BVerfG Urteil v. - 2 BvR 51/24

Erfolgreicher Eilantrag im Verfassungsbeschwerdeverfahren bzgl einer Räumungsvollstreckung - einstweilige Aussetzung der Vollstreckung - Folgenabwägung

Gesetze: Art 2 Abs 2 S 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 765a Abs 1 S 1 ZPO, § 765a Abs 3 ZPO, § 885 Abs 1 S 1 ZPO

Instanzenzug: LG Hagen (Westfalen) Az: 1 T 163/22 Beschlussvorgehend AG Schwelm Az: 42 M 78/22 Beschlussnachgehend Az: 2 BvR 51/24 Stattgebender Kammerbeschluss

Gründe

11. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

2Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte angeführt werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier also die Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 <255>; 99, 57 <66>; stRspr).

32. Nach diesen Maßstäben hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Erfolg.

4a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

5Die Verfassungsbeschwerde ist insbesondere nicht offensichtlich unbegründet.

6aa) Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen - beim Fehlen eigener Sachkunde - zur Achtung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1233/23 -, Rn. 20 m.w.N.).

7Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und - in absoluten Ausnahmefällen - auf unbestimmte Zeit einzustellen ist (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 548/16 -, Rn. 11 m.w.N.).

8Die Vollstreckungsgerichte haben in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird (vgl. BVerfGE 52, 214 <220 f.>; BVerfGK 6, 5 <10>; vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1786/20 -, Rn. 27 m.w.N.). Es ist Aufgabe der staatlichen Organe, Grundrechtsverletzungen nach Möglichkeit auszuschließen (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 548/16 -, Rn. 12).

9bb) In Anbetracht dieser Grundsätze erscheint es jedenfalls nicht fernliegend, dass der angegriffene Beschluss des Landgerichts Hagen dem Schutz des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht gerecht geworden ist, indem das Gericht ohne weitere Sachaufklärung und ohne eigene dokumentierte Sachkunde davon ausgegangen ist, dass die Beschwerdeführerin zu 1. zwar nicht die durch eine etwaige Obdachlosigkeit eintretende Verschlechterung der Demenzerkrankung, aber die mit einer Heimunterbringung und dem damit verbundenen Wechsel des Wohnumfelds verbundene Verschlechterung der Demenzerkrankung hinzunehmen habe.

10b) Über den Antrag auf einstweilige Anordnung ist deshalb nach Maßgabe einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese fällt zugunsten aller Beschwerdeführer aus.

11Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, wäre nicht auszuschließen, dass aufgrund der Durchführung der Räumung möglicherweise nicht rückgängig zu machende Folgen für Leib und Leben der Beschwerdeführerin zu 1. einträten. Dies gilt auch für eine Räumung nur der Beschwerdeführer zu 2. und / oder 3., weil die Beschwerdeführerin zu 1. nach dem insoweit hinreichend dokumentierten Gesundheitszustand nicht ohne deren Unterstützung in der Wohnung verbleiben kann. Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung, bliebe die Verfassungsbeschwerde aber später ohne Erfolg, so verzögerte sich der Räumungstermin voraussichtlich nur um wenige Monate. Dies wiegt insgesamt weniger schwer als die der Beschwerdeführerin zu 1. drohenden Nachteile.

123. Gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG wurde wegen der besonderen Dringlichkeit im Hinblick auf die kurzfristig ablaufende Räumungsfrist und die Erklärung der Begünstigten des Ausgangsverfahrens gegenüber den Beschwerdeführern, auf die Vollstreckung nicht für die Dauer des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu verzichten, davon abgesehen, der Begünstigten des Ausgangsverfahrens und weiteren Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu geben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2024:rk20240226.2bvr005124

Fundstelle(n):
WM 2024 S. 560 Nr. 12
NAAAJ-60747