Instanzenzug: Az: 7 S 256/22vorgehend Az: 108 C 5618/21
Tatbestand
1Die Klägerin beansprucht die Rückzahlung des für eine Pauschalreise gezahlten Reisepreises.
2Die Klägerin buchte am bei der Beklagten eine Flugreise mit Hotelaufenthalt in die Türkei, die vom 22. bis zum dauern sollte. Den Reisepreis von 2.960 Euro hat die Klägerin bezahlt.
3Im Zeitpunkt der Buchung war die Türkei seitens des Robert-Koch-Instituts als Risikogebiet eingestuft. Später wurde sie als Hochrisikogebiet eingestuft. Daraufhin sprach das Auswärtige Amt eine Reisewarnung aus.
4Am stornierte die Klägerin die Reise unter Bezugnahme auf diese Vorgänge. Die Beklagte verweigerte eine Erstattung des Reisepreises.
5Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 2.960 Euro und zur Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verurteilt. Mit ihrer Berufung hat die Beklagte diese Entscheidung zuletzt insoweit angefochten, als sie zur Zahlung von mehr als 444 Euro verurteilt worden ist. In diesem Umfang hat das Berufungsgericht die Klage abgewiesen.
6Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Begehren in vollem Umfang weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Gründe
7Die zulässige Revision hat Erfolg und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
8I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
9Die Beklagte könne dem Rückzahlungsanspruch der Klägerin einen Anspruch auf Entschädigung gemäß § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB und ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen in Höhe von 2.516 Euro (85% des Reisepreises) entgegenhalten.
10Dieser Anspruch sei nicht gemäß § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB ausgeschlossen. Die Einordnung der Türkei als Hochrisikogebiet aufgrund der Covid-19-Pandemie stelle im August 2021 keinen außergewöhnlichen Umstand mehr dar, weil die Pandemie schon seit eineinhalb Jahren angedauert habe.
11II. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
121. Die Beklagte hat gemäß § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB den Anspruch auf den Reisepreis verloren, weil die Klägerin nach § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam von dem Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist.
132. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Entschädigungsanspruch der Beklagten aus § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB, der dem Klageanspruch entgegengehalten werden könnte, nicht bejaht werden.
14Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die Qualifikation der Covid-19-Pandemie als unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstand im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Pandemie im Zeitpunkt der Buchung bereits seit eineinhalb Jahren andauerte.
15a) Nach der Rechtsprechung des Senats ist es in der Regel nicht zu beanstanden, dass ein Tatrichter die Covid-19-Pandemie als Umstand bewertet, der grundsätzlich geeignet ist, die Durchführung der Pauschalreise erheblich zu beeinträchtigen (vgl. etwa , NJW-RR 2023, 828 = RRa 2023, 118 Rn. 21).
16Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Urteils entschieden hat, ist die Qualifikation eines Umstands als außergewöhnlich grundsätzlich auch dann möglich, wenn dieser Umstand bereits im Zeitpunkt der Buchung vorlag oder absehbar war (, NJW-RR 2023, 1540 Rn. 23 ff.). Demgemäß kann die Pandemie auch dann als außergewöhnlicher Umstand anzusehen sein, wenn eine Pauschalreise im Juli 2021 gebucht worden ist (, Rn. 2 und Rn. 19).
17b) Mit dieser Rechtsprechung steht es nicht in Einklang, bei einer Reise im August 2021 das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes allein wegen der Dauer der Pandemie zu verneinen.
18Die Covid-19-Pandemie hat zu hohen Infektionsrisiken, zu der daraus resultierenden Gefahr lebensbedrohlicher Erkrankungen und zu dadurch verursachten erheblichen Einschränkungen des privaten und öffentlichen Lebens geführt. Diese Geschehnisse haben ihren außergewöhnlichen Charakter nicht allein dadurch verloren, dass sie geraume Zeit angedauert haben.
19Fortschritte bei der Impfung und eine sinkende Zahl von Erkrankungen mit schwerwiegendem Verlauf haben zwar zu einer deutlichen Verringerung der Risiken, zu einer schrittweisen Rücknahme der Beschränkungen und schließlich zur Beendigung der Pandemie-Situation geführt. Im Jahr 2021 war ein solcher Zustand nach der Lebenserfahrung aber noch nicht erreicht. Feststellungen, die eine abweichende Beurteilung nahelegen könnten, hat das Berufungsgericht nicht getroffen.
203. Wie der Senat ebenfalls nach Erlass des angefochtenen Urteils entschieden hat, kann für die Frage, ob eine erhebliche Beeinträchtigung im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB vorliegt, von Bedeutung sein, ob die mit der Durchführung der Reise verbundenen Risiken bei Buchung der Reise bereits bestanden oder zumindest absehbar waren (, NJW-RR 2023, 1540 Rn. 35 ff.). Absehbar in diesem Sinne ist ein Risiko auch dann, wenn im Zeitpunkt der Buchung ungewiss ist, wie sich die Situation weiter entwickeln wird, und eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass es innerhalb kurzer Zeit zu gravierenden Veränderungen kommt (, Rn. 21 ff.).
21Hierzu hat das Berufungsgericht - von seinem rechtlichen Standpunkt aus folgerichtig - keine Feststellungen getroffen.
22III. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).
231. Anhand der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen lässt sich nicht abschließend beurteilen, ob es im Streitfall an einer erheblichen Beeinträchtigung im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB fehlt, weil bereits im Zeitpunkt der Buchung eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür bestand, dass es vor oder während der Reise zu einer Hochstufung zum Hochrisikogebiet damit verbundenen Beeinträchtigungen kommt.
24Das Berufungsgericht wird die hierzu erforderlichen Feststellungen zu treffen haben.
252. Sollte das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangen, dass die Voraussetzungen des § 651h Abs. 3 BGB im Zeitpunkt des Rücktritts nicht erfüllt waren, wird es sich ergänzend mit dem Streit der Parteien darüber befassen müssen, ob eine Durchführung der Reise im angegebenen Zeitraum möglich war.
26Die Beweislast dafür liegt bei der Klägerin. Die Beklagte trifft allenfalls eine sekundäre Darlegungslast in Bezug auf Umstände, aus denen sich die Möglichkeit der Durchführung ergibt.
27IV. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union ist nicht veranlasst.
28Im gegenwärtigen Verfahrensstadium ist nicht absehbar, ob die in der Literatur umstrittene und dem Gerichtshof von mehreren Gerichten vorgelegte Frage, ob Umstände, die beim Abschluss des Reisevertrages bereits vorlagen oder absehbar waren, als unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände angesehen werden können, für die Entscheidung des Streitfalls von Bedeutung sein wird. Diese Frage stellt sich nur, wenn eine erhebliche Beeinträchtigung im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB zu besorgen war. Letzteres kann auf der Grundlage des bisherigen Sach- und Streitstandes nicht beurteilt werden.
29Entsprechendes gilt für die dem Gerichtshof unter anderem auch vom Senat vorgelegte Frage, ob Umstände, die erst nach Abgabe der Rücktrittserklärung eingetreten sind, für die Beurteilung von Bedeutung sind. Diese Frage stellt sich nur, wenn die Durchführung der Reise im vorgesehenen Zeitraum nicht möglich war. Auch dies kann derzeit nicht beurteilt werden.
30Die Beurteilung der nach Auffassung des Senats in erster Linie relevanten Frage, ob die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigt war, obliegt im Wesentlichen dem Tatrichter. Ungeklärte Fragen des Unionsrechts, die für diese Würdigung von Bedeutung sein könnten, sind nicht ersichtlich.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:230124UXZR134.22.0
Fundstelle(n):
HAAAJ-60065