715).

11c) Ein objektiv sittenwidriges Handeln der für die Beklagte handelnden Personen hat das Berufungsgericht auf der Grundlage der das Revisionsgericht bindenden Feststellungen (§ 559 Abs. 2 ZPO) im maßgeblichen Zeitpunkt des Erwerbs des Fahrzeugs durch den Kläger rechtsfehlerfrei verneint. Die Revision zeigt weder vom Berufungsgericht festgestellten noch von diesem übergangenen Sachvortrag des Klägers auf, die eine andere Bewertung der Sittenwidrigkeit des Beklagtenverhaltens bis zum Zeitpunkt des Kaufs gebieten würde.

12aa) Durch die vom Berufungsgericht festgestellten Maßnahmen der Beklagten sind wesentliche Umstände, die den Vorwurf der Sittenwidrigkeit im Hinblick auf die Entwicklung und Implementierung einer - revisionsrechtlich zu unterstellenden - manipulativen und prüfstandsbezogenen Abschalteinrichtung tragen, bis zum maßgeblichen Zeitpunkt des Fahrzeugerwerbs durch den Kläger entfallen (vgl. Rn. 34, ZIP 2020, 1715). Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung kann das Verhalten der Beklagten bis zum Abschluss des streitgegenständlichen Kaufvertrages im Januar 2019 mit einer Täuschung nicht mehr gleichgesetzt werden. Selbst wenn analog zu den Feststellungen zur Gesinnung und zum Verhalten der Volkswagen AG gegenüber Käufern, die vor dem ein Fahrzeug mit einem Motor des Typs EA 189 erwarben, dessen evident unzulässige "Umschaltlogik" in Millionen von Fällen den sogenannten Dieselskandal erst ausgelöst hat (vgl. Rn. 16 ff., BGHZ 225, 316), unterstellt wird, dass auch die Beklagte ursprünglich aufgrund einer für ihr Unternehmen getroffenen grundlegenden strategischen Entscheidung bei der Motorenentwicklung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse durch bewusste und gewollte Täuschung des KBA systematisch, langjährig und in großem Umfang Fahrzeuge mit Motoren mit unzulässiger Abschalteinrichtung in den Verkehr gebracht habe, womit eine erhöhte Belastung der Umwelt sowie die Gefahr einhergegangen seien, dass bei einer Aufdeckung des Sachverhalts eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung hinsichtlich der betroffenen Fahrzeuge erfolgen könnte, hat das Berufungsgericht zu Recht wegen der festgestellten Verhaltensänderung den Vorwurf der Sittenwidrigkeit im maßgeblichen Erwerbzeitpunkt des Klägers nicht mehr für gerechtfertigt gehalten.

13bb) Wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, hat die Beklagte durch ihr Verhalten gezeigt, dass es ihr nicht mehr darauf ankam, die Fahrzeugkäufer im eigenen Kosten- und Gewinninteresse zu täuschen. Sie hat vielmehr nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts umfangreiche Veranlassungen getroffen, um eine solche Täuschung der Käufer zu verhindern. Neben der Veröffentlichung der Pressemitteilung im Mai 2018 durfte die Beklagte auch aufgrund der verpflichtenden internen Anweisung an ihre Vertragshändler davon ausgehen, dass Fahrzeugkäufer grundsätzlich Kenntnis von der unzulässigen Abschalteinrichtung erhielten. In Zusammenarbeit mit dem KBA, das bereits im Januar 2018 den verpflichtenden Rückruf veröffentlicht hatte, hat die Beklagte zudem ein Software-Update entwickelt, das den gesetzeswidrigen Zustand und die Stilllegungsgefahr nach Freigabe durch das KBA beseitigt hat.

14cc) Dass die Beklagte eine bewusste Manipulation geleugnet hat und dass sie möglicherweise weitere Schritte zur umfassenden Aufklärung hätte unternehmen können, reicht für die Begründung des gravierenden Vorwurfs der sittenwidrigen Schädigung gegenüber späteren Käufern nicht aus. Insbesondere war ein aus moralischer Sicht tadelloses Verhalten der Beklagten oder eine Aufklärung, die tatsächlich jeden potenziellen Käufer erreicht und einen Fahrzeugerwerb in Unkenntnis der Abschalteinrichtung sicher verhindert, zum Ausschluss objektiver Sittenwidrigkeit nicht erforderlich (vgl. Rn. 16, WM 2021, 50; Urteil vom - VI ZR 5/20 Rn. 38, ZIP 2020, 1715). Es kommt daher auch nicht darauf an, ob der Kläger von dem Autohändler, von dem er das Fahrzeug erwarb, den "Beipackzettel" nicht ausgehändigt bekam.

152. Im Lichte der nach Erlass der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann allerdings eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des Differenzschadens nicht ausgeschlossen werden (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 ff.).

16Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am entschieden, dass von § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nach der gebotenen unionsrechtlichen Lesart das Interesse des Käufers geschützt ist, durch den Abschluss eines Kaufvertrags über ein Kraftfahrzeug nicht wegen eines Verstoßes des Fahrzeugherstellers gegen das europäische Abgasrecht eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypo-these zu erleiden. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe in seinem Urteil vom (Az. C-100/21) Art. 3 Nr. 36, Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG im Sinne des Schutzes auch der individuellen Interessen des Käufers eines mit einer unzulässigen Abschalt-einrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) Nr. 715/2007 ausge-rüsteten Kraftfahrzeugs gegenüber dem Fahrzeughersteller ausgelegt. Den Schutz der individuellen Interessen des Fahrzeugkäufers im Verhältnis zum Hersteller habe er dabei aus der in Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG vor-gesehenen Beifügung einer Übereinstimmungsbescheinigung für die Zulassung, den Verkauf oder die Inbetriebnahme des Fahrzeugs abgeleitet. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe das auf der Übereinstimmungsbescheinigung beruhende und unionsrechtlich geschützte Vertrauen des Käufers mit dessen Kaufentscheidung verknüpft und dem Unionsrecht auf diesem Weg einen von einer vertraglichen Sonderverbindung unabhängigen Anspruch des Fahrzeug-käufers gegen den Fahrzeughersteller auf Schadensersatz "wegen des Erwerbs" eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs entnommen. Das trage dem engen tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem Vertrauen des Käufers auf die Ordnungsmäßigkeit des erworbenen Kraftfahrzeugs einerseits und der Kaufentscheidung andererseits Rechnung. Dieser Zusammenhang wiederum liege der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem Erfahrungssatz zugrunde, dass ein Käufer, der ein Fahrzeug zur eigenen Nutzung erwerbe, in Kenntnis der Gefahr einer Betriebs-beschränkung oder -untersagung von dem Erwerb des Fahrzeugs abgesehen hätte. Dementsprechend könne der vom Gerichtshof geforderte Schutz des Käufervertrauens im Verhältnis zum Fahrzeughersteller, sollten Wertungswider-sprüche vermieden werden, nur unter einer Einbeziehung auch der Kaufentschei-dung gewährleistet werden (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245; Urteil vom - III ZR 267/20 Rn. 22, ZIP 2023, 1903). Der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (vgl. Urteile vom - VII ZR 306/21 und VII ZR 619/21, juris).

III.

17Danach hat das angefochtene Urteil keinen Bestand. Es ist aufzuheben und die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Eine Entscheidung in der Sache durch den Senat kommt nicht in Betracht, weil der Rechtsstreit nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:290224UVIIZR536.21.0

Fundstelle(n):
DAAAJ-64122