Strafzumessung bei gefährlicher Körperverletzung; Voraussetzungen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
Gesetze: § 46 Abs 3 StGB, § 47 Abs 1 StGB, § 64 S 1 Alt 2 StGB, § 224 Abs 1 Nr 5 StGB, § 267 Abs 3 S 2 Alt 2 StPO
Instanzenzug: LG Trier Az: 8032 Js 39509/22 - 1 Ks
Gründe
I.
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung sowie Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung in vier tateinheitlichen Fällen und mit versuchter Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Daneben hat es seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, führt zur Aufhebung des Straf- und Maßregelausspruchs; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
II.
21. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
32. Das Urteil hält jedoch im Ausspruch über beide Einzelstrafen sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Dies führt zu dessen Aufhebung auch im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
4a) Die Strafzumessung im Fall II. 1. der Urteilsgründe begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
5aa) In diesem Fall hat das Landgericht den Angeklagten der gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB schuldig gesprochen. Bei der Strafzumessung hat es den Regelstrafrahmen des § 224 Abs. 1 StGB zugrunde gelegt. Es hat einen minder schweren Fall sowohl nach Gesamtabwägung aller Strafzumessungsgesichtspunkte als auch unter Hinzutreten des vertypten Strafmilderungsgrunds des § 21 StGB verneint, jedoch eine Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB vorgenommen. Bei der Prüfung eines minder schweren Falls hat es ebenso wie bei der konkreten Strafbemessung zu Lasten des Angeklagten die Gefährlichkeit seiner Tathandlung gewertet. Bei ungünstigem Verlauf hätte die Tat auch zum Tod des Tatopfers führen können; es habe letztlich nicht der Kontrolle des Angeklagten unterlegen, dass der Todeserfolg ausgeblieben sei.
6Damit hat die Strafkammer einen Umstand, der schon das Merkmal des gesetzlichen (Qualifikations-)Tatbestandes des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB erfüllt, bei der Strafzumessung berücksichtigt und gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB verstoßen. Denn das gesetzliche Merkmal der Tatbegehung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung setzt stets voraus, dass die Einwirkung durch den Täter nach den Umständen des Einzelfalls generell dazu geeignet ist, das Leben des Verletzten zu gefährden (st. Rspr.; vgl. , NStZ-RR 2016, 81 f. mwN; Urteil vom - 3 StR 509/22, NStZ-RR 2023, 367, 368). Der Umstand, dass die Tat zum Tod hätte führen können, stellt daher keinen Strafschärfungsgrund dar (s. , juris Rn. 10 f.). Eine konkrete Lebensgefahr für das Tatopfer hat das Landgericht demgegenüber ausdrücklich verneint.
7bb) Da nicht auszuschließen ist, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Prüfung zu einer milderen Ahndung der Tat gelangt wäre, unterliegt die Einzelstrafe im Fall II. 1. der Urteilsgründe der Aufhebung.
8b) Die Strafzumessung im Fall II. 2. der Urteilsgründe erweist sich ebenfalls als rechtsfehlerhaft.
9aa) In diesem Fall hat die Strafkammer den Angeklagten des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung in vier rechtlich zusammentreffenden Fällen und mit versuchter Körperverletzung schuldig gesprochen. Sie hat deswegen auf eine Einzelstrafe von drei Monaten erkannt, ohne sich - wie es § 267 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 StPO vorschreibt - in den Urteilsgründen mit den Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 StGB auseinanderzusetzen.
10Die Festsetzung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten hat regelmäßig nur Bestand, wenn sie sich aufgrund einer Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist und dies in den Urteilsgründen dargestellt wird (s. , BGHR StGB § 47 Abs. 1 Umstände 7; vom - 3 StR 465/03, NStZ 2004, 554; Beschluss vom - 3 StR 135/20, NStZ-RR 2020, 273). Die gleichzeitige Verurteilung des Angeklagten zu einer hohen Freiheitsstrafe macht die Erörterung nicht ohne Weiteres entbehrlich; die Prüfung ist vielmehr für jede einzelne Tat vorzunehmen (vgl. , BGHR StGB § 47 Abs. 1 Umstände 4).
11bb) Die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe hat sich hier nicht in einem solchen Maß aufgedrängt, dass das Urteil auf der unterbliebenen Erörterung nicht beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Im Hinblick auf das relativ geringe Eigengewicht dieser Tat und den von der Strafkammer aufgezeigten Umstand, dass die letzte Verurteilung zu einer Geldstrafe zum Tatzeitpunkt bereits über zwölf Jahre zurücklag, ist die Festsetzung einer Geldstrafe nicht sicher ausgeschlossen. Deshalb unterliegt die Einzelstrafe im Fall II. 2. der Urteilsgründe ebenfalls der Aufhebung.
12c) Der Wegfall der beiden Einzelstrafen entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage, so dass auch sie aufzuheben ist.
13d) Die jeweils zugehörigen Feststellungen sind beanstandungsfrei getroffen worden und bleiben von den aufgezeigten rechtsfehlerhaften Wertungen unberührt. Sie haben daher Bestand (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht kann weitergehende Feststellungen treffen, die den aufrechterhaltenen nicht widersprechen.
14e) Die Erwägungen der Strafkammer zur Höhe der Gesamtfreiheitsstrafe geben dem Senat darüber hinaus Anlass, darauf hinzuweisen, dass zwischen dem Strafausspruch und der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt grundsätzlich keine notwendige Wechselwirkung besteht; sie sollen unabhängig voneinander bemessen bzw. angeordnet werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 283/16, juris Rn. 5; vom - 3 StR 148/18, juris Rn. 8; vom - 3 StR 415/19, NStZ-RR 2020, 168, 170; vom - 3 StR 352/20, juris Rn. 10).
153. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die Urteilsgründe nicht belegen, dass der Angeklagte einen Hang hat, alkoholische Getränke im Übermaß zu sich zu nehmen.
16a) Gemäß § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. § 354a StPO ist die Maßregelanordnung am Maßstab des zum Zeitpunkt der Entscheidung des Revisionsgerichts geltenden Rechts zu beurteilen, mithin anhand der zum in Kraft getretenen Neufassung des § 64 StGB (vgl. , juris Rn. 9; vom - 3 StR 280/23, juris Rn. 39; Beschlüsse vom - 6 StR 405/23, juris Rn. 6; vom - 4 StR 364/23, NStZ-RR 2024, 13, 14; vom - 5 StR 246/23, juris Rn. 2; vom - 5 StR 345/23, juris Rn. 2; vom - 3 StR 304/23, juris Rn. 14). Den strengeren Anforderungen der Neuregelung an die Annahme eines Hangs genügen die Urteilsgründe nicht.
17aa) Für einen Hang ist nach § 64 Satz 1 Halbsatz 2 StGB nF eine Substanzkonsumstörung erforderlich, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert. Das Tatbestandsmerkmal der „Substanzkonsumstörung“ soll Täter mit einer substanzbezogenen Abhängigkeitserkrankung im medizinischen Sinne (ICD-10-GM F10 bis F19, Erweiterung .2: „Abhängigkeitssyndrom“) und Fälle eines Substanzmissbrauchs erfassen, dessen Schweregrad unmittelbar unterhalb einer Abhängigkeit einzuordnen ist. Damit ist ein Missbrauch gemeint, der nach ICD-10 als eine schwere Form des schädlichen Gebrauchs (ICD-10-GM F10 bis F19, Erweiterung .1: „Schädlicher Gebrauch“) einzustufen ist. Bei einem lediglich „einfachen“ (oder „episodenhaften“) schädlichen Gebrauch, auch wenn er unter ICD-10-GM F10 bis F19, Erweiterung .1 fällt, soll dagegen eine Unterbringung nicht (mehr) möglich sein (s. BT-Drucks. 20/5913 S. 44 f., 69 [überdies zum ICD-11 6C40 ff.]; vgl. auch , juris Rn. 8 f.).
18Um die Unterbringung insbesondere in Fällen schädlichen Gebrauchs von Substanzen rechtfertigen zu können, müssen grundsätzlich dauernde und schwerwiegende störungsbedingte Beeinträchtigungen der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeitsfähigkeit oder der Leistungsfähigkeit durch das Tatgericht in den Urteilsgründen festgestellt werden (§ 267 Abs. 6 Satz 1 StPO). Erforderlich sind äußere, überprüfbare Veränderungen in mindestens einem der genannten Bereiche der Lebensführung. Hier muss sich die Störung schwerwiegend auswirken, also das Funktionsniveau in gravierender Weise beeinträchtigen, und im Tatzeitpunkt für längere Zeit vorhanden gewesen sein; eine lediglich vorübergehende konsumbedingte Aufhebung oder Verringerung der „sozialen Funktionsfähigkeit“ genügt nicht. Beide Merkmale - dauernd und schwerwiegend - müssen im betroffenen Lebensbereich kumulativ erfüllt sein (s. BT-Drucks. 20/5913 S. 45 f., 69; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom - 6 StR 327/23, juris Rn. 12; vom - 3 StR 304/23, juris Rn. 15 mwN).
19bb) Die Urteilsgründe belegen keine solche Substanzkonsumstörung mit dauernder und schwerwiegender Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit des Angeklagten. Das Landgericht hat darauf abgestellt, dass bei ihm ein schädlicher Gebrauch von Alkohol (ICD-10 F 10.1), aber keine Alkoholabhängigkeit vorliegt. Den Urteilsgründen ist jedoch nicht zu entnehmen, ob die Strafkammer von einem „einfachen“ oder einem „schweren“ schädlichen Gebrauch von Alkohol ausgegangen ist, die beide dem vorliegend angenommenen ICD-10-GM F10 Erweiterung .1 unterfallen können. Diese Unterscheidung ist für die Anwendung des § 64 StGB aber notwendig und darf zumindest in Zweifelsfällen nicht offenbleiben. Denn bei einem lediglich „einfachen“ schädlichen Gebrauch soll, wie dargelegt, nach dem Willen des Gesetzgebers eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ausscheiden.
20Darüber hinaus sind mögliche schwerwiegende und dauernde Auswirkungen des Alkoholkonsums auf die Lebensgestaltung, Gesundheit, Arbeitsfähigkeit oder Leistungsfähigkeit jedenfalls nicht tragfähig belegt. So hat die Strafkammer keine Anhaltspunkte dafür gesehen, dass der Angeklagte aufgrund des vor allem am Wochenende vorgenommenen Alkoholkonsums seine beruflichen Pflichten vernachlässigt habe. Auch ausgeprägtes Suchtverlangen oder körperliche Entzugserscheinungen seien von ihm weder berichtet noch während seiner Inhaftierung beobachtet worden. Zwar seien bei ihm im Jahr 2022 erhöhte Leberfunktionswerte festgestellt worden. Jedoch geht aus den Urteilsgründen weder das Maß der Erhöhung hervor noch, ob diese Beeinträchtigung fortwirkt und wie schwerwiegend sie sich gegebenenfalls darstellt.
21b) Über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt muss - wiederum unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 StPO) - neu verhandelt und entschieden werden. Die getroffenen Feststellungen können bestehen bleiben und widerspruchsfrei durch weitere ergänzt werden.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:230124B3STR455.23.0
Fundstelle(n):
MAAAJ-61044